Das Europäische Parlament – Probleme, Erwartungen, Hoffnungen
Information über die Beratung des Ältestenrates am 4. September 2014
Der Ältestenrat der Partei DIE LINKE beschäftigte sich am 4. September 2014 mit den Ergebnissen der Wahlen zum Europäischen Parlament. Cornelia Hildebrandt und Andreas Wehr gaben mit ihren Analysen zum Wahlergebnis und den Problemen in der Europäischen Union sowie Hans Modrow mit Ausführungen zu Problemen der internationalen Lage und zur Situation innerhalb der Partei eine Grundlage für die Debatte. Der Ältestenrat sprach Cornelia Hildebrandt und Andreas Wehr seinen Dank aus.
Ausgangspunkt der Beschäftigung mit diesem Thema war die Tatsache, daß sich
- zum einen die Europäische Union seit fünf Jahren in der schwersten Krise ihrer Existenz, mit gravierend gewachsenen Unterschieden in der Entwicklung der einzelnen Mitgliedsstaaten einschließlich schwerwiegender sozialer Folgen und politischer Auswirkungen und neuen weltgeschichtlichen Herausforderungen befindet,
- und zum anderen, daß es im Vorfeld dieser Wahlen innerhalb der Partei der LINKEN Diskussionen um das Wahlprogramm hinsichtlich des Charakters dieses kapitalistischen Integrationsgebildes und seiner imperialistischen Strategie gab.
Die LINKE stellte sich mit ihrem Wahlprogramm die Aufgabe, "ein Signal zu setzen" (Gabi Zimmer), um die Verhältnisse in der EU umzuwerfen.
Was wurde mit den Wahlergebnissen erreicht? Wie sehen wir die Entwicklung der EU? Welche politischen Aufgaben stehen vor uns?
1. Die Ergebnisse zu den Wahlen zum Europäischen Parlament zeigen,
- dass mit einer niedrigen Wahlbeteiligung von 43 Prozent das Ansehen und die Rechtmäßigkeit der EU in der Bevölkerung ungenügend ausgeprägt ist, was u. a. auf einen von den Medien verbreiteten Konsens mit den herrschenden Verhältnissen und auch auf politisches Desinteresse zurückzuführen ist.
- dass auch die Hochstilisierung des Europäischen Parlaments mit der Personalisierung von Spitzenkandidaten für das Parlament und zugleich auch als Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission kaum Wirkung auf die Wahlbeteiligung hatte, obgleich sich der Bekanntheitsgrad der Kandidaten erhöht hat.
- dass mit der Wahl der Abgeordneten der konservativen Europäischen Volkspartei als stärkste Fraktion im Europäischen Parlament und in Koalition mit den Sozialdemokraten/Demokraten als zweitstärkste Kraft kein Abgehen von der bisherigen neoliberalen Politik und keine Schritte in Richtung auf eine sozialere EU zu erwarten sind, auch wenn die linken Kräfte mit 52 von 751 Abgeordneten an Gewicht gewonnen haben,
- und dass angesichts der ökonomischen und politischen Machtposition Deutschlands in der EU sich außerhalb des führenden Kerns politische Bestrebungen verstärken, die auf Ablehnung einer unter der Führung Deutschlands stehenden EU zielen und dies mit sehr unterschiedlichen Richtungen: Zuwachs rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien auf der einen Seite (Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Österreich) und linkssozialistischer Bewegungen(Griechenland, Spanien, Portugal, Irland, Dänemark) auf der anderen Seite.
2. Die Entwicklung der EU nach den Wahlen ist von einer weiter anschwellenden ökonomischen Krise und zunehmenden politischen Auseinandersetzungen angesichts der Lage im mittleren Osten und in der Mitte Europas gekennzeichnet.
- Die USA forcieren ihr Streben nach Erhalt und Ausbau ihrer ökonomischen, politischen und militärischen Dominanz in der Welt und setzen die EU mit der Orientierung auf eine Stärkung des transatlantisches Bündnisses als Phalanx gegen Russland unter Druck - mit dem Ziel ihrer Einbindung als abhängiger, starker Partner (nicht als zweite westliche Weltmacht) im Rahmen ihrer neuen Weltmachtstrategie gegenüber China und die Schwellenländer und für die finanzielle und militärische Entlastung ihrer Ambitionen im Nahen Osten. Entscheidende Instrumente sind: die Aushandlung und Durchsetzung der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) als "Wirtschafts-NATO" sowie der Antrieb zu einer forcierten expansiven, militaristische Außenpolitik der Europäischen Union im Komplott mit der NATO, in deren Rahmen die herrschende EU-Elite auch ihre eigenen ökonomischen und politischen Interessen durchzusetzen gedenkt.
- Mit der seit 2007 schwelenden ökonomische Krise - verbunden mit dem rigorosen Spardiktat für die besonders betroffenen Länder der Peripherie der EU sowie der Krise in der Euro-Zone - und entsprechend der sich neu anbahnenden Situation durch den Ukraine- Konflikt mit den von den USA aufdoktroierten Sanktionen gegenüber Russland passt die EU auch ihre institutionellen Mechanismen an. Die von der Europäischen Kommission ausgearbeitete Agenda der europäischen Politik wird sicher vom neuen Europäischen Parlament unterstützt werden. "Ziel ist dabei die Etablierung einer Wirtschaftsregierung, die die nationalen Souveränitätsrechte in Finanz- und Wirtschaftsfragen drastisch einschränken soll. Auf diese Weise soll vor allem die Eurozone politisch stabilisiert werden."
3. Für die linken Kräfte und besonders für die DIE LINKE ergeben sich aus der neuen Weltsituation und besonders aus der Lage in der EU neue Herausforderungen. Die bisherigen Verlautbarungen dazu sind jedoch unterschiedlich. Es ist bisher noch keine strategische Linie zu erkennen.
- Andreas Wehr sieht für die linken und progressiven Kräfte auf europäischer Ebene keine Möglichkeit, die Agenda in ihrem Sinne zu beeinflussen. Er plädiert gegen das Wunschdenken vom Umbau der Union zu einer " demokratischen, sozialen und ökologischen EU" , f ü r entscheidende Kämpfe zur Verteidigung errungener sozialer und demokratischer Standards auf nationaler Ebene und gegen das illusionäre Wunschdenken von der Möglichkeit der Durchsetzung eines "sozialen, demokratischen Europa".
- Heinz Bierbaum sieht in seiner Analyse "Die neue politische Landschaft Europas" die Aufgaben der Linken in zweierlei Richtungen: einmal darin, dass die Linke in Europa mit einer erstarkten Rechten konfrontiert ist und deutlich machen muss, dass ihre Kritik an der EU-Politik und an der europäischen Entwicklung in eine ganz andere politische Alternative mündet als die der Rechtsextremen - in eine antikapitalistische, demokratische und internationalistisch angelegte. Gleichzeitig muss sie sich mit der Sozialdemokratie auseinandersetzen, die sich auf europäischer Ebene in einem sehr widersprüchlichen Prozess befindet, und dadurch ihre Positionen stärken, zum anderen darin, dass es im Europäischen Parlament darum geht, "die Einheit in der Vielfalt zu finden" und die unterschiedlichsten Kräfte zu integrieren und dafür auch die Fraktionsführung stärker kollektiv ausrichten - und dies über das von der EL geplante Forum der Alternativen als breite Plattform für alle linken Parteien und Bewegungen.
- Cornelia Hildebrandt setzt in ihrer Analyse der Ergebnisse zu den Europawahlen 2014 auf den Schwerpunkt der Formierung einer Neuen Rechten, die sich auf verbreiternde nationalistische und wertekonservative gesellschaftliche Grundströmungen stützt, sich gegen die Europäischen Institutionen wendet, diese aber nicht beseitigen, sondern national neu legitimieren will. Zugleich sieht sie die "große Koalition" der EU politisch unter Druck von rechts, aber auch durch die wirtschaftlichen Krisen in den einzelnen Ländern mit einer politischen Systemkrise der EU konfrontiert. Die linke Bewegung charakterisiert C. Hildebrandt als zwiespältig - de facto in eine Nord - Süd - gespaltene entsprechend der wirtschaftlichen Position des Landes und der Auswirkungen der Krise in den einzelnen Ländern. Sie plädiert für "mehr als nur symbolische Solidarität" der Linken in Europa untereinander. "Die europäische Linke steht vor der Doppelaufgabe, die Institutionen der Demokratie in Europa zu verteidigen und zugleich einen Beitrag zur wirtschaftspolitischen sozialen und ökologischen Umgestaltung der Fundamente der EU zu leisten. Dies ist eine Strategie harter Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten, des offenen Konflikts mit den herrschenden Eliten und der sehr offenen Suche nach Bündnispartnern."
- Mitte vergangenen Jahres wurde zudem ein "Aufruf für ein egalitäres Europa" von linken Exponenten wie Karl Heinz Roth und Lothar Peter von "Alternativen" diskutiert, die Konzepte für die Peripherieländer zur Krisenüberwindung einschließen, aber auch erhebliche Schwierigkeiten aufzeigen. Eine glaubwürdige Perspektive für Europa sieht dieses Papier nur unter bestimmten Kriterien realisierbar und formuliert ein Aktionsprogramm in neun Punkten, das als verbindende Klammer eine neue politische Verfassung notwendig macht, einen post-nationalstaatlichen Ansatz hat und nicht aus den Strukturen der Europäischen Union entwickelt werden kann, orientiert an den Prinzipien der direkten Demokratie und auf ein "Projekt einer Föderativen Republik Europa" zielt.
- Letztlich ist das Positionspapier der Partei DIE LINKE vom 25. August 2014 zu nennen. Im 6. Punkt dieses Papiers ist unter Wohlstand und Solidarität in Europa zu lesen: "Wir wollen ein System der europäischen Integration, das jenseits von Monetarismus, Austerität und Dumpingwettbewerb liegt und eine Politik für sozialen Fortschritt und globale Entwicklung verfolgt. Wohlstand darf sich nicht auf Ausbeutung anderer Kontinente gründen. Die Kosten der Krise dürfen nicht weiter als Kürzungsprogramme der Mehrheit der Bevölkerung übergeholfen werden, sie sollen durch eine europaweite Vermögensabgabe für Millionäre und Milliardäre finanziert werden. Wir brauchen einen Einstieg in eine erneuerte Wirtschaftsstruktur und eine demokratische und regional ausgeglichene Investitionspolitik. Ohne eine Regulierung des Finanzmarktes und eine höhere Besteuerung von Finanztransaktionen und Finanzvermögen lässt sich die Belebung langfristig-realwirtschaftlicher Aktivitäten nicht bewerkstelligen."
Insgesamt zeigt sich eine Konzeptionslosigkeit der Linken hinsichtlich einer politischen Strategie zur Lage in Europa. Auf jeden Fall ist es notwendig, das neue Verhältnis von nationalen und internationalen Kampfbedingungen für eine linke Politik zur Veränderung der Verhältnisse in Europa in den Vordergrund zu rücken.
In diesem Zusammenhang brachten die Mitglieder des Ältestenrates aus aktuellem Anlaß ihre Empörung über das Auftreten des Bundespräsidenten Gauck am 01. September 2014 in Danzig zum Ausdruck. Ausgerechnet am Tag des Beginns des faschistischen Raub- und Vernichtungskrieges Rußland imperiale Motive und aggressive Absichten zu unterstellen, zeugt nicht nur von historischer Ignorenz, sondern vor allem vom Bestreben nach Vorherrschaft des deutschen Imperialismus in Europa.
Der Ältestenrat hält es für erforderlich, daß sich zu solchen Vorkommnissen nicht nur führende Funktionäre des Parteivorstandes positionieren, sondern auch die führenden Kräfte der Partei in den Bundesländern im Rahmen von Wahlkämpfen und aus Anlaß anderer landesspezifischer Aktiviväten.
Der Ältestenrat kam im Ergebnis seiner Debatte zu der Auffassung, dass die bisher erfolgte Auswertung der Wahlen zum Europäischen Parlament noch nicht den neuen Herausforderungen in der Entwicklung der EU gerecht wird. Die Anforderungen für die Gestaltung linker europäischer Politik sind gewachsen. Die Regierung der BRD setzt auf Führungsanspruch in der EU und kämpft für ständig wachsenden Einfluß. DIE LINKE muß sich dieser Tendenz noch entschiedener entgegenstellen.
Der Ältestenrat empfiehlt der gesamten Partei, natürlich in erster Linie dem Parteivorstand und den Landesvorständen, sich auf der Grundlage der Wahlergebnisse zum EU-Parlament und weiterer Wahlen gründlich mit der aktuellen internationalen Situation und speziell mit der Entwicklung in Europa und in der EU auseinanderzusetzen und konkrete Schlußfolgerungen für die politischen Aktivitäten der Partei und ihre Öffentlichkeitsarbeit beschließen.
Für besonders dringend hält es der Ältestenrat im Ergebnis der heutigen Debatte, daß der Parteivorstand sich gemeinsam mit sachkundigen und zuständigen Mitgliedern der Partei und Vertretern anderer linker Parteien an die Erarbeitung einer umfassenden, langfristig angelegten Konzeption für die politische Strategie der Linken zur Lage in Europa und in der EU macht.
Auf dem Parteitag der Europäischen Linken in Madrid im Dezember 2013 wurde die Forderung nach einem Linksdialog in Europa erhoben, ähnlich dem des Forums Sao Paulo in Lateinamerika. Der Parteivorstand der Partei DIE LINKE sollte diesen Gedanken aufgreifen und eine Initiative für einen solchen Dialog auslösen.