Für die Erneuerung einer Europa-Diskussion in der Partei DIE LINKE
Erklärung des Ältestenrates
I. Ansatzpunkte für eine antikapitalistische EU-Politik
Ansatzpunkte für eine antikapitalistische EU-Politik sollen einen notwendigen Prozess gesellschaftlicher Entwicklung einleiten und tiefgreifende Veränderungen für einen Sozialismus 2.0 - einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz - für die Praxis formulieren.
Die Linkskräfte in der EU, allen voran die Europäische Linkspartei, müssen sich den Herausforderungen stellen, ihre Kräfte formieren und gemeinsam Wege aus der Krise suchen. Unter Beachtung nationaler Besonderheiten gilt es, auf der Ebene der Europäischen Union einen solidarischen Klassenkampf in vielfältigen Formen zu entfalten. Auf nationalen Parteitagen sollten für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 Wahllisten erstellt und gemeinsame Positionen auf dem Kongress der Europäischen linken Partei für den Wahlkampf erarbeitet werden. Das kann für das politische Überleben der EU-Linken aber nur der Anfang sein. Es vollzieht sich eine Zäsur des Überlebens der kapitalistischen Gesellschaft, die die Lebenschancen der Menschen auf dieser Erde zerstören könnte.
Im Verlauf der Nachkriegsgeschichte ist mit der heutigen Europäischen Union (EU) ein komplexes Gebilde entstanden: Die EU ist keine Föderation wie die USA und auch keine Organisation für die Zusammenarbeit von Regierungen wie beispielsweise die UNO. In den Jahren haben die Mitgliedsstaaten ihre eigenen Organe eingerichtet: das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Kommission, den Europäischen Gerichtshof und den Europäischen Rechnungshof.
Die Mitgliedsländer treten einen Teil ihrer staatlichen Souveränität an diese Organe ab. Dieser Zusammenschluss von Hoheitsrechten heißt auch "Europäische Integration". Praktisch bedeutet das: Die Mitgliedsländer entscheiden demokratisch über wichtige und auf das gemeinsame, europäische Interesse abzielende Fragen.
Diese europäische Integration beruht auf vier Gründungsverträgen: dem Vertrag zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951), dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem der Europäischen Atomgemeinschaft (1957) sowie dem Vertrag über die Europäische Union, auch Vertrag von Maastricht genannt (1992).
Die EU befindet sich am Beginn einer neuen Phase ihrer Entwicklung. Gegründet in der Zeit des Kalten Krieges standen sich NATO und der Warschauer Vertrag, die EG und der RGW als Gegner mit ihren gesellschaftlichen Systemen gegenüber.
Auf der Grundlage gegenseitiger atomarer Bedrohung existierte ein Gleichgewicht des Schreckens mit ständiger Aufrüstung und Bedrohung, aber ohne direkte Kriegsführung. Die westliche Seite verhinderte durch ständige Sanktionen den Austausch von strategischen Informationen in wissenschaftlich-technischen Bereichen.
Mit dem Ende des Realsozialismus in Europa und dem Zerfall der Sowjetunion - so wurde erklärt - sei der Kalte Krieg beendet.
Wie der Verlauf der letzten bald drei Jahrzehnte zeigt, wachsen militärische Bedrohungen, und es werden heiße Kriege geführt.
Die NATO und EU haben sich nach Osteuropa erweitert. Sanktionen gegen Russland werden als Mittel des Kalten Krieges eingesetzt.
Die Gründung vor 60Jahren erfolgte im Sinne des Neoliberalismus, d.h. eines Marktfundamentalismus. Die Staatsquoten werden zurückgeführt, staatliche Aufgaben werden privatisiert und der Kapitalverkehr wir dereguliert. Diese Entwicklungen sind im Vertrag von Lissabon festgeschrieben.
Die neue Phase der EU wird mit sog. Reformen den Sozialabbau beschleunigen, den Gegensatz zwischen Reichtum und Armut verschärfen, die Rechtsentwicklung beschleunigen und militärische Kräfte und die Gefahr ihrer Einsatzfähigkeit verstärken.
Entgegen der vorherrschenden verbreiteten Meinung zum Gründungsprozess des politischen Europas ist festzuhalten: 1941 verfassten die auf der italienischen Insel Ventotene festgehaltenen antifaschistischen Aktivisten Ernesto Rossi und Altiero Spinelli ein Manifest für ein freies und vereinigtes Europa, das für die Linkskräfte auf dem alten Kontinent Richtschnur war.
Die Kernthesen lauteten: Die Niederlage Deutschlands wird nicht automatisch die Neuordnung Europas mit sich bringen, die unserem Kulturideal entspricht. Die reaktionären Kräfte verfügen über geschickte Leute und Kader, die zum Befehlen erzogen worden sind und ihre Vorherrschaft hartnäckig verteidigen werden. Im kritischen Moment werden sie sich geschickt zu verstellen wissen und beteuern, wie sehr ihnen die Freiheit, der Friede, der allgemeine Wohlstand der benachteiligten Klassen am Herzen liege.
Vor allen Dingen werden sie die Wiederherstellung des Nationalstaates ins Feld führen. Sie gewinnen so jenes Volksempfinden für sich, das am weitesten verbreitet ist und am leichtesten zur Beute reaktionärer Manipulationen wird, das patriotische Gefühl.
Die erste Aufgabe, die angepackt werden muss und ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt auf dem Papier bleibt, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen. Ein freies und geeintes Europa ist die unerlässliche Voraussetzung für die Verbreitung der modernen Kultur, deren Entwicklung die totalitäre Epoche aufgehalten hat.
Die Europäische Union wurde mit dem Ziel gegründet, den Kriegen zwischen Nachbarn endgültig ein Ende zu bereiten, die ihren Höhepunkt im Zweiten Weltkrieg gefunden hatten. Und die Gewerkschaften und linken Parteien hatten einen nicht geringen an dieser politischen Zielsetzung.
Die Darstellung der gegenwärtigen Situation des Kapitalismus wird holzschnittartig in zwei gegensätzlichen Positionen beschrieben.
In vielen Stellungnahmen wird die jetzige Situation insgesamt positiv bewertet. Seit mehreren Jahren gehe es mit der Wirtschaft in der Euro-Zone mehr oder weniger aufwärts. Ein baldiges Ende dieses Aufschwunges zeichne sich gegenwärtig nicht ab. Wesentlichen Anteil daran hat allerdings die Nullzins-Politik der EZB.
Diese Argumentation ist nur dann überzeugend, wenn sie sich auf statistische Durchschnittswerte bezieht und verliert dann ihren Erklärungswert sobald gesellschaftliche Widersprüche gedeutet werden sollen. Dann erscheint die kapitalistische Entwicklung als ein Prozess des Niedergangs.
Wesentliche Probleme sind in der EU nach wie vor nicht gelöst:
- Es gibt Massenarbeitslosigkeit, wobei die hohe Jugendarbeitslosigkeit eine besondere Rolle spielt.
- In der europäischen Parteienlandschaft erstarken nationalistische und rechtspopulistische Parteien.
- Die Wahlen in der BRD, in Tschechien, Österreich und Italien haben zu tiefgreifenden politischen Veränderungen in diesen Ländern geführt. Um diese zu erfassen reichen Begriffe wie "Rechtspopulismus" nicht aus. Was sich vollzieht sind Räume, in denen Elemente faschistischer Ideologie und Politik gesellschaftlich wirksam werden. In diesem Sinne ist es berechtigt davon zu sprechen, dass die BRD mit den Wahlen zum Deutschen Bundestag und dem Einzug der AfD eine "Europäische Normalität" erreicht hat wie sie in Ungarn, Polen, Frankreich, Italien und weiteren Ländern schon länger existiert.
- Es bestehen nach wie vor erhebliche ökonomische und soziale Differenzen zwischen den einzelnen Mitgliedsländern. Die Einkommens- und Vermögensungleichheit wächst innerhalb und zwischen den Staaten. Die Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern ist in keinem Land behoben.
- Grundlegende Konstruktionsfehler der Eurozone bestehen fort. Ein Kerneuropa verschärft die Lage.
Vorsichtige Versuche diese Konstruktionsfehler zu korrigieren wurden durch die Europäische Kommission 2017 durch den "Vorschlag für eine interinstitutionelle Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte" (ESSR) gemacht.
Festgelegt wird, dass für wichtige Bereiche wie Arbeitsrecht, Mindestlöhne, Bildung und Erziehung, Gesundheitsfürsorge sowie Organisation der sozialen Schutzsysteme die Mitgliedsstaaten und - in vielen Bereichen - die Sozialpartner zuständig sind; also die EU keinen Einfluss hat. In Fortsetzung der Grundrechtscharta des Lissabon-Vertrages werden die Rechte sehr unspezifisch formuliert, so dass Rechtsverletzungen kaum festgestellt werden können. Folglich gibt es auch keine Instrumente mit denen ein Über- oder Unterschreiten von Schwellenwerten sichtbar gemacht werden könnte. Diese Säule sozialer Rechte verhindert nicht die Fortsetzung der neoliberalen Politik, weder in der EU noch in den einzelnen Ländern. So können beispielsweise die von Emmanuel Macron geplanten neoliberalen Reformen des Arbeits- und Sozialrechts in Frankreich nicht aufgehalten werden.
Die Ablösung einer etatistischen Steuerungspolitik bis in die70er und 80er Jahre in den einzelnen Ländern der EU durch einen neoliberalen Reformeifer war verbunden mit einer gehörigen Portion historischem Optimismus, der einen Beitrag zu einer bewussten Gesellschaftsgestaltung gar nicht erst aufkommen ließ. Dieser Verzicht auf ein Drittes zwischen fordistischer Steuerung von Arbeit und Kapital und neuer marktförmiger Kontrolle hat dazu geführt, dass sich in der europäischen Staatengemeinschaft in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten keine Kraft entwickelt hat, die in der Lage wäre, eine am "Gemeinwohl" orientierte Politik zu formulieren oder gar durchzusetzen. Daraus folgten über Jahrzehnte für Europa tiefe wirtschaftliche Disparitäten und zwischenstaatliche Konflikte.
Die Staaten müssen sich das Vertrauen von wenigen oligopolistisch agierenden globalen Finanzfonds erwerben, um nicht in den Bankrott getrieben zu werden. Die Kapitaleigner können sowohl direkt durch Finanzierung oder Nichtfinanzierung (Steuerpolitik) des Staates oder indirekt durch Investieren oder Nichtinvestieren in nationale Volkswirtschaften Druck ausüben. Dies erklärt einen Zustand, in dem sich wenige Superreiche einen großen Teil des gesellschaftlichen Reichtums aneignen und Produktion sowie Reproduktion kontrollieren.
Daraus resultiert das asymmetrische Herrschaftsverhältnis in dem der verbleibende Rest der Gesellschaft, - die Mehrheit von 90 Prozent - sehr gemischt und in verschiedene Formationen gespalten ist. Große Teile der Mittelschichten wurden beispielsweise mit neuen Freiheitsversprechen geködert. Vielen erscheint heute die Restitution von Elementen der "sozialen Marktwirtschaft" als erstrebenswert. Rückblickend lässt sich sagen, dass die "Soziale Marktwirtschaft" immer Kapitalismus war und weniger die Institutionalisierung des Sozialen. Errungenschaften im sozialen Bereich standen unter dem Vorbehalt, dass die Kapitalverwertung erhalten bleibt. In der Folgezeit fehlte es an relevanten Akteuren, die die erreichten sozialstaatlichen Errungenschaften verteidigt hätten.
Europäische Wirtschaftspolitik müsste im Sinne ökonomischer Konvergenz gedacht werden. Auszuloten ist, inwieweit es möglich ist, Mischwirtschaft in verschiedenen Sektoren wieder auf die Agenda zu setzen. So könnten Banken und Versicherungen verstärkt öffentlicher Kontrolle unterworfen werden, wie es beispielsweise in der Krise 2007/8 möglich gewesen wäre. Großunternehmen könnten zumindest in der Bundesrepublik entsprechend dem Artikel 14, Abs.2 "Eigentum verpflichtet" in die Pflicht genommen werden (z.B. Siemens) Die Mitbestimmung als Beitrag zu einer Demokratisierung unternehmerischer Entscheidungen könnte durch gewerkschaftliche Kämpfe ausgeweitet werden.
Die Verwandlung der Kapitalmärkte in Finanzmärkte trieb die Herrschaft der Vermögensbesitzer und ihrer Verwaltungsgesellschaften voran. Immer neue Finanzprodukte wurden kreiert um die Spekulation in ungeahnte Höhen zu treiben. Technische Entwicklungen, Kapitalakkumulation und Geschäftstüchtigkeit schaffen für eine kleine Schicht von Investoren oder Rentiers unermessliche Vermögen.
Damit verbunden ist eine zunehmende Verschuldung nicht nur der führenden kapitalistischen Staaten, sondern auch der Unternehmen der Realwirtschaft und der Privathaushalte.
Zeitgleich verfestigen sich Tendenzen rückläufiger öffentlicher Dienstleistungen und Leistungen für die soziale Sicherheit.
Diese Entwicklungen sind in den EU-Ländern verschieden stark ausgeprägt spielen aber zwischen den Staaten eine zentrale Rolle. Die Entwicklung ist gekennzeichnet durch stagnierende oder abnehmende Löhne im unteren Einkommensbereich, Ausweitung von ungeschützten bzw. prekären Beschäftigungsverhältnissen, erodierenden Tarifvertragssysteme, der Aushöhlung der Tarifautonomie und Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherungen sowie den Wandel vom Managerkapitalismus zur Herrschaft des Shareholder Value. All das geschah ohne bemerkenswerten Widerstand.
In den kommenden Jahren wird sich die Situation noch zuspitzen, wenn Globalisierung und Digitalisierung nicht in engem Zusammenhang mit der Verwertungslogik des Kapitals begriffen wird. Dieses neue Akkumulationsregime zeichnet sich dadurch aus, dass Algorithmen zur wichtigsten Maschine, Daten zum essentiellen Rohstoff und Informationen zur Ware werden. Der aktuelle Kapitalismus transformiert sich erfolgreich und schafft es, sich täglich neu zu erfinden verbunden mit dem Versprechen von Freiheit und Teilhabe. Auch bei der angeblich demokratisch organisierten Digitalisierung (Plattformökonomie) bleibt das Streben nach Profit zentral. Diese Ambivalenz aufzuzeigen wäre ein erster wichtiger Schritt.
Stattdessen wird in der EU die Entfesselung der Märkte und des Kapitalismus mit großer Energie vorangetrieben. Die Anpassung der Rahmenbedingungen an die Marktsteuerung führt letztlich dazu, dass sich die Staaten einer "marktkonformen Demokratie" unterwerfen, wie sie insbesondere von Deutschland gefordert wird.
Den Kapitalismus zivilisierende Forderungen wurden lange Zeit durch die real existierende staatssozialistische Konkurrenz begünstigt, wenn auch nur indirekt.
Überlegungen zur Beendigung der Austeritätspolitik und zu wirklichen Reformen werden dadurch erschwert, dass heute jedwede Kritik unter den Verdacht einer staatlich regulierten Planwirtschaft gestellt wird. Infolge des Niedergangs und letztlichen Scheiterns des Realsozialismus wird eine demokratische, zukunftsfähige und realistische sozialistische Perspektive diffamiert. Das gilt auch für eine Mehrheit der Bevölkerung einschließlich der Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, weil sie von dem Versprechen "allen werde es besser gehen" (das gebrochene Wahlversprechen von den "blühenden Landschaften") nachhaltig enttäuscht wurden und außerdem einer permanenten Indoktrination ausgesetzt sind. Gegenpositionen müssen deutlich formuliert und öffentlich breit diskutiert werden.
Der Aufwärtstrend des Rechtspopulismus in allen europäischen Ländern ist Ausdruck einer tiefsitzenden Enttäuschung über die ungerechten Verhältnisse in den kapitalistischen Ländern und der Ohnmacht resultierend aus dem Gefühl der Machtlosigkeit. Die spezifischen nationalen Färbungen entstehen vornehmlich aus der Schwäche bestehender Systeme den Ungerechtigkeitserfahrungen mit Konzepten real erfahrbarer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit zu begegnen. In Gesellschaften vorhandene autoritäre Mentalitäten werden angesichts der enttäuschenden Erfahrungen der Deprivation durch rechtspopulistische Strömungen aufgefangen und verstärkt. Einen wesentlichen Beitrag für die Empfänglichkeit der Bevölkerung für rechtsradikale Forderungen in den neuen Bundesländern hat die Erfahrung der Herabsetzung, Diskriminierung oder Entwürdigung ihrer Lebensleistung in der DDR geleistet. Auch nach dem Ende der DDR bleibt ihre ehemalige Existenz ein Dorn im Fleisch des Kapitalismus. Wie sonst ist es zu erklären, dass sie nach wie vor mit Nachdruck delegitimiert wird. Mit den Hinweisen auf Planwirtschaft und Sozialismus wird jede Alternative zum Kapitalismus diffamiert. Diese Tendenzen sind durchaus auch in etablierten Parteien anzutreffen. Die Kanalisierung des ökonomischen Konfliktes auf das Volk im Rahmen bestehender nationaler Grenzen versus den Fremden, den Zugewanderten oder den Migranten verstärkt die Bereitschaft, mit Gewalt gegen diese vorzugehen. Der Rechtspopulismus holt sie bei den Empfindungen der Benachteiligung ab, verstärkt diese und findet im Fremden einen Sündenbock.
Alle Diskussionen um die Beseitigung der Fluchtursachen müssen berücksichtigen, dass es nicht darum gehen kann, dass Europa sich noch stärker abschottet (Frontex), die Grenzen in afrikanische Länder vorverlegt werden (EU-Grenzschutzmissionen) oder die Situation von Schutz Suchenden noch repressiver gestaltet. Eine Befriedung kann nur gelingen, wenn die Existenzbedingungen in den Heimatländern auf ein Niveau gehoben werden, die eine menschenwürdige Existenz garantiert. Es kann zukünftig nicht darum gehen an Symptomen zu kurieren, sondern eine Veränderung der politischen und ökonomischen Machtverhältnisse und eine daraus resultierende Politik - nicht zuletzt der Handels- und Wirtschaftspolitik - wäre dringend notwendig. Dies kann nur durch Regelungen erreicht werden, die sich gegen die dominanten Marktkräfte richten. Die soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach dem kumulierten Reichtum und der Verteilung nach innen und außen. Ohne einen glaubhaften Richtungswechsel in der Politik werden die Rechtspopulisten in Österreich, Frankreich, den Niederlanden oder Italien - ganz zu schweigen von den Ländern in denen schon rechtspopulistische Parteien regieren wie in Ungarn oder Polen - weitere Nahrung erhalten mit unabsehbaren Konsequenzen. Dies zeigte sich bei den Wahlergebnissen zum italienischen Parlament im März dieses Jahres. Die Regierungspartei, die Partito Democratico (PD) erreichte nur 18,9% der Stimmen; zusammen mit anderen linken Kräften kam das Mitte-Links-Bündnis auf 22,9 Prozent. Europaskeptiker und das rechte Lager triumphieren bei der Wahl. Diese Rechtsverschiebung erschüttert die politische Nachkriegsordnung und verschärft die Krise der europäischen Union massiv.
II. Europa ist größer als die EU
Ohne oder gar gegen Russland ist europäische Politik realitätsfern und gefährlich. Die Weiterentwicklung der EU kann nur als Friedensprojekt gelingen. Sanktionen und Konfrontation, antirussische Hetze bedrohen aber den Frieden. Die Gefahr eines großen Krieges ist nicht gebannt, auch nicht in Europa. Der Westen, allen voran die USA haben ihr Versprechen beim Abschluss des 2+4-Vertrages gebrochen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Heute stehen NATO-Truppen an der russischen Westgrenze und nach den Brüsseler Plänen sollten weitere 800 km in der Ukraine dazu kommen. Provozierende Militärmanöver werden veranstaltet. Mit Antiraketensystemen soll eine Gegenwehr gegen nukleare Erstschläge der NATO verhindert werden. Eine beispiellose Hetze gegen Russland soll die "Drang nach Osten"-Politik wieder salonfähig machen und den Menschen die Hirne vernebeln. Die historischen Erfahrungen sollen vergessen gemacht werden, auch die der Stalingrader Schlacht. Der Sieg der Roten Armee ließ vor 75 Jahren das Ende der Naziherrschaft erahnen.
Die Pariser Charta, die eine Friedensordnung nach der Wende verheißen sollte, wurde an die Wand gefahren. Der Westen fühlte sich als Sieger im Kalten Krieg und wollte mit Russland keine Beziehungen auf gleicher Augenhöhe, gleiche und gemeinsame Sicherheit. Versuche, an die Ostpolitik von Willi Brandt anzuknüpfen, wurden durch die "Atlantiker" vom Regierungstisch genommen. Die Beziehungen mit Russland verschlechterten sich Schritt für Schritt und mündeten schließlich in einer beispiellosen Russophobie, die nicht erst mit der Eingliederung der Krim ihren Anfang nahm.
Konstruktive Beziehungen mit Russland sind von zentralem Interesse einer friedlichen und entmilitarisierten Ordnung in Europa. Für einige mittelosteuropäische Staaten und konservative Militärs in der NATO verkörpert dagegen Putins Russland eine Fortsetzung des zaristischen und sowjetischen Imperialismus. Mit der NATO-Erweiterung, dem Kosovokrieg, dem Irakkrieg, der Libyenintervention etc. soll eine militärische Abgrenzung
Und ein wirtschaftlicher "Drang nach Osten" gerechtfertigt werden. Mit der Verteidigungskooperation "PESCO", einer Militärkoalition der Willigen, ist jetzt die "schlafende Schönheit" der europäischen Verteidigungspolitik wieder erweckt worden. Nicht alle EU-Staaten - aber immerhin 20 oder mehr - kooperieren stärker bei Militärprojekten. Jedes Land, das zur Gruppe der Pioniere in Sachen EU-Verteidigungspolitik zählen will, muss eine Reihe von Anforderungen erfüllen. So müssten die Militärausgaben regelmäßig gesteigert werden. Jeder, der bei PESCO mitmacht, verpflichtet sich, an mindestens einem großen Rüstungsprojekt teilzunehmen. Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, dass Europa vornaschreitet mit der Sicherheits- und Verteidigungsunion. Die Befürworter sehen darin nämlich einen ersten Schritt hin zu einer EU-Armee. Die EU treibt unübersehbar die Zusammenarbeit in Sachen Verteidigungsunion voran und gefährdet damit die noch bestehende Friedensordnung. Die Europäische Union sollte keine Kernaufgaben der NATO übernehmen in dem Sinne der kollektiven Verteidigung, also Bündnis- und Landesverteidigung: im Gegenteil; die wachsenden internen Widersprüche des NATO-Militärbündnisses sollten die EU ermutigen, in Anknüpfung die Schlussakte von Helsinki, die KSZE zu beleben. Die KSZE wurde 1995 offiziell in "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE) umbenannt. Zu ihren wichtigsten Zielen zählen die Schaffung von Sicherheit, Konfliktverhütung und Konfliktmanagement, der Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie Abrüstung und Terrorismusbekämpfung. Im Zuge des Konfliktes in der Ukraine ist die OSZE zuletzt wieder in den Mittelpunkt der europäischen Sicherheitspolitik gerückt.
Für eine neue Ostpolitik zu streiten muss ein besonderes Anliegen der Partei DIE LINKE werden, wie es ein auf dem Magdeburger Parteitag einmütig gefasster Grundsatzbeschluss gefordert hat. Das Gebot der Stunde ist, Druck auf die Regierenden auszuüben, um wieder normale Beziehungen mit Russland herzustellen.
DIE LINKE kann sich hierbei auf Wohlwollen in der Bevölkerung stützen. Man will keinen Krieg. Das brachte auch der Appell der 60 hervorragenden Politiker und Persönlichkeiten
"Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!" oder eine Denkschrift des Willi-Brandt-Kreises eindrucksvoll zum Ausdruck. Einflussreiche Wirtschaftsmanager wollen für beide Seiten vorteilhafte Wirtschaftsbeziehungen. Schließlich geht es auch um mehr Arbeitsplätze.
Vertrauen ist nötig. Es wächst durch Städtepartnerschaften, Begegnungen junger Leute, Austausch der Kulturen. Nicht wenige haben sich davon durch die feindselige Politik der Regierenden nicht abbringen lassen. Ein weites Feld für Aktivitäten von Mitgliedern der Partei DIE LINKE und ihrer Sympathisanten. Viele von ihnen haben die Sprache und die großherzige Lebensweise im großen Nachbarland verinnerlicht.
"Annäherung durch Verflechtung" könnte ein erfolgreiches Konzept werden. Ziel einer neuen europäischen Ostpolitik muss es sein, das konstruktive Engagement Russlands durch neue Kooperations- und Integrationsangebote zu fördern und seine Verankerung in Europa durch enge politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen irreversibel zu machen. Russland bleibt ein wichtiger Partner, auch wenn es jetzt nach außen mit neuem Selbstbewusstsein nationale Interessen vertritt und im Inneren einen eigenen Weg verfolgt, der vielfach asynchron zu dem der EU verläuft. Ohne intensive Partnerschaft mit Russland kann es weder eine gesamteuropäische Friedensordnung noch eine Lösung der Konflikte wie in der Ukraine, im Nahen Osten oder auf dem Balkan geben.
DIE LINKE wendet sich gegen zunehmende Missachtung der Lehren der Geschichte, Geschichtsvergessenheit- und Fälschung. Sie setzt sich mit der Propagierung von Feindbildern und neuen Trennungslinien auf dem europäischen Kontinent auseinander und fordert die besondere Verantwortung der Massenmedien in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und zunehmenden neofaschistischen Tendenzen.
Die Kriegsgefahr abzuwenden, erfordert konsequent politische Lösungen für Konflikte im Nahen Osten, auf der koreanischen Halbinsel und in der Ostukraine anzustreben. Zu Dialog, fairen Verhandlungen statt Konfrontation und militärischer Gewalt, zur Stärkung der UNO und des Völkerrechts gibt es keine Alternative.
Für DIE LINKE kommt es darauf an, ihr aufklärendes Wirken zu Ursachen und Folgen von Konfrontation, zur Einmischung in innere Angelegenheiten und Aggression zu intensivieren und zur Aktivierung der Friedensbewegung beizutragen.
III. Perspektiven einer Erneuerung der europäischen Linken
Das europäische Projekt, ist nach dem Zerfall des realsozialistischen Lagers 1989-91 mehr und mehr nicht nur einem Projekt des neoliberalen Abbaus nationaler Sozial- und Wohlfahrtsstaaten geworden, sondern hat auch in offensiv expansiver Weise zu einer Ausdehnung des über die Nato-Mitgliedschaft vermittelten Einflusses der USA sowie der Erschließung neuer Märkte für das europäische Kapital beigetragen.
Wegen der weit verbreiteten Sorge und Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und der extremen Konzentration von Einkommen und Reichtum bleibt ein europäischer Politikwechsel hin zu einem alternativen Sanierungs- und Wachstumsmodell unverzichtbar.
Die zentrale realwirtschaftliche Ursache der Eurokrise liegt in der ungleichen Entwicklung der Handels- und Kapitalströme. Seit Einführung des Euro werden die wirtschaftlich starken Volkswirtschaften stärker und die wirtschaftlich schwachen Volkswirtschaften schwächer. Ohne einen Abbau dieser Ungleichgewichte wird das Währungssystem des Euro nicht überleben.
Die Krise in Europa ist auch Ergebnis einer falsch ausgerichteten Konzeption der Europäischen Union. Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht gibt es eine umfassende neoliberale Ausrichtung, liegen die Schwerpunkte auf der Freizügigkeit des Kapitals und auf Wettbewerbsvorteilen der wirtschaftlich starken Länder.
Die meisten EU-Mitgliedsländer sind angesichts der ökonomischen und politischen Krisen der mit einem Erstarken der rechtsextremen und rechtspopulistischen Kräfte konfrontiert. Die starke Migrations- und Fluchtbewegung hat die seit Jahren anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise in den Hintergrund gedrängt. Die Probleme der großen Wachstumsunterschiede, der in vielen Mitgliedsländern hohen Arbeitslosigkeit, hoher Verschuldung und massiver Defizite in der öffentlichen Infrastruktur sind nicht gelöst. Nach wie vor dominiert als Lösungsversuch eine neoliberale Austeritätspolitik, die vor allem die Krisenländer in der südlichen Peripherie niederdrückt und die wirtschaftliche wie soziale Entwicklung in Europa blockiert.
Angesichts der wachsenden Zukunftsängste und des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien nicht nur in Ostmitteleuropa, sondern auch in den Ländern Kerneuropas, ist deren Sprengkraft für das europäische Projekt nicht zu bestreiten. Vor dem Hintergrund der anhaltenden europäischen Wirtschafts- und Flüchtlingskrise setzen Rechtspopulisten auf eine Stärkung der Nation und lehnen eine weitergehende Europäisierung und Reformperspektive der EU ab.
Die Befürworter einer Renationalisierung überschätzen die Spielräume nationalstaatlicher Politik. Vor dem Hintergrund freier Kapital- und Warenströme sowie einer gemeinsamen Währung können nationale Regierungen in den zentralen Feldern der Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik keine progressive Politik im nationalen Alleingang durchhalten. Was aber im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass eine enge Zusammenarbeit der zwei/drei größten Volkswirtschaften (Deutschland, Frankreich, Italien) nicht neue Handlungsspielräume schaffen könnte. Zudem hängt die Stabilität nationaler Austeritätsregime immer noch sehr eng mit der Stabilität nationaler Regierungen zusammen. Insofern hat der Nationalstaat keinesfalls ausgedient. Eine Rückkehr zu nationalen Währungen - die radikalste Variante einer Renationalisierung - ist keine wünschenswerte politische Option. Dieser Weg würde mit dramatischen ökonomischen und sozialen Verwerfungen einhergehen. Die Alternative zu weniger Europa ist mehr Europa, aber anders. Ziel ist ein demokratisches und soziales Europa, das mit der neoliberalen Logik des Maastrichter Vertrags bricht.
Die Linke in Europa sollte sich zur Geschichte der Arbeiterbewegung, der sozialen Kämpfe, ihres Kampfes gegen den Krieg, zu eigenen Fehlern, als auch zu ihren Erfolgen bekennen. Gefordert ist ein offener Dialog, der nach Gemeinsamkeit und Zukunftsvisionen streben lässt.
Die Europäische Linke sollte folgende Themen vorrangig behandeln:
- Es gilt die Konstruktionsfehler der EU langfristig zu beseitigen. Dazu gehört in erster Linie das Projekt eines sozialen Europa wieder zu beleben. Die von den Staaten ratifizierten Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon durch ein Verfassungsprojekt zu einem sozialen Europa zu ersetzten.
- Eine Politik, die den kulturellen und sozialen Zusammenhalt und eine demokratische Entwicklung fördert, indem gleiche Lebensverhältnisse hergestellt werden. Die EU benötigt starke politische Institutionen, die die Orientierung vorgeben und dies nicht den Märkten überlassen.
- Dazu gehört eine Abkehr von der Austeritätspolitik hin zu einer Politik für das Gemeinwohl, in der auch die zukünftigen Probleme der Digitalisierung berücksichtigt werden.
- Das Recht aller Schutzsuchenden auf Asyl muss in der ganzen EU anerkannt werden verbunden mit dem Kampf gegen die Fluchtursachen, Elend, Ausbeutung und Tod.
- Ansatzpunkte einer veränderten Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik der EU müssen von der Europäischen Linken entwickelt werden. Die Forderungen lauten: militärische Aufrüstung und den Waffenhandel stoppen, Spannungen abbauen und gegenseitiges Vertrauen aufbauen indem Perspektiven der sozialen Sicherheit und Entwicklung geschaffen werden.
Wie notwendig die Entfaltung einer antikapitalistischen Politik gerade vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 auch ist, so wichtig ist auch die Forderung nach einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus überhaupt. Marx 200 sollte uns Ansporn sein, den Dialog über Sozialismus im 21. Jahrhundert aufzunehmen.
Wir Älteren wollen dafür werben und mit unseren Möglichkeiten dafür einen Beitrag leisten.