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Linksregierungen in Lateinamerika - Errungenschaften und offene Probleme

Beitrag von Helma Chrenko für die Beratung des Ältestenrates zum Thema "Mitregieren – ein Lernprozess für die Linke?"

(In dieser Einschätzung wird wegen der qualitativen Unterschiede und nicht vergleichbaren Entwicklungsbedingungen Kuba nicht berücksichtigt.)

Seit 1998 haben in den meisten Ländern Südamerikas sowie in Nikaragua und El Salvador progressive Regierungen ihr Amt angetreten, die etwas summarisch als Linksregierungen bezeichnet werden. Es sind darin neben Linken verschiedener Ausrichtung politische Kräfte vertreten, die liberale, sozial-reformerische, demokratische und auf die nationale Souveränität und ethnische Identität orientierte sowie antikolonialistische Positionen vertreten. Ihre Prägung erhalten sie in erster Linie durch die Person des gewählten Präsidenten, der in lateinamerikanischen Ländern eine entscheidende Machtposition bekleidet. Im einzelnen sind die Zusammensetzung der Regierungen, das Gewicht der Linken und der Stand ihrer politischen Konstituierung unterschiedlich. Zudem wirken sie in Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand der kapitalistischen Strukturen und der wirtschaftlichen Potentiale sowie auch der historischen Erfahrungen (so spielt z.B. in Argentinien das Erbe des Peronismus eine wichtige Rolle). Gemeinsam ist ihnen das Streben, die von den Jahrzehnten der neoliberalen Orientierung (und teilweise durch koloniale Strukturen) geprägten Deformationen ihrer Gesellschaften zu überwinden und die "soziale Schuld" zu begleichen, das heißt den Bedürfnissen der unteren Schichten Rechnung zu tragen, die Integration der bisher Ausgegrenzten in die Gesellschaft voranzutreiben und diese im Sinne sozialer Gerechtigkeit zu verändern. Die Lösung dieser Aufgaben wird als die Voraussetzung für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft betrachtet. Verteilungsfragen und Armutsbekämpfung sowie neue Formen der politischen Einbeziehung durch partizipative Demokratie spielten daher in der ersten Phase der linken Regierungstätigkeit die Hauptrolle. Zugleich ging es um die Behauptung der nationalen Interessen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, die Anbahnung neuer internationaler Bündnisse und die gegenseitige Unterstützung durch die Herausbildung der lateinamerikanischen Integration; das war in dieser ersten Phase vor allem an den Widerstand gegen die von den USA geplanten Amerikanischen Freihandelszone (ALCA) gebunden.

Die neuen Regierungen entstanden durch Wahlentscheidungen von Bevölkerungsmehrheiten in sozialen Notsituationen nach zwei Jahrzehnten neoliberaler Politik, die zur Diskreditierung und Delegitimierung der bisher herrschenden Kräfte führten. Die Bewusstwerdung, Ermutigung und Aktivierung breiter Schichten wurde durch das Wirken zahlreicher sozialer Bewegungen vorangetrieben, die von unten aufgebaut wurden, auch in Abgrenzung zu politischen Parteien, die als zu wenig durchsetzungsfähig, in ideologischen Grenzen befangen oder autoritär gegenüber den neuen Bewegungen empfunden wurden - gleichzeitig beteiligten sich viele Mitglieder solcher Parteien als Aktivisten an den sozialen Bewegungen. Eine starke Rolle in den Protest-, Abwehr- und Forderungsbewegungen spielten Vertreter der intellektuellen Mittelschichten. Die sozialen Bewegungen, zunächst Versuche der Selbsthilfe, Auflehnung gegen Ohnmacht, Verteidigung lebenswichtiger Erfordernisse, wurden zu Hauptakteuren beim Einbruch in die Hegemonieverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, sie stellten die Orientierungen und Wertmaßstäbe der bisherigen Gesellschaft in Frage. Diese Auseinandersetzungen waren der Ort, wo der Einzelne die Notwendigkeit und den Erfolg des gemeinsamen Kampfes spürte, wo Verständigung über Ziele und Perspektiven des Zusammenwirkens erfolgte. Neue programmatische Vorstellungen erwuchsen in erster Linie aus den Erfahrungen dieser Praxis. Am Anfang stand also der Aufbau eines Kräftepotentials für gesellschaftliche Veränderungen. Unbestritten ist, dass sich in allen Ländern mit progressiven Regierungen bedeutende politische, soziale, ökonomische und kulturelle Veränderungen vollzogen haben, die die Lage großer Teile der Bevölkerung verbessert und ihre Lebensperspektiven positiv umgestaltet haben. Umverteilung und Sozialpolitik bewirkten die Verringerung der Armutsquote (von mehr als 50% auf etwa 30%), insbesondere der extremen Armut, den Abbau von Arbeitslosigkeit (durchschnittlich etwa auf die Hälfte), Lohnerhöhungen und die Verbesserung des Arbeitsrechts, die Ausweitung der Sozialversicherung, auch auf dem Lande, die Sicherung des Zugangs zu Grunddiensten des Gesundheitswesens, besonders die Fürsorge für Mutter und Kind, die Verbesserung, zum Teil erstmalige Einführung von staatlichen Rentensystemen, einen umfangreichen Wohnungsbau mit einfachen Standards, staatliche Preiskontrolle bei Nahrungsmitteln, die Sicherung des Zugangs zu Bildung von der durchgängigen Alphabetisierung bis zur Universitätsbildung Teilweise kam es zur Erarbeitung neuer Verfassungen; auf dieser Grundlage erfolgten institutionelle Reformen, insbesondere auf den Gebieten Justiz, Medien, Gleichstellung der Geschlechter wie auch der ethnischen Gruppen und der Rechte der Natur. Die demokratischen Freiheiten wurden gesichert und Schritte zu einer partizipativen Demokratie eingeleitet, in Venezuela Formen der Selbstverwaltung (kommunale Räte u.a.); auch in anderen Ländern werden durch die Wiederbelebung der kommunalen Ordnung bestimmte Bereiche dem Staat entzogen und in die Hand der Bürger gelegt. Zwischen Regierung und sozialen Organisationen wurden Konsultationsgremien eingerichtet, die jedoch nicht immer und überall funktionieren. Der Staat nahm die wirtschaftslenkenden Aufgaben wieder in seine Hände. Große staatliche Unternehmen, vor allem im Rohstoffsektor, wurden wiederhergestellt. Die schwächeren Auswirkungen der weltweiten Krise in diesen Ländern Lateinamerikas (im Unterschied z.B. zu Mexiko) und die schnellere Erholung der Wirtschaften sind wesentlich auf vorangegangene Veränderungen wie die Verbesserung des Binnenkonsums durch redistributive Maßnahmen, die Diversifizierung des Exports, die Ordnung des Finanzmarktes, den Schuldenabbau und die Entlastung durch die regionale Integration zurückzuführen. Das internationale Auftreten dieser Länder und ihre internationalen Bündnisse haben sich im Dienste der nationalen Interessen (insbesondere der Verfügung über die eigenen Ressourcen) und im Sinne des Multilateralismus, der Friedenserhaltung und der Lösung globaler Probleme grundlegend gewandelt. Sie widersetzen sich knebelnden "Freihandelsverträgen". Ihre regionale Integration entwickelt sich mit der Schaffung neuer Organe der Zusammenarbeit wie die Bank des Südens, ALBA, gemeinsame Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialprojekte, und hat bereits eine Schutzfunktion für die Weiterverfolgung der progressiven Entwicklung übernommen.

Diesen im globalen Maßstab außerordentlich wichtigen Ergebnissen stehen allerdings auch bedeutende noch ungelöste Aufgaben und unentschiedene Perspektiven gegenüber, wenn wir den Stand in jedem Land für sich genommen beurteilen. Valter Pomar, der Exekutivsekretär des Forums von São Paulo, Mitglied des Nationalrates der PT Brasiliens, kam daher auf einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstalteten Konferenz in Brüssel (Juni 2010) über die Ergebnisse linker Regierungspolitik zu der Einschätzung, dass die seit 1998 vollzogenen gesellschaftlichen Wandlungen durch linke Regierungspolitik noch oberflächlicher Art sind: "Qualitativ gesehen ist der Gesamtprozess in Lateinamerika bedeutungsvoller als das, was in jedem einzelnen Land im Gange ist. In gewissem Maße zeigt uns das auch, dass der Transformationsprozess einen potentiell eher antiimperialistischen (oder national-kapitalistischen oder antineoliberalen) als sozialistischen Inhalt hat."(1) Den politischen Veränderungen sind noch nicht tiefgehende sozialökonomische Veränderungen (in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse, Prozesse der Produktion und Zirkulation, Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, Steuerreformen, Agrarreformen) gefolgt, die eine Entwicklungsrichtung auf tatsächliche Überwindung der sozialen Ungleichheit deutlich erkennen lassen. Diese Einschätzung verweist auf die Grenzen transformatorischer Prozesse unter den heutigen inneren Kräfteverhältnissen und globalen Bedingungen, aber auch auf die Notwendigkeit, diese Grenzen - im Einklang mit der Entscheidung der Mehrheit der Bevölkerung - weiter zu verschieben und die transformatorische Politik daraufhin zu prüfen, wie Pomar sagt, "inwieweit die Regierungsausübung den arbeitenden Klassen Macht überträgt und inwieweit sie die Struktur der Gesellschaft so verändert, dass die Hegemonie der Bourgeoisie verringert wird"; nicht zuletzt ist dabei ein Kriterium, ob die Veränderungen bei einem möglichen Wahlsieg der Rechten wieder rückgängig gemacht werden können oder nicht. Die Weiterführung dieser Prozesse erfordert aber auch eine internationale Entlastung durch stärkere Einwirkung der progressiven Kräfte in der Welt auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen.

Die neuen Regierungen sind zustande gekommen aus der Übereinstimmung breiter gesellschaftlicher Kräfte über die Notwendigkeit eines politischen Richtungswechsels in der Führung des jeweiligen Landes. Sozialer Ausgleich und Überwindung von Marginalisierung, Demokratie neuen Typs (Basis-, partizipative, kommunitäre Demokratie), wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit, Sicherung der nationalen Souveränität waren die verbindenden Programmpunkte, die breite gesellschaftliche Zustimmung fanden; es sind Mehrklassenprojekte, der daraus abgeleiteter Konsens, zu einem neuen Gesellschaftsmodell überzugehen, ist bisher mehrdeutig ("Kapitalismus mit humanem Antlitz", Staatskapitalismus, "dritter Weg", "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" oder mit kommunaler Prägung …) und nicht durch ideologische Übereinstimmungen geprägt, sondern durch die reale Konfrontation mit den bisherigen Machtverhältnissen und Entwicklungsschranken. Die theoretische Verarbeitung dieser Erfahrungen folgt mehr oder weniger der Praxis nach und bleibt bis heute im Stadium des Suchens. Es handelt sich um Entwicklungsprozesse ohne Vorbilder, wenn auch zahlreiche historische Erfahrungen aufbereitet werden können. Alle diese Prozesse sind nach vorn hin offen und reversibel, Bedrohungen für den progressiven Kurs nehmen zu. Betrachtet man die tatsächlich ablaufenden Prozesse, so wird sichtbar, dass die Bourgeoisie in allen diesen Ländern durch die letzten Jahre der Prosperität an Wirtschaftsmacht gewonnen hat. Die globalen Machtverhältnisse und Entwicklungstendenzen sind in jedem Fall mitzudenken; das fehlt vielfach bei der Beurteilung der Ergebnisse linker Regierungstätigkeit, vor allem in Europa. Die ökonomische Hegemonie der USA ist auch in Ländern wie Venezuela (Erdölhandel) und Ekuador (Dollarisierung) nicht gebrochen. Zugleich bleiben die Rechtskräfte, gestützt auf ihre ökonomische und Medienmacht, aktiv und sammeln Erfahrungen mit neuen Formen des Umsturzes (Honduras, Paraguay) und des demagogischen Diskurses (Venezuela). Zwischen der Amtsübernahme neuer Regierungskräfte und der Herausbildung neuer politischer Machtverhältnisse kann kein Gleichheitszeichen gesetzt werden, und es fehlt noch weitgehend die ökonomische Basis für die Herausbildung neuer gesellschaftlicher Beziehungen. Es gibt überzogene Erwartungen und Enttäuschungen, partikulare Interessen bestimmter Gruppen, Missgriffe in der Regierungsführung. Alles das bildet ein weites Feld für Konflikte auch innerhalb der progressiven Kräfte und in ihrer Massenbasis. Diese Auseinandersetzungen nehmen in der letzten Zeit zu. Die Kräfte differenzieren sich.

Für die Bedeutung dieser Umgestaltungsprozesse spricht, dass Unterstützer, Kritiker und Gegner sich auch international formiert haben und in die Diskussion einbringen. Zu den am meisten umstrittenen Problemen gehören die Stellung des Staates im Entwicklungsprozess, seine Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung sowie die Nutzung des vorhandenen alten Staatsapparates für revolutionäre Veränderungen und sein Verhältnis zur Eigenaktivität der Organisationen der Bürger. In den starken Staatsbetrieben und in staatlichen Institutionen Venezuelas bilden sich, wie Aktivisten der Basisbewegungen warnen, im Management neue probourgeoise Kräfte heraus, die sog. Bolibourgeoisie, die sich bereichern und der Vertiefung der Revolution entgegenwirken. Hugo Chávez forderte deshalb in seiner letzten programmatischen Rede, als er einen "neuen Zyklus der bolivarischen Revolution" ankündigte, "das Steuer herumzureißen". Er sah die Aufgaben vor allem in der Stärkung der Demokratie und Selbstverwaltung in der Produktion, in Verbindung mit kulturellen Veränderungen, der Durchsetzung einer "neuen demokratischen Hegemonie", gestützt auf die Kommunen als Volksmacht, "den sozialen Rechts- und Gerechtigkeitsstaat".(2) In der Kritik steht auch die Fortsetzung der ererbten und durch die neoliberale Periode zugespitzten Ausrichtung der Wirtschaft auf die Devisenerwirtschaftung durch Rohstoffexporte, der sogenannte Extraktivismus, wobei zumeist das Bemühen um den Aufbau der ersten Stufen verarbeitender Industrien und den Ausbau der Infrastruktur außer acht gelassen werden bzw. ebenfalls auf Kritik stoßen, da sie häufig Umweltzerstörungen mit sich bringen. Obgleich noch keine Rede davon sein kann, dass ein Ausbruch dieser Länder aus dem kapitalistischen System im Sinne oben genannter Orientierungen in Angriff genommen wurde, kann man doch die verschiedensten Schritte zur Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse beobachten, im Maße und in Wechselwirkung mit der Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse und in Abhängigkeit vom Grad der kapitalistischen Durchdringung der Gesellschaft. Zu solchen Schritten, unterschiedlich in den einzelnen Ländern, kann man die Förderung des Genossenschaftswesens und der kommunalen Wirtschaft, die ersten Versuche einer Arbeiterselbstverwaltung in aufgegebenen Betrieben, Agrarreformansätze und die Rückgabe von Gemeindeland, die (Re-)Sozialisierung der öffentlichen Güter und der existentiellen Dienstleistungen, die Einschränkung von wirtschaftlicher Macht wie durch das Mediengesetz in Ekuador zählen. Ihre Entwicklung und ihr transformatorisches Potential, nicht ihre Begrenztheit oder Unzulänglichkeit sollte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der internationalen Linken stehen.

In den Konflikten, mit denen diese Länder ringen, zeigen sich mit aller Deutlichkeit die Probleme, Widersprüche und Herausforderungen, die diesen Konzepten einer schrittweisen Umgestaltung von Machtverhältnissen und eines Übergangs zu einer gerechten, solidarischen postkapitalistischen Gesellschaft in offener demokratischer Auseinandersetzung innewohnen, innerhalb eines globalen Umfeldes, das diesem Wandel feindlich ist. Die Langfristigkeit der angestrebten Umgestaltungsprozesse darf nicht unterschätzt werden. Valter Pomar unterstrich: "Angesichts dieser Situation kämpft die lateinamerikanische Linke darum, die eroberten Räume zu behaupten, den Prozess der regionalen Integration zu beschleunigen und die Veränderungen zu vertiefen. Die praktische Frage besteht darin, wie man zwei Fehler vermeiden kann: der eine ist, zu versuchen, über unsere Kapazität zur Abstützung des politischen Prozesses hinauszugehen, der andere besteht darin, nicht alles Notwendige zu tun, um Kräfte in Richtung auf den Sozialismus zu sammeln."(3)

Anmerkungen

(1) V. Pomar in: Fundación Rosa Luxemburgo, Bruselas, América Latina en marcha - ¿y Europa? La izquierda en el gobierno - comparando América Latina y Europa. Documentación de la segunda conferencia en Bruselas, 27-29 de junio 2010, Ed. Birgit Daiber (span.)

(2) Das Steuer herumreißen. Letzte programmatische Rede von Venezuelas verstorbenem Präsidenten Hugo Chávez (am 20. Oktober 2012), deutsche Übersetzung in: amerika21.de/analyse/81879/golpe-de-timon

(3) V. Pomar, a.a.O.