Vielfalt entwickeln und verteidigen
DIE LINKE, das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Religion
Ein Positionspapier der Kommission Religionsgemeinschaften, Weltanschauungsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft. (April/Mai 2018)
1. Vielfalt in Pluralität gegen Leitkultur und Abendland
Religion fordert zum Streit und zur Debatte heraus, Konflikte werden kontrovers ausgetragen. Fragen werden gestellt wie: Wie halten wir es mit religiösen Feiertagen und sollte es mehr weltanschauliche Feiertage geben? Sollen in staatlichen Einrichtungen Kreuze hängen? Dürfen Lehrerinnen in der Schule ein Kopftuch tragen? Wie ist mit der religiös motivierten Beschneidung von Jungen und Männern umzugehen? Welche Rechte umfasst das Sonder-Arbeitsrecht der Kirchen und für wen? Wie sollen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften finanziert werden? Beispiele dieser Art ließen sich fast beliebig hinzufügen.
Das Interesse an diesen Fragen zeigt, dass Deutschland durch die Wiedervereinigung säkularer und religionspluraler geworden ist.
Wie soll man angemessen mit dieser Vielfalt an Weltanschauungen und Religionen umgehen, die in Ost- und Westdeutschland eine unterschiedliche Geschichte haben? Welche Rolle spielen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften angesichts der immer härteren Kämpfe um die Bewahrung von Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit? Wie sollten sie in ihren Gemeinschaften wirken und wie darüber hinaus in die Gesellschaft hinein? Welche Konsequenzen sollte dies für das Verhältnis zwischen den staatlichen Institutionen und dem Staat insgesamt mit den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben?
Für die Rechte ist die Antwort auf diese Fragen die Forderung nach einer Leikultur oder die Verteidigung dessen, was sie "Abendland" nennt. Thomas de Maiziere überschrieb seine Antwort auf diese Frage mit "Wir sind nicht Burka" – gemeint ist damit, weil "wir Papst sind", wie die BILD titelte. Von Pegida, der AfD, der Identitären Bewegung, aber auch der CSU tönt es "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" – gemeint ist damit, weil "wir Abendland sind". Sie fragen nicht danach, wie wir mit Pluralität umgehen und die Gesellschaft entwickeln können, sondern grenzen mit ihren Antworten aus. Sie werden weder der realen weltanschaulich und religös pluralen Situation in Deutschland gerecht, noch geltendem Recht. Diese neue Pluralität muss demokratisch und solidarisch gestaltet werden. Toleranz ist mehr als das bloße Nebeneinander, sie muss zur Anerkennung führen.
2. Religion als Privatsache
Die vor allem in der gesellschaftlichen Linken zu findende Antwort ist die Formel "Religion ist Privatsache". Das ist richtig in dem Sinne, dass jeder und jede für sich privat entscheiden kann, ob und zu welcher Religion oder Weltanschauung er oder sie sich bekennt und ob und in welcher Form er oder sie das gezeigt zeigen möchte.
Die Formel "Religion ist Privatsache" seit dem SPD-Parteiprogramm von Gotha (1875) eine zentrale Forderung der gesellschaftlichen Linken, hat aber späterhin einen wichtigen Bedeutungswandel erlebt. Die Formel sollte einen innerparteilichen Streit schlichten: Religion ist Sache innerer Überzeugung, nicht Parteisache, nicht Staatssache. Erst später wurde aus dem Abwehrrecht, dass die eigene religiöse Überzeugung weder die Partei noch dem Staat etwas angehe, das Prinzip, Religion aktiv aus dem öffentlichen Raum heraus zu drängen. Mit atheistischen Begründungen wurden die Ansätze für Religionsfreiheit und Toleranz im Stalinismus zerstört. DIE LINKE ist dagegen weder religiös noch antireligiös, sie ist keine Weltanschauungspartei, heißt es im Erfurter Grundsatzprogramm von 2011 und weiter: "Wir stellen uns unserer historischen Verantwortung und haben die Lehren aus dem in der DDR begangenen Unrecht gegenüber Gläubigen gezogen."
Wir knüpfen an Rosa Luxemburg an, die in ihrem Werk "Kirche und Sozialismus" 1905 den widersprüchlichen Charakter der Religion herausarbeitete: "Die Sozialdemokratie nimmt niemandem seinen Glauben und kämpft nicht gegen die Religion! Sie fordert dagegen völlige Gewissensfreiheit für jeden und Achtung vor jeglichem Bekenntnis und jeglicher Überzeugung. Aber wenn die Priester die Kanzeln als Mittel des politischen Kampfes gegen die Arbeiterklasse missbrauchen wollen, so wenden sich die Arbeiter gegen sie wie gegen alle Feinde ihrer Rechte und ihrer Befreiung." In dieser Tradition eines Kampfes gegen unterdrückende Mächte in der Kirche wie sonst in der Gesellschaft – aber auch mit religiöser Anregung bzw. Grundlegung – sehen sich Linke.
3. Weltanschauungs- und Religionsfreiheit als Menschenrecht
Ein wesentlicher Schlüssel zum Umgang mit den Konflikten ist das Menschenrecht auf "die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses" (Art. 4 GG). Es ist die Antwort auf eine lange und konflikthafte Lerngeschichte im Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt. Das Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (Art. 18), im UN-Zivilpakt (Art. 18) sowie in regionalen Systemen des Menschenrechts wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9 Abs. 1 EMRK) und in Art. 4 Grundgesetz verankert.
Ergebnis dieser immer noch nicht abgeschlossenen Lerngeschichte ist es, die Vielfalt unterschiedlicher, konflikthafter und widersprüchlicher Lebensformen zu gestalten. Maßstäbe dafür sind der Zugewinn an Freiheit in der Selbstbestimmung einer und eines jeden, die Stärkung des solidarischen Zusammenhalts und die Förderung demokratischen gesellschaftlichen Engagements.
Die Religionsfreiheit schützt vor allem die Freiheit des Menschen, sich religiös und weltanschaulich selbst zu bestimmen und danach zu leben. Die Grenzen dieses Freiheitsrechts liegen dort, wo dieses Recht in einen Widerspruch zur freien Selbstbestimmung anderer Menschen gerät. Konflikte kann es geben, wo dieses Menschenrecht andere grundlegende Menschenrechte berührt, wie etwa das Recht auf Bildung, auf körperliche Unversehrtheit, die Verhältnisse zum weltanschaulich neutralen Staat. Die Religionsfreiheit erlaubt es, diese Konflikte religionsverfassungsrechtlich einzuhegen und demokratisch auszutragen.
4. Menschenrechte und Emanzipation
Die Linke ist eine Emanzipationsbewegung. Sie will die Menschen von Unterdrückung, Zwang und Abhängigkeit von vorgegebenen Mächten und Zwängen befreien. Im Zentrum stehen dabei diejenigen, deren Freiheitsrechte und Entwicklungsmöglichkeiten gesellschaftlich eingeschränkt sind, die von ökonomischer, politischer und kultureller Ausgrenzung und Diskriminierung bedroht werden bzw. sind. Deshalb sind für sie die Menschenrechte und ihre Durchsetzung von zentraler Bedeutung. Die Linke will Freiheitsräume schaffen, damit jeder Bürger, jede Bürgerin wissen, annehmen oder glauben kann, was er oder sie meint. Voraussetzung dafür ist, dass Menschen ihre weltanschaulichen bzw. religiösen Überzeugungen privat und öffentlich ausdrücken, ihr Leben nach ihren Überzeugungen gestalten und die Gesellschaft verändern können. Die Religionsfreiheit enthält drei Dimensionen: individuelle Freiheit zum Glauben (positive Religionsfreiheit), individuelle Freiheit vom Glauben (negative Religionsfreiheit) und die gesellschaftlich-kollektive Freiheit, den Glauben öffentlich und sichtbar zu leben. Diese drei Dimensionen sind unteilbar und gehören zusammen. Die Linke setzt sich auf dieser Grundlage dafür ein, dass sich Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften aktiv und konstruktiv in der Gestaltung einer gerechten, demokratischen, friedensorientierten humanen Ordnung einbringen und Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und jede andere Form von Rassismus, Autoritarismus, Intoleranz in ihren eigenen Reihen und in der Gesellschaft als Ganzer bekämpfen.
5. Laizistische und pluralistische Säkularität
Die Religionsfreiheit beruht auf der gleichen Achtung vor der Gewissensfreiheit einer und eines jeden, der weltanschaulichen Neutralität des Staates sowie auf der Trennung von Staat und Religion. Die Trennung von Staat und Religion ist in zwei Weisen möglich, die klar voneinander zu unterscheiden sind: Die eine lässt sich als laizistische Version der Säkularität nach dem französischen Modell bezeichnen, die andere als Laizismus oder – eindeutiger formuliert – als pluralistische Säkularität.
Die französisch-laizistische Version entstammt einer spezifischen Konfliktkonstellation in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts, als sich der französische Staat gegen die Übermacht einer anti-aufklärerischen und anti-republikanischen katholischen Kirche wehrte. Diese laizistische Version der Säkularität stellt die positive Religionsfreiheit als Freiheit zur Religion und der Freiheit, diese gemeinschaftlich und öffentlich zu leben, zurück hinter die negative Religionsfreiheit als Freiheit von der Religion. Der Staat gibt mit dieser laizistischen Version der Säkularität der Trennung von Kirche und Staat und seine Neutralität auf und wird zu einem laizistischen Konfessionsstaat. Indem er Partei für eine Weltanschauung bzw. Religion ergreift, gerät er in einen Widerspruch zum Neutralitätsgebot des säkularen Staates und bedroht in letzter Konsequenz das Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Diese laizistische Version der Säkularität war die Antwort auf einen Konflikt zwischen der katholischen Kirche und dem Staat zu einer bestimmten Zeit und unter spezifischen nationalen Bedingungen. Die laizistische Version der Säkularität will Religionskonflikte dadurch lösen, dass sie Religion aus der Öffentlichkeit ausschließt, erzeugt dadurch aber neue Religionskonflikte.
Die pluralistische Säkularität dagegen organisiert einen im Idealfall Freiraum für Vielfalt und die freie Selbstbestimmung, in dem sich die Menschen mit ihren Überzeugungen offen begegnen und mit Pluralität umgehen können: LaizistInnen und Frommen, AtheistInnen und KonvertitInnen, SkeptikerInnen und AgnostikerInnen gemeinsam in einer Gesellschaft.
Unsere Antwort auf diese Herausforderung einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft ist eine pluralistische Säkularität, die die Vision einer solidarischen Welt lebt, in der viele Welten und Anschauungen über sie Platz haben.
6. Pluralität in der Zivilgesellschaft
Ein weltanschaulich und religiös neutraler Staat muss von den Religionen getrennt sein, doch das schließt keineswegs eine Kooperation auf der Basis der Trennung aus, sondern erfordert sie geradezu.
In einer demokratischen Gesellschaft hat der Staat nicht das Monopol des Politischen inne, sondern ist wesentlich auf die Beiträge der zivilgesellschaftlichen Organisationen angewiesen, muss ihnen Raum lassen und diese Raum auch aktiv schaffen. Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind mit anderen Trägern der Zivilgesellschaft konstitutiv für eine lebendige Demokratie. Sie in den privaten Raum abdrängen zu wollen, würde die Zivilgesellschaft schwächen und den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verweigern, einen Beitrag zur Zivilgesellschaft und zum demokratischen Diskurs einzubringen.
Da der Staat verfassungsrechtlich für alle Religionen und Weltanschauungen offen ist, muss er auch Pluralität achten, schützen und erfüllen. Eine Privilegierung der christlichen Kirchen ist verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch nicht zu legitimieren. Die Wiederentstehung jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 und vor allem nach 1990 begrüßen wir. Auch islamische Gemeinschaften sowie andere Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften müssen einen mit den christlichen Kirchen und jüdischen Religionsgemeinschaften gleichberechtigten Platz einnehmen können.
7. Die Religionspolitik der LINKEN in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen
DIE LINKE positioniert sich in einer Situation, in der die Religions- und Weltanschauungsfreiheit von rechts in Frage gestellt wird. Sie steht für eine Trennung von Staat und Religion, für die Religionsfreiheit und positioniert sich in den Auseinandersetzungen und Kulturkämpfen, die in der Gesellschaft, aber auch innerhalb der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ausgetragen werden. DIE LINKE setzt sich dafür ein, dass sich alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften aktiv für eine demokratische, solidarische und friedliche Gestaltung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, der EU und darüber hinaus einsetzen können.