Depression ist kein Modewort
Beschluss des Bundesausschusses vom 7. Mai 2021
"Ich kann auch gut verstehen, dass man verrückt wird
Wenn man daran denkt, dass man sein Leben lang nur schuftet
Und wer irgendwann nicht krank wird vor Gedanken
Ist am Ende vielleicht kränker als die angeblichen Kranken"
Antilopen Gang, Patientenkollektiv
Psychische Krankheiten sind ein Thema, das in unserer Gesellschaft viel zu häufig gemieden wird, dabei sind die Entwicklungen fatal. So geht beispielsweise die Stiftung Deutsche Depressionshilfe von ca. zwei von Depressionen betroffenen Kindern pro Klasse aus. Während der Corona-Krise verschlimmerte sich die Situation noch einmal. Beengte Räume, Isolation und schulischer Druck sorgten für eine Verdopplung des Risikos für psychische Auffälligkeiten. Auch Erwachsene sind betroffen. So liegt laut einer Schätzung der WHO die Zahl an Depressionen Erkrankter bei 4,2 Millionen und an Angststörungen erkrankter Menschen in Deutschland bei 4,6 Millionen [1].
Das bestehende System setzt uns immer wieder unter enormen Leistungs- und Anpassungsdruck. Hält man nicht mit oder bricht man unter diesem zusammen, beginnt für die Betroffenen oft das Rad der Selbstzweifel, Kraftlosigkeit und nicht selten der Isolation. Deshalb dürfen wir das wirtschaftliche und gesellschaftliche System in dem wir leben nicht außen vorlassen, wenn wir über die Ursachen psychischer Krankheiten sprechen. Traumatische Erfahrungen wie Flucht, innerfamiliäre Katastrophen, Mobbing oder sexuelle Gewalt, sind weitere Auslöser psychischer Erkrankungen. Es gilt also, wo das möglich ist, auch die Ursachen psychischer Krankheiten zu bekämpfen, aber stets mit dem Bewusstsein, dass es auch Faktoren gibt, die außerhalb des Politischen liegen und bei denen nur gut ausgebaute psychologische Betreuungsangebote helfen können.
Stigmatisierungen und Verharmlosung verhindern-Aufklärung und Sensibilisierung leisten
Ein enormes Problem im Umgang mit psychischer Gesundheit ist die Stigmatisierung Erkrankter und die Verharmlosung der Krankheitsbilder. Depressionen beispielsweise gehören nicht nur zu den häufigsten, sondern mit Blick auf ihre Schwere auch zu den am meisten unterschätzen Krankheiten. Oft werden psychische Krankheiten zu spät erkannt, da sowohl die breite Kenntnis über die Symptomatik fehlt, als auch das Eingeständnis des aus der Rolle Fallens als Leistungsträger schwer ist. "Ich darf keine Schwäche zeigen" ist in vielen Menschen ein tief verankertes Mantra, dass sie Symptome ignorieren oder umdeuten lässt und dem nur mit umfassender Aufklärung entgegengetreten werden kann. Durch mangelnde Sensibilisierung beim Thema psychische Gesundheit werden Symptome auch vom persönlichen Umfeld als "kleines Motivationsproblem" oder "Wehwehchen" abgetan und psychisch Kranke im schlimmsten Fall immer weiter abgeschottet. Aber genau dieser Verlust von sozialem Austausch und Struktur verschlimmert die Symptome meist noch. Auch die Stigmatisierung dieser Krankheiten, bspw. durch die Reduzierung Betroffener auf ihre Krankheit, ist ein großes Problem, da Betroffene dadurch seltener über ihre Krankheit sprechen. Ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation der Betroffenen muss also eine stärkere Sensibilisierung des Themas in Schule, Betrieb und Gesellschaft sein, deshalb fordern wir:
- umfassende, regelmäßige, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierte Informationskampagnen für die breite Öffentlichkeit und Unternehmen, sowie eine regelmäßige Evaluierung dieser, um die Effektivität zu verbessern und ein Verkommen als Werbemittel zu verhindern.
- die Verankerung der Aufklärung über psychische Krankheiten im Lehrplan
- Präventiv: Resilienz und Umgang mit psychischem Druck als verpflichtender Teil des Lehrplans oder in Betrieben als Fortbildung und Ähnlichem
Schulen unterstützen!
Pubertät, Mobbing und Leistungsdruck: Schulen sind häufig ein Ort, der mit besonders hohen psychischen Belastungen verbunden ist. Kein Wunder sind depressive Symptomatiken in keiner Altersgruppe in Deutschland so weit verbreitet, wie bei den 18-29-Jährigen[2]. Lehrer sind häufig selbst enormen Belastungen ausgesetzt oder erkennen nicht, dass "etwas nicht stimmt". Für die Schüler beginnt so häufig ein zunächst lange unbemerkter Leidensweg. Deshalb benötigen Schulen nicht nur mehr Aufklärung, sondern auch ganz praktische Maßnahmen, um ein funktionierendes Zusammenspiel aus Schülern, sensibilisierten Lehrern und Psychologen zu ermöglichen. Hierfür ist Folgendes nötig:
- Weitere Sensibilisierung von Lehrkräften auf diese Thematik hin bspw. über Weiterbildung. Hier sollte auch Bezug auf den Leistungsdruck in der Schule und dessen Wirken auf psychische Krankheiten beleuchtet werden. Hier muss es möglich sein, individuell auf die Schüler einzugehen und zu entlasten. Aber auch eine Entlastung der Lehrkräfte muss angegangen werden, dass sie überhaupt die Möglichkeiten haben zu helfen, denn auch Lehrer sind durch zu große Klassen und Unterbesetzungen des Kollegiums, sowie fachfremden Unterricht oft in einem Teufelskreis gefangen
- ein Konzept für Schulen zum Umgang mit psychischen Erkrankungen, das von einem Expertengremium erstellt werden soll und sowohl Betroffene als auch Umfeld miteinbeziehen soll
- Sichere und erreichbare Ansprechpartner
- Um eine Betreuung auch gewähren zu können, muss der Betreuungsschlüssel steigen, um die Zahl der Schulpsychologen zu erhöhen und so mehr Förderung, Antimobbingaktionen, Klassenbesuche zu ermöglichen und nicht zuletzt die teilweise ewigen Wartezeiten zu verkürzen
- Familiencoachings für Familien von psychisch erkrankten Jugendlichen als Krankenkassenleistung aufzunehmen
Zusammenhänge erkennen-Arbeitswelten umgestalten
Dutzende Überstunden, ständig auf Abruf, Kurzarbeit: Das alles sind Faktoren, die den Arbeitsalttag vieler Menschen heute maßgeblich bestimmen und zu einer neuen Normalität herangewachsen sind. Stress und Druck bleiben nicht die einzigen Folgen, auch die Zahl psychischer Krankheiten steigt und Burnout mutiert zur neuen Volkskrankheit. Das gleiche bewirkt die Arbeitsverdichtung und die zu dünne Personaldecke im öffentlichen Dienst, die auch zu enormer mehr Belastung für Pfleger führt und die Behandlung der Patienten verschlechtert. Die Unsicherheit, Überlastung und fehlende Planbarkeit im Rahmen der gnadenlosen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sorgen bei in Leih- und Kurzarbeit Beschäftigten zu einer Verschlimmerung von psychischen Krankheiten[3]. Eine langfristige Maßnahme sollte, deshalb endlich die Abschaffung von Leiharbeit sein. Kurz- und Mittelfristig halten wir folgende Maßnahmen für sinnvoll:
- eine Anti-Stress-Verordnung, um Überbelastungen vorzubeugen und zu besserem Stress-Management zu verhelfen
- regelmäßige Kontrollen durch die Gewerbeaufsichtsämter
- erzwingbare Mitbestimmungsrechte bei Fragen der Gestaltung und Organisation der Arbeit, um beispielsweise bei Arbeitsverdichtung und Personalmangel aktiv werden zu können. Auch mehr Einfluss auf wirtschaftliche und strategische Ausrichtung muss Teil dieser Mitbestimmungsrechte werden
- eine verbindliche, bundesweit einheitliche Personalbemessung für Krankenhäuser, ambulante Versorgung, Pflegeheime und häusliche Pflege. In diesem Zusammenhang muss auch die Attraktivität dieser Berufe durch höheren Lohn und höhere Besetzung gesteigert werden. Fachkräfte dürfen in diesem Bereich keine Mangelware bleiben!
- das Ende von 40h plus Arbeitswochen (30-Stunden-Wochen bei vollem Lohnausgleich einführen)
- eine klare Trennung von Arbeits- und Freizeit, sowie eine Verminderung der Wochenend- und Schichtarbeit auf ein unvermeidbares Ausmaß. Hilfereich kann hier bspw. auch sein, tägliche Schichtwechsel zu vermeiden, um den Biorhythmus zu schonen
Von der Diagnose bis zur Behandlung-Möglichkeiten ausbauen!
Aber nicht nur was den gesellschaftlichen und schulischen Umgang mit psychischen Krankheiten angeht, liegt einiges im Argen, sondern auch im Rahmen der akuten Behandlung. Oft dauert es nicht nur Monate bis eine Diagnose vorliegt, sondern auch die Wartezeit für eine ambulante Behandlung streckt sich häufig. Bis man zu einer Sprechstunde vorgedrungen ist, dauert es häufig 4 Wochen, die Auswahl ist klein und die Wege häufig sehr lang. Der Zugang zu weiteren Stundenkontingenten bei anhaltenden Symptomen ist häufig schwierig. Besonders für gesetzlich Versicherte gibt es häufig einfach nicht genug Behandlungsplätze, da die Quote an Psychotherapeuten und Psychologen zu niedrig ist. Um diesen Problemen entgegen zu treten, fordern wir daher:
Mehr Aufklärung darüber, wie man an eine Sprechstunde kommt und welche Möglichkeiten man dafür hat
verpflichtende Stellen, gemessen an der Zahl der Mitarbeiter, für öffentliche Einrichtungen mit einem attraktiven Lohn. mehr öffentliche Beratungs- und Vermittlungsstellen für Betroffene die bedarfsorientierte Erhöhung, der Anzahl an psychiatrischen Kliniken und Therapeuten, auch mit Blick auf Angebote für nichtdeutsche Muttersprachlern die Verkürzung der Wartezeit für eine fortlaufende ärztliche oder psychotherapeutische Ambulante Behandlung psychischer Erkrankungen
Rechte von Betroffenen stärken!
- Psychisch Erkrankte haben aber leider nicht nur mit ihrer Krankheit und schlechter Versorgung zu kämpfen, sondern auch mit einer teilweise unsicheren und diskriminierenden Rechtslage. Ein häufiges Problem ist hier unter anderem, dass Patienten die Akteneinsicht verwehrt werden. Die Aberkennung solch elementarer Grundrechte ist nicht vertretbar, hier braucht es dringend Hilfe. Aber auch im Allgemeinen müssen Psychisch Erkrankte besser über ihre Behandlung und ihrer Rechte informiert werden. Wichtig ist daher: umfassende Aufklärung der Patienten über ihre (Selbstbestimmungs-)Rechte, sowie Schulungen für Mitarbeiter psychiatrischer Kliniken zu diesem Thema
- Assistenz für Menschen mit psychischen Erkrankungen, so dass nicht immer gleich eine Betreuung eingerichtet wird Bedarfsdeckende Beratungen für psychisch Erkrankte und deren Familie, durchgeführt durch den lokalen SPDi (Sozial Psychiatrischer Dienst) und häufigere Hinweise auf diesen Ausbau des ambulanten Hilfesystems insbesondere durch Krisendienste, die täglich 24 Stunden erreichbar sind, zur Krisenbewältigung vor Ort kommen und eine Krisenpension anbieten für alle Menschen in psychischen Krisensituationen Leitliniengerechte Behandlung der psychischen Erkrankungen muss in jedem Fall erfolgen, Patienten müssen dazu aufgeklärt, Fachkräfte geschult und verpflichtet werden Psychotherapeutische Leistungen müssen allen unabhängig vom Versichertenstatus zur Verfügung stehen eine Aufnahme von Verständigung in einer nichtdeutschen Muttersprache als Krankenkassenleistung
Psychiatrie mit genügend Personal und ohne Zwang!
Bereits 2018 schlugen Beschäftigte der Psychiatrien während der Ver.di "Aktionstage für Psych-PV plus" Alarm: Die Personalausstattung sei viel zu niedrig und menschliche Psychiatrie bleibe auf der Strecke. Getan hat sich eher wenig. Aber das sorgt nicht nur dafür, dass sich ca. 3/4 aller Beschäftigten in psychiatrischen Einrichtungen nicht vorstellen können dort bis zur Rente zu arbeiten, sondern auch dafür, dass vermeidbare Zwangsmaßnahmen aus Personalmangel trotzdem durchgeführt werden[4]. Um die Situation in den Psychatrien zu beruhigen und die Behandlungen weiterzuentwickeln, halten wir folgende Maßnahmen für nötig:
- mehr Fach- und Pflegekräfte in der Psychiatrie nach einer wissenschaftlich entwickelten Psychiatrie-Personalverordnung. Mindestens sollten die Forderung von Ver.di nach der Psychiatrie-PV-plus realisiert werden[5]
- Schaffen einer neuen Psychiatriereform, die die Kliniken in Einheiten auflöst und Menschen Sicherheit in psychischen Krisensituationen anbietet, ohne sie gleich stark medikamentös zu behandeln. Stattdessen sollte es ein größeres Angebot an Psychotherapie, Soteria, Open Dialog und Ähnlichem geben
- Reduzierung bis zur Abschaffung aller Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen und somatischen Kliniken
Veränderung fängt bei uns an!
Auch in unserem parteiinternen Zusammenleben achten wir darauf, Genossen mit psychischen Krankheiten nicht nur eine Teilhabe an der Parteiarbeit zu ermöglichen, sondern diese auch möglichst einladend zu gestalten und wenn nötig Strukturen anzupassen oder zu verändern. Gemeinsam wollen ein gesellschaftliches Umdenken anstoßen! Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen sollen statt gebrandmarkt zu werden, in der Partei Die Linke. ihren individuellen Platz finden können.
Anmerkungen
[1] Ärtzteblatt, 27.Februar 2017 "WHO: Millionen leiden an Depressionen"
[2] RKI, 2013 "Prävalenz von depressiver Symptomatik und diagnostizierter Depression bei Erwachsenen in Deutschland"
[3] Ärztezeitung, 14.3.2012 "Leiharbeit geht auf die Gesundheit"