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Martin Schirdewans Rede auf dem Bundesparteitag 2024

Martin Schirdewan: "Höchste Zeit für einen sozialen Politikwechsel!

Liebe Genossinnen und Genossen,

vor vielen Jahren, nämlich 2009, hab ich mal für ein paar Wochen in Halle gewohnt. Wegen des Bundestagswahlkampfes. Ich hab damals für Roland Claus gearbeitet, dessen Wahlkreis war der schöne Burgenlandkreis – nicht weit von hier entfernt.

Und da war ich viel mit Gunther Schneider, dem damaligen Kreisvorsitzenden, unterwegs. Gunther und ich machen also Kilometer um Kilometer, beflyern die Briefkästen, reden mit Leuten und überqueren gerade eine Straße, als uns ein Auto super knapp in ziemlich hohen Tempo den Weg schneidet. Der Fahrer brüllt irgendetwas wie „Euch kriegen wir auch noch“. Das war ein echter Schock. In diesem Jahr, 2009, haben wir bei der Bundestagswahl 11,9 % geholt. In Sachsen-Anhalt 32 Prozent erzielt.

Ich erzähle die Geschichte nicht, um nostalgisch in guten alten Zeiten mit euch zu schwelgen. Klar: Wir müssen uns fragen, was in den 15 Jahren seitdem passiert ist und weshalb wir jetzt in einer so schwierigen Krise als Partei stecken. Aber dazu komme ich gleich. Ich erzähle die Geschichte, weil ich Gunther stellvertretend für alle danken möchte, die sich schon in der Anfangszeit unserer Partei für eine starke Linke ungeachtet der rechten Gefahr engagiert haben. Und ich möchte all denjenigen danken, die sich jetzt trotz einer nochmal angestiegenen Gefährdung durch den wütenden rechten Mob auf den Straßen nicht davon abhalten ließen, für unsere Partei Gesicht zu zeigen. Wie in Thüringen, Sachsen, Brandenburg, bei den Kommunalwahlen und im Europawahlkampf. Aber trotz unseres politischen Widerstandes greift der neue Faschismus in vielen Ländern nach der Macht.

Letzte Woche war Viktor Orban im Europäischen Parlament. Es war eine scharfe Debatte. Die Verächtlichmachung der Demokratie, hemmungslose Angriffe auf Linke und Antifaschisten. Nachdem ich ihm seine antisoziale und autoritäre Politik um die Ohren gehauen habe, hat meine Fraktion den kleinen Diktator  Victor Orban nach seiner Rede in bester Tradition mit bella ciao nach Hause geschickt.

Wer, wie die Ampel, in diesen Zeiten nicht gegen die sozialen Missstände angeht, sondern sogar dem Kampf gegen Kinderarmut eine Absage erteilt, der gehört nicht an die Regierung, sondern in einen Grundkurs Geschichte. Bundeskanzler Scholz und sein Finanzminister Lindner unterwerfen sich der Schuldenbremse. Wirtschaftsminister Habeck verschärft mit seinem politischen Kurs die Rezession. Hunderttausende Jobs sind in Gefahr.  Erst schlafwandeln die in die Krise. Und dann sparen sie in der Krise das Land kaputt. So zerstört man die Zukunft dieses Landes. Kürzungshaushalt und Investitionsbremse: Diese Politik der Ampel ist wirklich politischer Wahnsinn. Die Preissteigerungen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass die Armut in diesem Land über 14 Mio Menschen betrifft. Über 14 Mio konkrete Schicksale. Die oft im Verborgenen bleiben.

Armut, das ist der Rentner, der hart gearbeitet hat und trotzdem sein Leben lang nur mit viel zu niedrigen Löhnen abgespeist wurde, weil andere sich mit seiner Arbeit ne goldene Nase verdient haben. Und der sein Alter nicht in Würde, sondern mit Nebenjobs oder Flaschensammeln verbringt. Damit muss Schluss sein. Wir brauchen höhere Löhne, aber vor allem ein Rentensystem, in das alle Erwerbstätigen einzahlen. Armut, das ist auch die alleinerziehende Mutter, die ihrem Kind im Sommer nicht die Kugel Eis kaufen kann, weil sie jeden Euro zusammenhalten muss, weil schon wieder die Mieterhöhung von Vonovia reingeflattert ist.

Deshalb heißt es völlig zu Recht: Deutsche Wohnen und CO enteignen. Ja klar wollen wir die enteignen, was denn sonst? Weil die Miete bezahlbar sein muss, verdammt nochmal. Die Politik unter dieser Regierung ist grundfalsch. Es braucht einen sozialen Politikwechsel, Investitionen in strategische Industrien, in die Infrastruktur und die öffentliche Daseinsvorsorge. Damit das Kind sein Eis bekommt und nicht in Armut aufwachsen muss, damit der Rentner nicht mehr Flaschen sammeln muss.

Doch einig ist sich die Ampel nur darin, In Aufrüstung zu investieren und die Großaktionäre von Rheinmetall weiter zu mästen. Einig sind sich Scholz, Lindner und Habeck auch darin, dass sie Sündenböcke brauchen für diese falsche Politik. Und deshalb bedienen die diese braunsumpfigen Abschottungsdebatten bis weit in die grüne Partei hinein. Erst gestern hat Ampel im Bundestag ein sogenanntes Sicherheitspaket verabschiedet, bei dem es darum geht, die Grundrechte Geflüchteter einzuschränken. Diese Politik werden wir niemals mitmachen. Diese Politik stärkt nur weiter die extreme Rechte. Aber hilft nicht den Armen, nicht den abhängig Beschäftigten, nicht denjenigen mit wenig Geld, für die wir uns einsetzen.

Die Reichen rührt die Ampel nicht an. Die werden immer reicher und leben in ihren Parallelwelten. Es gibt 249 Milliardäre in Deutschland und dieses Land braucht davon keinen einzigen. Also lasst uns die anständig besteuern und das Geld denen zurückgeben, die es erarbeitet haben. Lasst uns die Milliardäre abschaffen. Ja: Wir sind derzeit als Partei nicht in der Lage, unsere richtige Kritik und unsere richtigen politischen Forderungen in politische Zustimmung zu verwandeln. Ich weiß, wir wollen und werden hier in Halle miteinander nach vorne blicken. Aber ein kurzer Blick in die jüngere Vergangenheit sei mir gestattet.

Zurück in die Jahre vor der Abspaltung durch den rechtsdrehenden Wagenknecht-Personen-Kult: Im Übrigen: die Vertreter des BSW haben Orban euphorisch applaudiert. Die wissen genau, wo sie stehen. Nämlich an der Seite von Orban, Putin und Co. Gebt euch da keinen Illusionen hin. Mehr muss man über diese Mandatsklauer auch nicht wissen und sagen. Diese Trennung hätte früher kommen müssen. Denn die letzten gut zwei Jahre waren innerparteilich vor allem geprägt von der Klärung alter Konflikte. Das hat viel Energie gekostet, das hat unsere gemeinsame Politikfähigkeit zu lange blockiert und wirkt immer noch nach.

Liebe Genossinnen und Genossen, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe mich in den letzten zwei Jahren für unsere Partei ins Feuer gestellt. Und ich rede jetzt nicht vom friendly fire. Auch davon gab es von Anfang an genug. Diejenigen, die sich daran beteiligt haben, haben ganz neue Maßstäbe gesetzt. Nein, ich rede von dem Feuer einer der härtesten Auseinandersetzungen, die diese Partei um ihrer Würde willen jemals geführt hat. Unter dem Brennglas der medialen Öffentlichkeit. Und ja, in einer solchen Situation trägt man auch Wunden davon. Wir haben sicherlich auch Fehler gemacht, aber wir haben da gerade gestanden und das ausgehalten, Janine und ich. Mit euch. Und für die Zukunft dieser Partei.

Und deshalb warne ich davor, dass wir die heutigen Konflikte der Gesellschaft, in einem Gegeneinander in dieser Partei austragen und nicht in einem Miteinander diskutieren. Zu einer neuen innerparteilichen Kultur der Solidarität gehört für mich, dass die Partei das Nebeneinander von Wahrheiten aushält, die manchmal gegensätzlich erscheinen.

Am 9. Oktober hat sich hier in Halle das antisemitische Attentat ereignet, dem zwei Menschen zum Opfer fielen. Ismet hat gestern Abend anschaulich davon berichtet. Er hat uns aufgefordert, sowohl gegen Antisemitismus als auch gegen Rassismus einzustehen. Seit dem 7. Oktober 2023 beschäftigt uns der Nahostkonflikt in der Gesellschaft, auf den Straßen, aber auch in unserer Partei. Es muss in Klarheit formuliert werden, dass die israelische Kriegsführung in Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober offenkundig auch humanitäres Völkerrecht verletzt und es zu Kriegsverbrechen im Gazastreifen kommt. Zehntausende palästinensische Zivilistinnen sind in diesem Krieg getötet worden. Das ist eine absolute Tragödie. Dieser Krieg muss beendet werden. Es braucht einen Waffenstillstand und die sofortige Freilassung aller Geiseln. Einen dauerhaften Frieden in der Region wird es nur mit der Zwei-Staaten-Lösung geben.

Ich sage euch ganz klar, dass unsere Partei selbstverständlich ohne Wenn und Aber gegen jeden Antisemitismus einsteht. Hamas und Hisbollah sind keine Befreiungsbewegungen, dass sind islamistische Terrororganisationen, deren offizielles Ziel es ist, Israel zu vernichten und jüdisches Leben auszulöschen. Und deshalb hat deren mörderischer Antisemitismus keinen Platz in unserer Gesellschaft und schon gar nicht in unserer Partei.

Liebe Genossinnen und Genossen, es wäre zu einfach, die Verantwortung für den Zustand und die schlechten Wahlergebnisse allein in der Vergangenheit abzuladen. Wir haben – und ich nehme mich dabei nicht aus – zu lange mit der notwendigen Erneuerung der Partei gewartet. Unsere Linke hat dann eine Zukunft, wenn sie mit aller Kraft ihre Erneuerung vorantreibt. Organisatorisch, aber vor allem programmatisch. Klimawandel, Digitalisierung, die Frage der Migration, Krieg und Frieden. Die Gesellschaft hat sich verändert und steht vor neuen Widersprüchen.

Ich will euch ein Beispiel geben: Es braucht eine konsequente Ausrichtung der bestehenden Armeen auf Verteidigung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit – so wie es auch in unserem Programm steht. So steht das in unserem Programm. Ich finde, die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie ist überfällig, damit sich nicht irgendwelche dubiosen shareholder von Rheinmetall und Krauss Maffei die Taschen voll machen mit dem mörderischen Geschäft am Krieg.

Selbstverständlich muss unser Antimilitarismus dabei Hand in Hand gehen mit der Verteidigung von Völkerrecht und Menschenrecht. Sonst ist linke Außenpolitik nicht glaubwürdig. Russland hat völkerrechtswidrig die Ukraine überfallen und begeht Kriegsverbrechen in der Ukraine. Russische Soldaten haben nichts in der Ukraine verloren. Aber gerade deshalb müssen wir den Weg in Richtung Diplomatie weitergehen, um aus der militärischen Eskalation wieder herauszufinden. Dafür braucht es eine breite diplomatische Allianz, um wirksam Druck auf Putins Regime auszuüben und den Krieg in der Ukraine endlich zu beenden. Und während alle anderen Parteien nach mehr Stacheldraht an den EU-Außengrenzen rufen, verteidigen wir das Grundrecht auf Asyl. Selbst Familien mit kleinen Kindern werden an den EU-Außengrenzen in Gefängnisartigen Lagern gesperrt. Das ist die bittere Realität, wenn es um Menschenrechte in der EU geht.

Deshalb brauchen wir ein Einwanderungskonzept, das Menschenrechte verteidigt, die soziale Integration in den Kommunen und Städten befördert und Geflüchteten Teilhabe und Arbeit in unserer Gesellschaft ermöglicht. Ich weiß, das ist viel. Und ich weiß, es wird auch viel Arbeit. Aber was für eine sozialistische Partei wären wir, wenn wir zwar die Welt verändern wollen, uns aber vor der Realität drücken und uns nicht selbst ändern können? Dann würden wir unserer historischen Verantwortung nicht gerecht werden. Wir werden uns aber auch thematisch fokussieren müssen. Der Leitantrag führt Beispiele auf. Mieten und bezahlbares Wohnen. Wir wollen einen bundesweiten Mietendeckel, gute Jobs und gute Löhne und wir wollen eine Gesundheitsversorgung, die nicht vom Geldbeutel abhängt. Die SPD verspricht ja jetzt auch höhere Steuern für Reiche mal wieder das Blaue vom Himmel: 15 Euro Mindestlohn, die Reform der Schuldenbremse und Investitionen.

Herr Bundeskanzler Scholz, es ist okay, wenn Sie bei uns abschreiben. Aber zu Ihrer Erinnerung: Sie regieren. Setzen Sie die Dinge doch endlich um, anstatt wieder nur leere Versprechungen zu machen.

Liebe Genossinnen und Genossen, Ihr habt mir in Erfurt euer Vertrauen gegeben und ich verdanke eurer Unterstützung sehr viel. Es war, ist und wird mir eine Ehre bleiben, der Partei in vorderster Reihe zu dienen, diese Verantwortung bis heute als Parteivorsitzender wahrzunehmen. Die Partei hat im letzten Jahr über 10.000 neue Mitglieder gewonnen. Herzlich Willkommen! Eure Energie und die vielen guten Ideen der neuen und aber auch der langjährigen Mitglieder sind ein fantastischer Gewinn für die Partei. Die letzten beiden Jahre waren neben wichtigen Erfolgen in Berlin und Bremen auch von schmerzhaften Wahlniederlagen geprägt. Wir müssen alle Kraft aufwenden, damit unsere Partei wieder bei Wahlen erfolgreich wird. Dafür braucht es mehr als eine Beschwörung der guten alten Zeiten. Eine Flucht in die Orthodoxie oder als BSW light-Kopie wären das Ende.

Unser Ziel muss eine organisatorisch gestärkte, programmatisch erneuerte und strategisch klare sozialistische Partei des 21. Jahrhunderts sein. Wir sind die deutsche Linke. Wir kämpfen in der stärksten Volkswirtschaft in Europa für Gleichheit, Gerechtigkeit, für gute Jobs, gegen Armut. Wir sind bereit für ein gerechtes Morgen. Und darauf können wir verdammt nochmal stolz sein. Dafür haben wir jetzt eine Chance, die wir gemeinsam nutzen sollten. Meinen Nachfolgern wünsche ich Kraft und Glück. Das heißt aber auch: Schluss mit der destruktiven Machtpolitik in unseren eigenen Reihen. Es geht nicht um uns: es geht um die Zukunft der Menschen in diesem Land. Wir wollen dieses Land verändern. Und stemmen uns dabei gegen den Strom. Durch unsere Arbeit auf der Straße und den Betrieben, in der Opposition, in den Parlamenten, in Regierungen. An dieser Stelle möchte ich meinen ganz herzlichen Dank an Bodo Ramelow richten, der als Ministerpräsident einen Hammer-Job gemacht hat.

Zum Schluss: Ein herzlicher Dank an Janine und die Genossinnen und Genossen im Parteivorstand und im Karl-Liebknecht-Haus. Es war eine wilde Zeit. Die Partei hat euch allen viel zu verdanken. Insbesondere geht dieser Dank an Grit, Kajo und Jan meine Mitarbeitern im KLH. Danke für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Und den vielen tausenden Mitgliedern, die unermüdlich für diese Partei und für mehr sozialistische Politik kämpfen, möchte ich sagen: Ohne euch wäre alles nichts. Wir befinden uns in einer historischen Situation. Geht es nach der Ampel weiter so, auf einer steilen Rutschbahn nach rechts? Oder gibt es endlich einen Politikwechsel nach links? Dafür ist entscheidend, ob und wie stark unsere demokratisch-sozialistische Partei dem nächsten Bundestag angehören wird.

Also lasst uns miteinander die Ärmel hochkrempeln und diese Partei wieder auf die Siegerstraße führen. Ich danke euch für alles.