Hannoverscher Parteitag
Reden und Grussworte
Freiheit muss ein soziales Fundament haben
Rede von Gregor Gysi, Präsident der Partei der Europäischen Linken
Liebe Genossinnen und Genossen, verehrte Gäste, zunächst eine Bemerkung zum Bundestagswahlkampf. Wenn man in die Politik geht und für Parlamente kandidiert, muss man zu beidem bereit sein, zum Opponieren und zum Regieren. Auch in der Opposition ist man wirksam, kann man den Zeitgeist verändern. Aber in der Regierung können wir wirksamer und schneller etwas tun für mehr Frieden, zur Überwindung und Beseitigung der Alltagsarmut, zur Überwindung der prekären Beschäftigung und des Niedriglohnsektors, für die Chancengleichheit für Kinder und für die Herstellung der deutschen Einheit, zum Beispiel durch gleiche Löhne für gleiche Arbeit und gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Im Augenblick ist die SPD zwar dabei, diese Möglichkeit zu verduddeln, aber an uns darf die Option nicht scheitern. Ich weiß, dass wir dazu tendieren, 50 rote Haltelinien zu verabschieden, aber ich habe Vertrauen zu unserer Parteiführung und weiß, dass sie diese nicht benötigt. Wer nicht kompromissfähig ist, ist auch nicht demokratiefähig und wer zu viele Kompromisse macht, gibt seine Identität auf. Also gibt es eine ganz einfache Formel: Alle vereinbarten Schritte müssen in die richtige Richtung gehen, sie können nur kürzer sein als wir uns das vorstellen. Aber jetzt haben wir Wahlkampfund streiten für ein wirksames gutes Ergebnis für DIE LINKE und für nichts anderes. Und das im Interesse der gesamten Gesellschaft.
Unser Wahlprogramm stellt fest, die EU sei in einer schweren Krise. Das stimmt. Auf Basis der derzeitigen Konstruktion der EU kommt es zu Massenarbeitslosigkeit, gerade der Jugend in Staaten Südeuropas. Die griechische Bevölkerung leidet unter dem Kurs der Troika und ihrem Spardiktat.
Die Menschen fordern Transparenz, erleben aber Bürokratie.
Die Menschen wollen gefragt werden, spüren aber zu wenig demokratische Mitbestimmung.
Die Menschen suchen nach einer Verbindung aus Humanität und gerechter Lastentragung bei der Hilfe für Geflüchtete. Sie treffen aber auf eine EU, die bei den Migrationsbewegungen völlig versagt.
Kurz: Die europäische Idee verliert die Unterstützung großer Teile der Bevölkerungen. Und das, obwohl sie diese gerade dringend benötigt. Nicht wenige Menschen, gerade im Süden, empfinden die EU sogar als Instrument der Unterdrückung gegen sich selbst. Sie spüren, dass die heutige EU sie nicht freier macht, sondern eher unfrei.
Deshalb müssen wir die Auseinandersetzung mit der EU auch als eine Freiheitsdebatte führen. Wir müssen fragen: Welche Freiheiten kennt die EU? Wir stellen dann fest, dass sie sich im Wesentlichen auf Wirtschaftsfreiheiten beschränkt: Warenverkehrsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Freiheit des Kapitalverkehrs.
Diese Freiheitsrechte haben auch gewisse Vorteile und wir müssen lernen, diese auch anzuerkennen. Sie dienen der Herstellung eines europäischen Binnenmarkts, damit wechselseitigen wirtschaftlichen Verflechtungen, also auch einem Zusammenkommen. Wir aber müssen klar machen, dass die EU unter einem verkürzten Freiheitsbegriff leidet.
Hier muss unsere linke Kritik ansetzen. Die EU gewährt mit ihren formalen Freiheiten Freiheiten für die Starken. Aber rechtlich gewährte Freiheit muss ein soziales Fundament haben. Sonst kann sie nicht ausgeübt werden. Dann verkommt sie zur Freiheit der Wenigen, was zur Unfreiheit für Viele führt. Der EuGH hat soziale Grundrechte in seiner Rechtsprechung schon deshalb kaum berücksichtigt, weil sie bei ihm nicht einklagbar sind. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu unserem Bundesverfassungsgericht. Es gibt verankerte soziale Grundrechte in der EU, aber eher deklaratorisch. Sie müssen verbindlich und einklagbar werden, was zurecht im Entwurf unseres Wahlprogramms gefordert wird. Anderenfalls wird die EU immer ungerechter.
An der Verwirklichung der Freiheit für alle fehlt es dieser EU:
Warum soll ein Grieche die EU verteidigen, wenn er infolge der Troika-Politik schon die x-te Rentenkürzung erhält?
Warum soll eine Griechin die EU verteidigen, die sich ihre Medikamente nicht mehr leisten kann?
Warum soll eine junge Portugiesin die EU verteidigen, wenn sie und die Hälfte ihrer Freundinnen arbeitslos sind?
Die soziale Krise in der EU führt auch zur zunehmenden Spaltung der Bevölkerungen. Die soziale Ungleichheit der Menschen und ihre Ängste werden von den politisch Rechtsextremen ausgenutzt – europaweit.
Wie aber soll eine LINKE mit all diesen Problemen umgehen? Im Kern hat auch sie scheinbar zwei Optionen:
DIE LINKE könnte glauben, die Europäisierung von Rechtssetzung sei an sich ein Problem. Dann wäre es konsequent, die Rückabwicklung dieses Weges zu fordern. Wir kämen dann wieder bei den alten Nationalstaaten an. Sie existierten wieder nebeneinander, weniger miteinander, manchmal vielleicht gegeneinander bis hin zur Möglichkeit von Kriegen. Nein, liebe Genossinnen und Genossen, die Forderung, „Zurück zum alten Nationalstaat“ ist nicht links. Sie ist rechts, sogar extrem rechts.
Wir müssen uns auf das Positive im Bestehenden stützen und die Mängel scharf kritisieren. Wir müssen versuchen, das Ganze durch Neues und Alternatives zu ergänzen. Wir müssen also darüber hinaus wollen.
Ein „Zurück“ ist weder mein Fall und sollte auch kein Fall der Linken sein. Wir wollen progressiv sein. Wir wollen die Dinge voran treiben. Und eine Haltung nach dem Muster „Früher war alles besser“ passt einfach nicht zu unserer Einstellung. Das hat auch etwas mit Dialektik zu tun. Über die wird ja unter uns Linken viel geredet, aber sie wird viel zu wenig praktisch angewandt. Mir erscheint es nicht sehr dialektisch, von der Antithese zur These zurück zu wollen. Wir müssen die Synthese suchen. In der EU besteht sie nicht darin, die EU abzuwickeln. Sie besteht in der vorhin genannten Verbindung von bürgerlichen und sozialen Rechten und Freiheiten. Diese Verbindung müssen wir anstreben! Wer sonst?
Überhaupt: Wir müssen das Gegenüber zur rechten Entwicklung in Europa werden. Auch hier frage ich: Wer sonst?
Nun werden einige sagen, dass die Veränderung der EU keine einfache Aufgabe sei. Das stimmt. Es gelingt uns LINKEN doch nicht einmal nennenswert auf nationalstaatlicher Ebene. Auch hier fehlt die soziale Unterfütterung der Freiheitsrechte. Wieso sollen wir es dann europäisch schaffen? Aber die Wirtschaft hat sich internationalisiert. Sie spielt verschiedene Standorte gegeneinander aus. Dieser globalisierten Ökonomie können wir gar nicht mehr mit den Nationalstaaten Herr werden. Dass es immer weniger wirksame nationalstaatliche Regulierung gibt, ist also kein Argument gegen die EU, sondern für sie. Eine europäisierte Wirtschaft fordert eine europäisierte Politik, eine weltweite Wirtschaft verlangt endlich eine funktionierende und demokratisch legitimierte Weltpolitik. Dass die politische Rechte das nie begreifen wird, liegt an ihrer nationalistischen Natur. Aber uns gebietet unsere internationalistische Natur, es wirklich vertieft zu begreifen. Wir müssen verstehen, dass gerade europäische Strukturen ein zentrales Instrument bei der Bekämpfung dieser Ursachen sind. Mehr soziale Gerechtigkeit und Internationalisierung entzieht den Rechten den Nährboden.
Aber es stimmt ja, dass es schwierig ist. Aber ich bin doch nicht in die Politik gegangen, habe mich nicht mit euch organisiert, um es leicht zu haben. Glaubt ihr wirklich es war leicht, aus der SED die PDS, aus der PDS mit Hilfe der WASG DIE LINKE zu machen? Glaubt ihr wirklich, es war leicht, die Interessen jener aus dem Osten zu vertreten, deren Interessen keine andere Partei vertreten wollte, die aber auch einen Weg in die deutsche Einheit finden mussten? Glaubt ihr wirklich es war leicht, die östlichen Eliten zu vertreten, denen eine Vereinigung mit den westlichen verwehrt wurde? Glaubt ihr wirklich es war leicht, die massenhaft entstehenden Arbeitslosen im Osten ohne Perspektive, scheinbar auch ohne Bedeutung, zu vertreten? Glaubt ihr wirklich, es war leicht, Menschen zu vertreten, deren Biographien missachtet wurden, deren Leben völlig umbewertet wurde, die größte Schwierigkeiten hatten, sich unter den neuen Bedingungen zurecht zu finden? Glaubt ihr wirklich es war leicht, sich mit einer Regierung auseinander zu setzen, die alles im Osten negativ sah, nicht bereit war, wenigstens Manches im Interesse von ganz Deutschland zu übernehmen? Glaubt ihr wirklich es war leicht, die Partei, die über Steuertricks ruiniert werden sollte, zu retten? Glaubt ihr wirklich es war leicht, sich gegen den Krieg gegen Jugoslawien zu stellen und sogar Milosevic zu besuchen? Und auch danach hatten wir es nie leicht und werden wir es nie leicht haben. Wir stellen uns gegen die ökonomisch Mächtigsten, gegen einen maßlosen Reichtum – Damit hat man es nie leicht. Und nun sollen wir fürchten, es als zu groß empfinden, uns europäisch auseinander zu setzen? Das darf doch wohl nicht wahr sein.
Nun also ein Blick nach Frankreich. Hätte Le Pen gesiegt, wäre die EU tot. Wollen wir in einer vergleichbaren Situation in einem anderen Land wieder auf einen Macron hoffen? Und überhaupt: Wie weit ist es gekommen, dass ich als Linker auf jemanden wie Macron zu hoffen gezwungen bin? Aber immerhin, im Unterschied zu Le Pen hält er demokratische Strukturen ein, lässt er linke Alternativen zu. Aber es gibt auch Hoffnung auf eine Verschiebung nach links. Ich nenne die Wahlergebnisse für Mélenchon in Frankreich, für Corbyn in Großbritannien und trotz der Einsamkeit und ihrer Erpressung dürfen wir auch Syriza in Griechenlandnicht vergessen.
DIE LINKE muss den vorherrschenden, markt- und wettbewerbsorientierten Leitbildern der EU ihr eigenes soziales und demokratisches Leitbild der EU offensiv entgegensetzen. Ohne ihre Veränderung droht die EU zu scheitern.
- Wir fordern, Armut und Perspektivlosigkeit gerade der Jugend unverzüglich zu bekämpfen. Dafür brauchen wir mehr öffentliche Investitionen. Die Jugend ist europäischer als meine Generation. Schon für sie müssen wir Europa retten.
- Wir treten für Ehrlichkeit im Umgang mit den Schulden der Mitgliedsstaaten ein. Die Schulden Griechenlands und aller anderen Euroländer müssen auf ein tragbares, erfüllbares Maß reduziert werden. Wir brauchen eine neue Schuldenkonferenz. Es geht nicht, einen gemeinsamen Markt zu wollen, gleichzeitig aber Risiken, wie z. B. Schulden, zu einer rein nationalen Angelegenheit zu erklären.
- Und wir wollen drittens soziale, steuerliche und ökologische Mindeststandards, die die Standortkonkurrenz, Lohndumping, Steuerwettbewerb und die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen endlich stoppen.
- Wir wollen ein demokratisches Europa und keinen Regierungsföderalismus über den Ministerrat der EU.
- Und schließlich lehnen wir den Aufbau einer europäischen Armee ab. Wir wollen EU, die nicht nur in ihren Reihen, sondern darüber hinaus dem Frieden verpflichtet ist.
Nur wenn wir den Mut haben, an dieser positiven Bestimmung einer Vision von Europa mitzuwirken, werden wir vom außen stehenden Kritiker der heutigen EU zum Gestalter einer anderen, einer besseren, einer zukunftsfähigen EU. Machen wir die EU von einer Ursache der Krise zu einem Instrument der Bekämpfung der Krise! Lasst uns zu einem entscheidenden Gewicht gegen die Rechtsentwicklung in Europa werden. Natürlich weiß ich, dass dies ein schwieriger und langer Prozess ist. Aber es ist wichtig, dass wir ihn gemeinsam und entschlossen anpacken.