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Beschluss 2024/078NEU

Nach der Europawahl: Maßnahmen auf dem Weg zum Bundesparteitag und zur Vorbereitung der Bundestagswahl 2025

Beschluss des Parteivorstandes vom 7. Juli 2024

Das Ergebnis der Europawahl war für Die Linke ein schwerer Schlag. Wir haben gegenüber der vorangegangenen Europawahl knapp eine Million Wähler*innen weniger mobilisieren können. Wir haben 176 000 Wähler*innen von den Grünen gewonnen und ca. 136.000 an sie verloren (Saldo +40.000)[1].  Die Bilanz ist angesichts der Ampel-Politik nicht gut. Laut Infratest hat Die Linke im Verhältnis zur Bundestagswahl ca. 380 000 Wähler*innen an Nichtwähler*innen „verloren“. Allerdings muss diese Zahl ins Verhältnis zur Wahlbeteiligung gesetzt werden: Diese war 16,34 Prozent niedriger als bei der Bundestagswahl. Daher haben fast alle Parteien an „die Nichtwähler*innen“ verloren. Für Die Linke bedeutet die niedrigere Wahlbeteiligung einen Verlust von 320 000 an absoluten Stimmen. Darüber hinaus konnten rund 60 000 Wähler*innen weniger zur Wahl mobilisiert werden. Die Linke hat 3% unter früheren Nichtwähler*innen mobilisiert und 7% unter den Erstwähler*innen, 5% unter denen, die nach 2021 zugezogenen bzw. eingebürgert wurden.

Die Gründe gilt es genauer zu untersuchen. Einige Hinweise haben wir schon in den Vorwahl-Untersuchungen erhalten: So bestand in Teilen unseres Potenzials Unsicherheit, ob es Die Linke noch gäbe, was mit der Kommunikation um das Ende der Bundestagsfraktion zusammenhing. Es ist durch unsere Kommunikation nicht ausreichend gelungen der (kontrafaktischen) Kommunikation von Sahra Wagenknecht, was Die Linke angeblich vertrete (keine soziale Gerechtigkeit, pro Waffenlieferung) entgegen zu wirken. Die Auseinandersetzungen um die Abspaltung aus der Partei haben die inhaltlichen Positionen und Interventionen der Linken in den Hintergrund gedrängt. Für Teile des Potenzials war unklar, wofür Die Linke steht. Hinzu kommt, dass der Linken in den Themen, die die mediale Debatte um die Europawahl bestimmt haben (in der Außenpolitik z.B.), kaum Kompetenzen zugeschrieben werden.

Die Linke hat sich in ihrem Auftreten bemüht, Themen der sozialen Gerechtigkeit zentral zu stellen und Themen wie Klimagerechtigkeit, Frieden, Flucht und Kritik der Aufrüstungspolitik in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit zu thematisieren. Das war richtig, weil der Linken nur im Bereich der sozialen Gerechtigkeit nennenswerte Kompetenzen zugeschrieben werden – auch wenn die Anhänger*innen durchaus Klima, Frieden, Migration als (unterschiedlich) wichtige Themen nennen.

Wir wissen aus den Studien, welche thematischen Gründe Menschen aus unserem Potenzial daran hindern können, Die Linke zu wählen: Außenpolitik, Flucht und Migration und Wirtschaftspolitik hält (unterschiedliche) potenzielle Wähler*innen von der Wahl ab.

Wir wollten unsere Positionen so kommunizieren, dass das Trennende (in dem uns keine Kompetenzen zugetraut werden und die Anhänger*innen z.T. gegenteilige Positionen vertreten) nicht im Mittelpunkt stand. Diese Fragen – Außenpolitik und Migration – bestimmten aber einen großen Teil der medialen Debatte im Wahlkampf. Auch bei den – seltenen – Einladungen des Spitzenpersonals zu Talkshows u.ä. drehten sich die Debatten stark um die Themen Außenpolitik und Flucht/Migration. Unsere Vertreter*innen haben sich dabei gut geschlagen und waren sprechfähig. Sie sind aber dennoch nicht durchgedrungen und Die Linke spielte in den medialen Debatten kaum eine Rolle.

Soziale Sicherheit lag – eigentlich – bei den Wählenden auf Platz 2 der wahlentscheidenden Themen: Bei den Wähler*innen vom BSW liegt Frieden deutlich und Zuwanderung knapp vor Soziale Sicherheit (37-25-22%). Bei den SPD-Wähler*innen liegt Soziale Sicherheit knapp vor Frieden (37-35%). Am stärksten wahlentscheidend war das Thema Zuwanderung bei Anhänger*innen von AfD, BSW und CDU (in der Reihenfolge). Dennoch dominierte das Thema einen großen Teil der medialen Debatte. Die Linke war in dieser Konstellation nicht wirksam und offensichtlich nicht attraktiv für viele Wähler*innen.

So wichtig vielen Menschen soziale Sicherheit ist, so empörend sie die gesellschaftliche Ungleichheit finden mögen, können z.B. Fragen der inneren und äußeren Sicherheit, die Erwartung mit einer florierenden Wirtschaft den Arbeitsplatz zu sichern, das Gefühl der Überforderung durch Migration trotz Zustimmung zu unseren sozialen Forderungen zur Wahl einer anderen Partei führen.

Vielfach wurde (von rechts) versucht, soziale Fragen in Fragen von Migration zu übersetzen. Ungerechtigkeiten wurden stärker als ungerechte „Bevorteilung“ von migrantischen Menschen thematisiert. SPD und Grüne haben im Wahlkampf nicht dagegengehalten, sondern haben dem Rechtsruck in der Migrationspolitik verbal und real nachgegeben. Dadurch waren sie die Kommunikationssituation gestärkt, die sie – und Die Linke – gleichzeitig Stimmen gekostet hat, weil auch ihre Kernthemen nicht im Mittelpunkt standen. Die Linke ist in der gegenwärtigen Situation zu schwach und medial zu wenig beachtet, um einen thematischen Gegenpol in der Debatte zu schaffen.

  • Die Linke muss die soziale Gerechtigkeit als Kernthema weiter stärken. Zur Profilierung muss die Partei ihre Forderungen zuspitzen. Um medial einen Gegenpol in der Debatte zu erzeugen, müssen Strategien mit außerparteilichen Bündnispartnern geschaffen werden.

Die Prognose über die Wahlbeteiligung stieg erheblich über die Dauer des Wahlkampfes (+15%). Dabei liegt nahe, dass mit einer Dethematisierung der sozialen Themen auch eine Demobilisierung der an sozialen Fragen interessierten Wähler*innen einhergeht (vergleichbar mit dem Thema Klima und den Wahlergebnissen der Grünen) und andersherum: Die Thematisierung von Außenpolitik und Migration mobilisiert stärker die Wähler*innen, für die diese Themen wahlentscheidend sind.

Die Linke hat etwa 430 000 Stimmen an das BSW verloren. Das BSW hat bewusst in die im Linken Potenzial polarisierten Positionen interveniert und versucht, einen „Pol“ herauszulösen. 86% der Anhänger*innen des BSW finden es „gut, dass sich das BSW gleichzeitig für mehr Soziales und weniger Zuwanderung einsetzt“ (infratest). Die Wahl des BSW ist also kein Missverständnis ihrer Anhänger*innen, die eigentlich eine linke Partei wählen wollten, sondern es ist eine Alternative zur mit großer Mehrheit beschlossenen, humanitären Migrationspolitik der Linken. Die Wähler*innen, die Die Linke in der Vergangenheit trotz ihrer Migrationspolitik gewählt haben, sollten jetzt von ihr abgelöst werden. Die Kombination des BSW von sozialpolitischen Forderungen mit einer Abgrenzung nach unten (Bürgergeld) funktionierte im Mainstream der medialen Debatte und konnte rechte Stimmungen in der Bevölkerung aufgreifen. Das BSW ist damit Teil der generellen gesellschaftlichen Rechtsentwicklung. Die Linke konnte mit ihrer Position zu Flucht und gegen die Asylrechtsverschärfung, die mit Carola Rackete als Kandidatin verkörpert war und sich u.a. in der Kritik der GEAS, Berichte von den Geflüchteten-Lagern auf Lesbos etc. zeigte, nicht durchdringen.

  • Wir können und müssen in Zukunft deutlicher formulieren, wie eine humane Migrationspolitik als Alternative zur Abschottungspolitik für uns aussieht, die legale Wege und damit sichere Wege der Migration ermöglicht. Wir werden Lösungen für die mit Migration verbundenen Problemlagen aufzeigen (Stärkung der kommunalen Infrastruktur, Integration in den Arbeitsmarkt, Wohnen, Bildung…) und zugleich die Chancen, die mit der Zuwanderung verbunden sind (Demografie, Fachkräfte) verbunden sind deutlich machen.

Auch in der Friedenspolitik müssen wir deutlicher wahrnehmbar werden: In Deutschland, Europa und weltweit wird aufgerüstet. Die Militarisierung wird vorangetrieben, der öffentliche Diskurs verschiebt sich in beängstigender Geschwindigkeit. Die Linke muss hier stärker als Gegenpol wahrnehmbar werden. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen Themen, mit denen wir uns profilieren können und Fragen, in denen wir Konkretisierung und programmatische Weiterentwicklung brauchen. Für eine friedenspolitische Profilierung bieten sich an: Wir kämpfen gegen die Militarisierung der Gesellschaft, gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht und zeigen, welche sozialen Kosten die Aufrüstung hat. Für die Aufrüstung stellt die Regierung Gelder bereit, die dringend für soziale Sicherheit und Klimaschutz benötigt werden. Wie verbinden wir die Forderung nach Abrüstung mit Antworten auf das gestiegene Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung?

  • Die Forderung nach Frieden und Rüstungskontrollverträgen sowie mehr Diplomatie im Ukraine-Krieg ist richtig. Damit sind wir aber nicht durchgedrungen. Wir müssen deutlicher machen, welche Hebel es gibt, um Russland an den Verhandlungstisch zu bringen. Wir wollen China und die Länder des globalen Südens für eine wirksame Friedensinitiative für eine diplomatische Lösung gewinnen. Dafür sind eine eigenständige, von der China-Strategie der USA unabhängige Politik der Bundesrepublik und der EU notwendig. Gleichzeitig sollten wir klar formulieren, dass das Ziel (nicht die Vorbedingungen) eines Friedensprozesses die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine und das nationale Selbstbestimmungsrecht sein muss. Dies kommunikativ zu vermitteln ist nicht einfach, wir müssen uns aber dieser Aufgabe stellen.

Zusammenfassend müssen wir feststellen: Unsere Wahlstrategie ist nicht aufgegangen. Sie war geprägt von dem Bemühen, das Soziale als das einigende Thema in unserem Potential (und der Partei) in den Mittelpunkt zu stellen. Im Fokus der gesellschaftlichen Debatte standen aber andere Themen wie Frieden, innere und äußere Sicherheit und Migration. Ob wir ein gravierend besseres Wahlergebnis hätten erzielen können, wenn wir diese Fragen in den Mittelpunkt unserer Kampagne gesellt hätten, ist fraglich. Bekanntlich werden das Profil und die Wahrnehmung einer Partei vor allem zwischen den Wahlen und weniger im Wahlkampf selbst entschieden. Bereits in den Umfragen und Fokusgruppen in Vorbereitung des Wahlkampfs mussten wir feststellen, dass unser Potential der Linken noch „am ehesten“ Kompetenz bei sozialen Fragen zuschreibt, aber vielen unklar ist, wofür wir aktuell in diesem Themenfeld kämpfen. Die geringe Kompetenzzuschreibung in der Außenpolitik und der Migrationspolitik und die teils extrem unterschiedlichen Auffassung unserer potentiellen bzw. ehemaligen Wähler*innen verweisen auf ein grundsätzliches Problem: die tiefgehende Beschädigung unseres Profils in den Augen unserer potentiellen Wähler*innenschaft. Vordergründig hat dies zu tun mit den langanhaltenden ööffentlichen Kontroversen. Aber um die Partei zusammenhalten, den Fraktionsstatus (vermeintlich) zu sichern, wurden viele Fragen nicht entschieden, Kompromisse gesucht und eine notwendige Weiterentwicklung unserer Positionen angesichts einer veränderten internationalen und innenpolitischen Lage nicht mit dem notwendigen Nachdruck verfolgt. Im Ergebnis erschienen wir vielen potentiellen Wähler*innen als profillos oder mit unklarem Profil.

Folgende Maßnahmen nehmen wir uns als erstes vor:

- Grundlagen für Strategien schaffen: Den Veränderungen in unserem Wähler*innenpotenzial, Wahlgründen und Wahlhinderungsgründen und Zustimmungen zu kritischen inhaltlichen Positionen, Erwartungen und Zuschreibungen an Die Linke werden wir in einer Nachwahluntersuchung weiter aufklären.

- Voneinander lernen, politische Verhältnisse und Strategien vergleichen: Wir sorgen zeitnah für einen strategischen Austausch mit erfolgreichen linken Parteien in Europa, unter anderem mit Finn*innen, Schwed*innen, Belgier*Innen, Französ*innen, Österreicher*innen. Dabei betrachten wir unterschiedliche Ausgangs- und Kommunikationsbedingungen und prüfen, welche Strategien erfolgreich und übertragbar sind.

- Verbindungen stärken: Die Linke steht in ihren Anliegen nicht allein. Die Organisationen, Bewegungen und Verbände, die linke Ziele vertreten, sind zum Teil auch in der Defensive. Wir müssen ins Gespräch kommen, wie wir dem gesellschaftlichen Rechtsruck und den Angriffen auf den Sozialstaat entgegentreten und tragfähige Antworten in der sozial-ökologischen Transformation finden. Von besonderer Bedeutung sind hier: Gewerkschaften als die Klassenorganisationen, kritische Wissenschaften, Kultur, NGOs und Bewegungen für Klimagerechtigkeit, Flucht & Antirassismus. Wir werden die Verbindungen in bestimmte Branchen wie Pflege, Erziehung, Bewegungen gegen Mietenwahnsinn, gegen rechts vertiefen. In den Bereichen Arbeit, Wirtschaft, Arbeitsmarktpolitik und Transformation wollen wir unsere Positionen stärker nach vorne stellen und Grundlagen legen, uns in Betrieben und Gewerkschaften langfristig stärker zu verankern. Über die Zukunft einer kritischen Öffentlichkeit wollen wir mit Journalist*innen und Influencer*innen ins Gespräch kommen.

- Verankerung im Potenzial stärken und die Partei in einem gemeinsamen Strategieprozess mitnehmen: Die Partei wird oft vielstimmig und widersprüchlich wahrgenommen. Die Gefahr ist, dass sich das in der Krise noch verstärkt. Statt Entscheidungsschlachten zu führen, wollen wir einen Weg gehen, der die Partei und die Menschen in der Partei mitnimmt, ernst nimmt und stärkt. Wir werden über den Sommer Beratungen in den Verbänden der Partei beginnen, damit die Partei sich mit breit geteilten Positionen, inhaltlichen Klärungen und Zuspitzungen in die Bundestagswahl geht. Um Vertrauen bei unseren potenziellen Wähler*innen zurückzugewinnen, werden wir nach dem Sommer eine Gesprächsoffensive starten.

- Wir werden eine Arbeitsgruppe für die Vorbereitung des Bundesparteitags bilden. Diese soll auch den Entwurf des Leitantrags beraten und helfen eine gemeinsame Strategie und Personalvorschläge von Parteivorstand und Landesvorsitzenden zu entwickeln. Sie soll darüber hinaus an Vorschlägen für die die Klärung bestehender Dissense für das Bundestagswahlprogramm und an Zuspitzungen arbeiten, mit denen eine schlagkräftige Kommunikation in der Bundestagswahl entwickelt werden kann. Dazu gehört auch der Auftrag des Bundesparteitags, unsere friedens- und außenpolitischen Positionen weiterzuentwickeln und zu konkretisieren. Diese Arbeitsgruppe soll dann nach den Bundestagswahlen die Aktualisierung unseres Parteiprogramms vorbereiten.


[1] Wähler*innen, die bei dieser Wahl von anderen Parteien zur Linken gewechselt sind, fanden für ihre Wahlentscheidung eher Europapolitik wichtiger (54%) als Bundespolitik (40%). Sie sehen in der EU-Mitgliedschaft stärker Vorteile (74%) oder finden, Vor- und Nachteile halten sich die Waage (23%), nur 2 Prozent sehen eher Nachteile in der EU. 36% fanden, die Bundesregierung hatte bei der Europawahl einen Denkzettel verdient - 60 Prozent sahen das nicht so. Für diejenigen, die von der Linken zu anderen Parteien gewechselt sind, hatte für ihre Wahlentscheidung bei der Europawahl Bundespolitik (50%) ein etwas stärkeres Gewicht als Europapolitik (44%). Sie sehen die EU-Mitgliedschaft deutlich skeptischer: nur 53% sehen eher Vorteile in der EU, für 31% halten sich Vor- und Nachteile die Waage, 14% sehen eher Nachteile.