Dialog für eine moderne Minderheitenpolitik in der Bundesrepublik: Strukturelle Entscheidungen sind unverzichtbar!
Der vom Europarat eingesetzte Sachverständigenausschuss hat den dritten Staatenbericht der Bundesrepublik zur Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Sprachencharta) geprüft und kam zu einem erschreckenden Ergebnis: Trotz einiger positiver Entwicklungen hat sich die Lage im Hinblick auf die Regional- oder Minderheitensprachen seit der Unterzeichnung des Abkommens durch die Bundesrepublik nicht wesentlich verändert. Das Ministerkomitee des Europarates hat darauf aufbauend Empfehlungen an die Bundesrepublik formuliert. Die Sprecherin der AG Ethnische Minderheiten der Partei DIE LINKE Renate Harcke erklärt nach einer Beratung ihrer Arbeitsgemeinschaft am vergangenen Wochenende dazu:
Ausgehend von unserer langjährigen Erfahrung unterstützen wir die Forderung des Ministerkomitees des Europarates nach Einleitung struktureller Entscheidungen auf Bundes- wie Landesebene, die die Minderheitenpolitik in der Bundesrepublik endlich auf europäisches Niveau heben. Dazu gehört auch die Schaffung verbindlicher Kontrollmechanismen, insbesondere im Bildungsbereich.
Unsere Arbeitsgemeinschaft wird zu den Fragen, die von den europäischen Sachverständigen auf die Tagesordnung gesetzt wurden, in den kommenden Monaten das Gespräch mit den ethnischen Minderheiten, ihren Dachverbänden und Vereinen suchen. Einbeziehen werden wir auch die Minderheiten, die bisher – trotz entsprechender Forderungen auf europäischer Ebene – in der Bundesrepublik offiziell nicht als „nationale Minderheiten“ im Sinne der europäischen Minderheitenabkommen anerkannt sind, obwohl sie seit Jahrzehnten, teilweise Jahrhunderten in Deutschland zu Hause sind.
Im Ergebnis des "Dialogs für eine moderne Minderheitenpolitik in der Bundesrepublik" will die Arbeitsgemeinschaft Ethnische Minderheiten gemeinsam mit anderen eine Agenda formulieren, die nach den Wahlen 2009 Grundlage für notwendige politische Entscheidungen auf Bundes- und Länderebene sein kann. Die Politik muss endlich Antworten auf die von den europäischen Sachverständigen formulierten Probleme finden:
Wie muss eine Strukturpolitik für die Förderung und Erhaltung der unmittelbar vom Aussterben bedrohten Sprachen Nordfriesisch, Saterfriesisch und Niedersorbisch aussehen? Welche Maßnahmen sind vorrangig und unverzüglich einzuleiten, um Grund- und Sekundarschulunterricht in diesen Sprachen anbieten zu können?
Welche Schritte sind generell notwendig, um den Unterricht in den Regional- und Minderheitensprachen zu verbessern? Was ist insbesondere für die Sprachen Obersorbisch, Niederdeutsch und Romanes zu tun?
Wie sollte der Kontrollmechanismus aussehen, der künftig – anders als bisher – sichern kann, dass insbesondere die Verpflichtungen im Bereich der Bildung umgesetzt werden?
Welche gesetzlichen Bestimmungen müssen auf Bundesebene bzw. in den Ländern noch geschaffen werden, um die innerstaatliche Rechtsordnung der Bundesrepublik an die von der Sprachencharta formulierten Erfordernisse anzupassen?
Zum Hintergrund:
Vor 10 Jahren, im Jahr 1998 sind in der Bundesrepublik das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in Kraft getreten. Nach beiden Abkommen sind vier Minderheiten (Dänen, Friesen, Sinti und Roma sowie Sorben [Wenden]) als nationale Minderheiten anerkannt und ihre Sprachen unter besonderen Schutz gestellt.
Durch Überprüfungen auf der Grundlage von Staatenberichten der Unterzeichnerländer kontrolliert der Europarat regelmäßig die Umsetzung der Bestimmungen, zu denen sich die Unterzeichnerstaaten im Einzelnen verpflichtet haben.
Für die Europäische Sprachencharta hat die Bundesrepublik 2007 ihren dritten Bericht vorgelegt. Auf der Grundlage der Bewertung durch einen unabhängigen Sachverständigenausschuss hat das Ministerkomitee des Europarates am 9. Juli 2008 seine Empfehlungen an die Bundesrepublik verabschiedet (http://www.coe.int/t/dg4/education/minlang/Report/default_en.asp)
Unter den Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses, die diesen Empfehlungen zugrunde lagen, sticht eine Feststellung besonders hervor. Punkt C lautet:
„Trotz einiger positiver Entwicklungen hat sich die Lage im Hinblick auf die Regional- oder Minderheitensprachen seit dem ersten und zweiten Überprüfungszeitraum allerdings nicht wesentlich verändert, so dass die früheren Empfehlungen des Ministerkomitees ihre Gültigkeit behalten. Der Sachverständigenausschuss stellt mit Bedauern fest, dass die Lage einiger besonders gefährdeter Sprachen sich offensichtlich sogar verschlechtert hat, insbesondere die Lage des Niedersorbischen. Die Lage des Saterfriesischen bleibt sehr prekär. Der Sachverständigenausschuss ist der Auffassung, dass Deutschland entschlossenere Maßnahmen ergreifen sollte, um die Probleme anzugehen, die im Zuge des Überprüfungsmechanismus der Charta aufgezeigt werden.“