Minderheiten schützen – praktisch und programmatisch
Der Sprecher der AG Ethnische Minderheiten Heiko Kosel und Raju Sharma, Bundesschatzmeister und Bundestagsabgeordneter unserer Partei aus Schleswig-Holstein äußern sich im Rahmen der Programmdebatte zum Stellenwert der Minderheitenpolitik in unserer Partei.
Europa ist Heimat für viele große und kleine Völker, unter ihnen sind rund 300 nationale Minderheiten mit insgesamt 100 Millionen Angehörigen. Etwa 90 Sprachen werden in den europäischen Ländern gesprochen, darunter über 50 Regional- oder Minderheitensprachen. Zum Schutz der Sprachen und Kulturen der Minderheiten haben die europäischen Staaten in den letzten Jahren vielfältige Regelungen geschaffen, die einiges an Verbesserungen gebracht haben. Doch auch heute noch gehört die Diskriminierung von Minderheiten in Europa zum Alltag: Sie reicht von der Nichtanerkennung der im eigenen Land lebenden Minderheiten und ihrer Sprachen durch einzelne Staaten über offene oder latente Assimilation bis hin zur Reduzierung der Rolle von Minderheiten auf Folklore. Was der Mehrheitsbevölkerung wie selbstverständlich zugebilligt wird, nämlich das Recht auf individuelle und kollektive Identität, wird den »eigenen« Minderheiten häufig verweigert. Die Diskriminierung von nationalen, ethnischen und kulturellen Minderheiten war und ist weltweit eine der häufigsten Konfliktursachen. Eine Minderheitenpolitik, die Minderheitenrechte als Menschenrechte begreift, dient somit der Verständigung unter den Völkern und dem Frieden.
Völkerverständigung, Frieden, Menschenrechte – Themen, die zu Recht mit der LINKEN in Verbindung gebracht werden. Wer aber glaubt, dass deshalb auch die Minderheitenpolitik ganz selbstverständlich zum »Markenkern« der Partei zählt, wird bei der Lektüre des vorliegenden Entwurfs für ein Grundsatzprogramm der LINKEN eine Überraschung erleben: Das wichtigste programmatische Dokument unserer Partei enthält nämlich – zumindest in seinem Entwurf – keinerlei konkrete Aussagen zu den sogenannten autochthonen oder angestammten Minderheiten. Ohne solide minderheitenpolitische Grundlagen können aber auch die Herausforderungen bezüglich der sogenannten neuen Minderheiten nicht wirklich im Sinne eines linken Politikansatzes gelöst werden.
Die AG Ethnische Minderheiten, die sich seit Jahren für eine stärkere Berücksichtigung der Minderheitenpolitik in der programmatischen und praktischen Arbeit unserer Partei einsetzt, hat deshalb in ihrer vergangenen Sitzung konkrete Formulierungsvorschläge zum Programmentwurf erarbeitet und an die Redaktionskommission geschickt. Ausgangspunkt dieser Vorschläge ist ein weitreichender Politikansatz, der Minderheitenpolitik im »Einwanderungsland Deutschland« als Teil des Kampfes für die umfassende Gleichstellung aller in der Bundesrepublik, gegen die Diskriminierung von Menschen wegen des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, der sexuellen Orientierung und Identität oder aufgrund körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung, begreift.
Aufklärungsbedarf
Während in anderen Gebieten der Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik bei den meisten Mitgliedern der LINKEN zumindest ein hohes Problembewusstsein vorausgesetzt werden kann, besteht bei der Frage der »angestammten« oder »autochthonen« Minderheiten vielfach noch Aufklärungsbedarf, bevor die von der AG Ethnische Minderheiten (und einigen anderen »Insidern«) seit Jahren vertretenen Positionen zum programmatischen Allgemeingut der Partei gezählt werden können: In Deutschland leben derzeit über 200.000 Dänen, Friesen, Sinti und Roma sowie Sorben, die deutsche Staatsbürger und Angehörige von in Deutschland anerkannten autochthonen Minderheiten sind. Nur wenn die nationale Identität der Minderheiten bundesweit geachtet und gefördert wird, können die Angehörigen der Minderheiten gleichberechtigt ihre Sprache, Kultur und Traditionen pflegen und als nationale Minderheit im friedlichen Zusammenwirken mit der Mehrheitsbevölkerung eine gemeinsame Zukunft gestalten.
Regionale, ethnisch bestimmte Kulturen sind keine musealen Überbleibsel, sondern bereichernde Aktivposten. Sie tragen dazu bei, die für die Entwicklung der Gesellschaft unentbehrliche Ressource »kulturelle Vielfalt in Deutschland« zu mehren. Deshalb ist es richtig und notwendig, wenn sich auch die »Mehrheitsbevölkerung« gegen Kürzungen im Bereich der Förderung kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen der autochthonen Minderheiten wehrt. Bedroht wird dadurch nicht nur die Existenz der jeweiligen Einrichtung, sondern auch die Vielfalt des kulturellen Lebens in der betreffenden Region und im ganzen Land. Um diese Vielfalt dauerhaft zu erhalten und um die Autonomie der Minderheiten zu stärken und weiterzuentwickeln, braucht es vor allem Verlässlichkeit.
Dies gilt für eine Haushaltspolitik, die den Erhalt der Kulturarbeit der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein gewährleistet, genauso wie für eine Regionalpolitik, die den Fortbestand der Minderheiten in ihrer Heimat sichert und die weitere Zersiedelung, wie durch den Braunkohleabbau im Siedlungsgebiet der Sorben, verhindert. Dazu gehört, rechtliche und sprachliche Hemmnisse für die Entwicklung grenzüberschreitender Wirtschafts- und Arbeitsmärkte an der deutsch-dänischen sowie an der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Grenze soweit wie möglich zu beseitigen.
Deshalb sollte DIE LINKE alle Bemühungen zur Schaffung von Rechtsgrundlagen unterstützen, die den autochthonen Minderheiten die Gleichstellung in der Gesellschaft und den Ausbau ihrer Partizipationsmöglichkeiten auf allen Ebenen sichert. Dazu gehört vor allem die Verankerung ihrer Rechte nicht nur in den Landesverfassungen, sondern auch im Grundgesetz. Dies gilt insbesondere für die Sinti und Roma, deren Schutz bisher nicht verfassungsrechtlich gesichert ist. DIE LINKE muss sich dafür einsetzen, dass die Rechte der Minderheiten, insbesondere ihr Recht auf Selbstbestimmung, geschützt werden und ihre Repräsentanz und Mitwirkung im gesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess gefördert wird, damit sie ihre Sprache, ihre Kultur und somit ihre Identität bewahren und erhalten können. Das ist die Mehrheit nicht nur der Minderheit schuldig – sondern auch sich selbst. Und DIE LINKE muss sich auch in ihrem Programm klar dazu bekennen.