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betrieb & gewerkschaft

Der Mindestlohn ist eine Trendwende

Dierk Hirschel

Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist der größte politische Erfolg der deutschen Gewerkschaften im noch jungen 21. Jahrhundert. Ein Jahrzehnt lang haben ver.di, NGG & Co für einen Mindestpreis der Ware Arbeitskraft gestritten. Sie wurden tatkräftig unterstützt von Parteien, Kirchen und Sozialverbänden. Arbeitgeberverbände, wirtschaftsliberale Denkfabriken und die ökonomische Zunft versuchten diese Neuordnung des Arbeitsmarktes zu verhindern - ohne Erfolg. Zuletzt wollten neun von zehn Wahlberechtigten einen Mindestlohn.

Der gesetzliche Mindestlohn bricht endlich mit der Logik der neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Entfesselte Leiharbeit, Minijobs, sachgrundlose Befristungen, Hartz IV & Co entwerteten und entsicherten Arbeit. Der Ausbau des Niedriglohnsektors schwächte die Gewerkschaften. Die massive Tarifflucht der Arbeitgeber tat ein Übriges. Der Mindestlohn von zunächst 8,50 Euro wird die Lohnkonkurrenz unter den abhängig Beschäftigten einschränken. Die gleichzeitig beschlossene erleichterte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen verstärkt diese Wirkung. Dadurch wird die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wieder größer. Das ist gut so.

Schlecht ist, dass es Arbeitgeberverbänden und Unionsparteien auf der Zielgeraden gelungen ist, aus dem flächendeckenden Mindestlohn einen Flickenteppich zu machen. Mit den tarifvertraglich vereinbarten kurzfristigen Ausnahmen vom Mindestlohn können die Gewerkschaften leben. Sie stärken das Tarifsystem. Völlig anders zu bewerten sind hingegen die Ausnahmen für Langzeitarbeitslose, Jugendliche, Saisonkräfte, Zeitungszusteller und Praktikanten. Im schlimmsten Fall werden so über zwei Millionen Menschen vom Mindestlohn ausgeschlossen. Dabei handelt es sich nicht nur um Übergangsregelungen. Jugendliche und Langzeitarbeitslose (in den ersten sechs Monaten) bekommen auch 2017 keine 8,50 Euro. Und Saisonarbeitskräften können Kost und Logis für die nächsten vier Jahre vom Mindestlohn abgezogen werden. Eine Einladung zum Missbrauch.

Die vielen Ausnahmen gefährden die Wirksamkeit des Mindestlohngesetzes. Der Flickenteppich erschwert eine effektive Kontrolle des Mindestlohns. Nun werden noch mehr Unternehmen versuchen, den gesetzlichen Mindestlohn zu unterlaufen. Deswegen werden die Gewerkschaften weiter dafür streiten, dass die Ausnahmen wieder verschwinden. Doch damit nicht genug: Wer Missbrauch verhindern will, muss die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit mehr Personal ausstatten. Verstöße gegen den Mindestlohn müssen streng bestraft werden. Zudem würde ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften dazu beitragen, die Mindestlohnansprüche zu sichern.

Der gesetzliche Mindestlohn ist ein erster Eckpfeiler einer neuen Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Weitere müssen folgen. Auf der gewerkschaftlichen Agenda stehen jetzt gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der Leiharbeit, die Eindämmung der Minijobs, der Kampf gegen den Missbrauch von Werkverträgen und die Abschaffung sachgrundloser Befristungen. Es gibt also noch viel zu tun. Ein Anfang ist jedoch gemacht. Die Trendwende ist geschafft.

Dr. Dierk Hirschel ist Bereichsleiter Wirtschaftspolitik in der ver.di Bundesverwaltung