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Ein guter Jahrgang

Gerd Graw

Zwei Männer wären in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden: Willi Bleicher und Otto Brenner. In ihrer Person verkörpern sich Standhaftigkeit im antifaschistischen Widerstandskampf, Konsequenzen im gewerkschaftlichen Handeln, Kompetenz in der Tradition der Gewerkschaftsbewegung. Tugenden, die auch in der aktuellen Gewerkschaftsarbeit hilfreich sind.

Willi Bleicher

Rückblick eines 72jährigen: „1945 hatten wir andere Vorstellungen von dem, was werden soll. Wir wollten dieUrsachen des Faschismus beseitigen. Neubeginn war unsere Losung, aber nicht auf dem Fundament der alten kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Wir wollten der Jugend eine Welt bauen, ohne Radikalenerlass, ohne Berufsverbote oder Jugendarbeitslosigkeit und eine Welt des Friedens, des Hoffendürfens auf bessere Tage im Alter und ohne Arbeitslosigkeit. Wenn ich nun aber im 72. Lebensjahr rückblickend den Weg der deutschen Arbeiterbewegung – von der die Gewerkschaften der wesentliche Teil waren – verfolge, dann sind die Niederlagen nicht wenig. Der tiefste Fall, das Jahr 1933, war nicht nur bedingt durch unsere Uneinigkeit und Zerrissenheit. Nein, auch durch das Nichtbegreifen, dass der Faschismus auch nur eine Herrschaftsform des Kapitalismus ist, zu der man greift, wenn mit den bisherigen Mitteln und Methoden der Demokratie, ihre ökonomische Herrschaft und die damit verbundene Profitmaximierung nicht mehr sichergestellt werden kann. Meine Überzeugung ist, dass es nicht darauf ankommt, nur in dieser Welt zu leben, sondern viel wesentlicher ist, diese Welt lebenswerter zu gestalten.“

Vorstellungen, Träume, Ideen und Sehnsüchte, die 11 Jahre Folter und Kerker nicht brechen konnten. Sie lesen sich wie ein aktuelles demokratisches Wahlprogramm.

Willi Bleicher wurde am 27. Oktober 1907 in Bad Cannstatt geboren. Arbeitslosigkeit des Vaters, das beschwerliche tägliche Leben der Sieben-Personen-Familie und das Umfeld in den Arbeitervierteln prägten sein künftiges Leben. Nach der Bäckerlehre wird er Mitglied des KJVD. Er will was tun gegen Unrecht und Armut. „Der Willi ist wissbegierig, aber vor allem kritisch. Alles will er genau wissen und verstehen“, erinnert sich ein alter Mitstreiter.

Ja, kritisch war er wohl. Wie sonst liest sich seine Biographie „wie ein Wechselbad“ seiner Zeit? Kurzzeitig bei Daimler-Benz in Stuttgart und dann Arbeitslosigkeit. 1929 Ausschluss aus der KPD. Die Nazis werden auf ihn aufmerksam. Er flieht in die Emigration. Nach der Rückkehr wieder „Zoff“. Seine Empörung richtet sich gegen den Verrat der SPD bei der Panzerkreuzer-Zustimmung. Es kommt in der KPD zum erbitterten Streit über das „Wie weiter?“ Die Schaffung einer eigenen Gewerkschaft RGO findet genauso seine Ablehnung, wie die „Sozialfaschisten“-Polemik. Mit einem erheblichen Teil der Stuttgarter kommunistischen Metaller schließt er sich der KPD-Opposition an. Er war von den Ideologien Brandners und Thalheimers beeindruckt, aber überzeugen konnten sie ihn auch nicht.

Für Bleicher war der Machtantritt Hitlers eine Katastrophe. Wieder flieht in die Emigration. Enttäuscht kommt er zurück und schließt sich dem Widerstand an. 1936 holt ihn die Gestapo. Über mehrere Gefängnisse und Lager „landet“ er in Buchenwald. Er hält im Lager für den ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann die Gedenkrede und wird dafür mit Isolation und Folter bestraft.

Der Staat Israel ehrt ihn für die Rettung des kleinen legendären jüdischen Jungen „Juscho“ Zweig mit einer hohen Auszeichnung.

Am 11. April 1945 wird das KZ Buchenwald befreit. Willi Bleicher kehrt nach Stuttgart zurück und tritt erneut in die KPD ein.

Er wird Jugendsekretär der Metallgewerkschaft in Stuttgart. Damit beginnt seine Odyssee durch die baden-württembergische IG-Metall. Er wird Vorstand der IG-Metall für die amerikanische und englische Besatzungszone. In die unsägliche „Reverspolitik“ zwischen den Gewerkschaften und der KPD verstrickt, landet er wieder in den „Niederungen“ der Organisation. Er wird Ortsbevollmächtigter in Göppingen, tritt in die SPD ein. Überwiegend über die Tarifpolitik kämpft er sich wieder an die Spitze. Am 1. April 1959 wird er Bezirksleiter der IG Metall.

Am 14. Dezember 1971 beginnt „seine große Zeit“. Streik und Aussperrung, Auge in Auge mit der Vergangenheit am Verhandlungstisch: Der ehemalige KZ-Häftling und der Ex-SS-Offizier Hanns Martin Schleyer. Wir erinnern uns: Dem von der IG-Metall organisierten Schwerpunktstreik setzten die Unternehmer die totale Aussperrung entgegen. Ihre Strategie: Die Gewerkschaften finanziell auszubluten. Über 360.000 Metallarbeiter wurden auf die Straße gesetzt. Die Forderung stand: Ein konkretes Angebot auf die 11prozentige Lohn- und Gehaltsforderung. Das war eine Kampfansage an das Kapital. Es war seine letzte Tarifrunde. Willi Bleicher geht im Oktober 1972 in den wohlverdienten Ruhestand und Franz Steinkühler übernimmt.

Willi Bleicher stirbt am 23. Juni 1981. Als er am 29. Juni beerdigt wurde, standen in den Metallbetrieben Baden-Württembergs die Räder still. Die Metaller würdigten so ihren verstorbenen Bezirksleiter, der sie in den zwei härtesten Arbeitskämpfen der Nachkriegszeit trotz Aussperrung erfolgreich geführt hatte.

 

Otto Brenner

Am 8. November dieses Jahres wäre Otto Brenner 100 Jahre alt geworden. Er war nach der Zerschlagung des faschistischen Staatsterrorismus einer der Pioniere der deutschen Einheitsgewerkschaft. Als die Weichen für ein neues demokratisches Deutschland gestellt wurden, als es um soziale Verantwortung und gesellschaftliche Mitbestimmung ging, war der Name des Vollblut-Hannoveraners meist mit im Spiel. Sein politisches und gewerkschaftliches Engagement reicht in die Weimarer Zeit zurück.

Otto Brenner begann als Betriebs-Elektriker in Hannover. Die Erfahrungen der Kaiserzeit, die Lehren von Weimar und sein persönliches Schicksal in der Nazidiktatur, Illegalität, wiederholte Verfolgungen und Haft, Verurteilungen wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ und Kapitulation der Arbeiterbewegung vor den Nazis prägten seine Politik.

Als Mitbegründer der Gewerkschaft und SPD in Hannover begann 1945 seine „Neuzeit“ vom Geschäftsführer der örtlichen Metallgewerkschaft bis zu seiner Wahl als IG-Metall-Vorsitzender am 14. Dezember 1952. Seine Handschrift am DGB-Grundsatzprogramm ist unverkennbar. Mit seinem Namen sind zahlreiche tarifpolitische Ziele, wie Verkürzung der Arbeitszeit, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Beseitigung der Lohnabschläge für Frauen sowie die Weihnachts- und Urlaubsgelder, aber vor allem bei der Mitbestimmung, eng verbunden.

Otto Brenner war aber auch nicht unumstritten, weder in der Gewerkschaftsbewegung noch in der Gesellschaft. Für Adenauer war er ein „Feind der Freiheit“. Rolf Hochhuth lernte ihn als „einen Guten kennen“ und empfindet es als tröstlich, dass in dieser Welt auch mal ein „Guter zugleich mächtig ist“. Als „ermutigend“ findet er, dass Otto Brenner immer genau wusste, wer seine Gegner sind.

Als es in den 1950er Jahren unter anderem um die im Potsdamer-Abkommen verfügte Demontage der Hermann-Göring-Werke in Salzgitter ging, als „Stahl oder Rüben“ zur Debatte stand, war der Chef der niedersächsischen Metaller an der Seite derer, die sich für Stahl statt Rüben, für Arbeitsplätze und eine gesicherte Zukunft im Salzgitter-Gebiet entschieden und dafür kämpften. Anders als Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft aber auch aus der Gewerkschaftsbewegung sah Otto Brenner die Demontage nicht als „Wiedergutmachung“ sondern als „Vernichtung möglicher Konkurrenz für das internationale Kapital“.

Der Name Otto Brenner steht aber nicht nur für die IG Metall, er steht für einen Sozialisten und Internationalisten, für die gesamte nationale und internationale Gewerkschaftsbewegung. Sein Name steht stellvertretend für alle Widerständler, Verfolgte und Geschundene, für Sozialisten und überzeugte Demokraten. Er starb am 15. April 1972.