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Altenpflege zum festen Bestandteil linker Seniorenpolitik machen

Diskussion während der Sprecherratssitzung am 17. September 2008

Der Bundessprecherrat diskutierte in seiner Septembersitzung 2008 über den Platz der Altenpflege in der Tätigkeit der Seniorenarbeitsgemeinschaft. Der Umgang mit Menschen, die zur Alltagsbewältigung teilweise oder ganz auf die Hilfe des Gemeinwesens angewiesen sind, ist   Spiegelbild des Kulturniveaus einer Gesellschaft. Bei entsprechendem politischen Willen hätte die reiche Bundesrepublik die erforderlichen materiellen Ressourcen für eine humanistisch bestimmte Pflege. Die Orientierung der Pflegepolitik weniger an den Interessen der Pflegebedürftigen sondern an der Kompromissfähigkeit der Koalition sowie die weitere Ausbreitung privatwirtschaftlicher Strukturen auch in der Pflege, sind wesentliche Ursachen dafür, dass die Pflegeversicherung, 10 Jahre nach ihrer Einführung, so Prof. Karl Lauterbach,  ineffizient und ungerecht ist und gravierende Qualitätsdefizite aufweist.


Die Seniorenarbeitsgemeinschaft tritt dafür ein,  dass das Thema menschenwürdige Pflege fester Bestandteil der Seniorenpolitik der Partei DIE LINKE wird. Angesicht der grundlegenden Mängel des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes, mit dem notwendige Veränderungen in der Pflege erneut nicht angepackt wurden, unterstützt die Seniorenarbeitsgemeinschaft die Ablehnung dieses Gesetzes durch die Fraktion DIE LINKE im Bundestag und will ihrerseits dazu beitragen, die Problematik Altenpflege im Wahlkampf zu thematisieren und die Alternativvorschläge der Fraktion einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Im Wissen um die Breite des Spektrums der Pflegeproblematik (Krankenpflege, Pflege wegen Behinderung, Altenpflege) und bei realistischer Einschätzung der eigenen Kräfte, richtet die Seniorenarbeitsgemeinschaft den Fokus ihrer Tätigkeit in Sachen Pflege auf die Altenpflege und wegen deren Vielschichtigkeit (medizinische, psychosoziale, politische und finanzielle Anforderungen) auf die politischen Aspekte  der Altenpflege.

Die Notwendigkeit, der Altenpflege mehr Aufmerksamkeit zu schenken, erwächst  in erster Linie aus  unserem Altenbild selbst. Für linke Seniorenpolitik ist das Alter längst nicht mehr nur der letzte Lebensabschnitt. Wir teilen vielmehr die Auffassung maßgeblicher Altersforscher, die das Alter ab 60 in mehrere Phasen mit jeweils spezifischen Ansprüchen, Bedürfnissen und Erfordernissen unterteilen. In Folge steigender Lebenserwartung, insbesondere der überdurchschnittlichen Vergrößerung der Altersgruppe der über 80-jährigen, muss mit einer wachsenden Zahl von Menschen mit altersbedingten Krankheiten (Multimorbitität), vor allem mit demenziellen Erkrankungen gerechnet werden. D.h., die die Ansprüche an Geriatrie und Altenpflege werden sich weiter deutlich erhöhen. Für den unlängst verstorbenen Prof. Dr. Paul Baltes, einer der führenden deutschen Gerontologen, ist die Bewältigung der Herausforderungen des "Hohen Alters" "... eine der großen, noch ungelösten Zukunftsaufgaben der Gesellschaft"
 
Selbst wenn die Größenordnung des Anstiegs der Zahl der Pflegebedürftigen unter Fachleuten noch umstritten ist, muss davon ausgegangen werden, dass im Vergleich zu heute ein erheblicher Mehrbedarf an medizinischen, pflegerischen, personellen-, finanziellen- und materiellen Leistungen auf die Gesellschaft zukommen. Dabei geht es um weit mehr als nur um deine Frage des Geldes.

Es entspricht der Ethik linker Pflegepolitik,

  • dass Altenpflege vor allem auf den Erhalt und die Förderung der Lebensqualität sowie verbliebener Fähigkeiten der pflegebedürftigen alten Menschen gerichtet ist,    
  • dass die Würde der pflegebedürftigen alten Menschen, die keine lautstarke Lobby besitzen und unzureichend offensiv vor Diskriminierung Schutz finden, nicht dem Kommerz und dem Gewinnstreben geopfert werden.

Der Sprecherrat erörterte gemeinsam mit Fachpolitikern mögliche Auswirkungen des Pflegeweiterentwicklungsgesetz  sowie sich daraus ergebender Ansatzpunkte für den politischen Umgang mit dem Thema Altenpflege:

  • Geradezu abenteuerlich  erscheint das Vorgehen der Regierungsparteien, im Bundestag das Pflegeweiterentwicklungsgesetz zur Abstimmung zu stellen aber erst zu einem späteren Zeitpunkt den  Pflegebedürftigkeitsbegriff neu definieren zu wollen. Das lässt vermuten, dass trotz anders lautender Erklärungen, eine Erweiterung des derzeitigen Pflegebedürftigkeitsbegriffes nicht wirklich politisch gewollt war. Eine Neufassung, die die hinwendungsbezogene, sprechende, eine Teilhabe ermöglichende und ganzheitliche Pflege- und Assistenzleistung ermöglicht, hält der Bundessprecherrat für zwingend geboten.
  • Das Dreistufenmodell der Pflegeversicherung läuft für Kritiker im Kern darauf hinaus, dass Betreiber der Heime bei den Kassen umso mehr Geld abrechnen können, je höher die Pflegestufe, d.h. je schlechter der Zustand der Pflegebedürftigen ist, während umgekehrt, ein durch gute Pflege verbesserter Zustand, eher finanzielle Nachteile bewirken kann, zumal die Pflegestufen I und II finanziell hier nicht aufgestockt werden. Das alles wirkt zudem einer ganzheitlichen Pflege entgegen.
  • Die beträchtlichen Mittel, die die Pflegeversicherung jährlich  für die Pflege ausschüttet (2006, www.bmg.bund.de) wecken bei Klein- und Großunternehmen Begehrlichkeiten, von diesem Kuchen ein möglichst großes Stück abzubekommen. Mit anderen Worten,  Pflege hat sich zu einem Milliardengeschäft entwickelt und das vergrößert die Gefahr, dass ein zunehmend größerer Teil dieser gewaltigen Summe bei denen nicht ankommt, für die sie bestimmt ist.
  • Mit der Installierung einer privaten Pflegeversicherung neben der gesetzlichen, wurde deren ungerechte und unzureichende Finanzierung faktisch festgeschrieben. Besserverdienende, die, wie Studien belegen, meist zu den Gesünderen zählen und damit ein geringeres Pflegerisiko haben, verursachen in der privaten Pflegeversicherung deutlich geringere Aufwendungen, wodurch hier ein erheblicher finanzieller Überschuss angesammelt werden konnte. (15 Milliarden Euro Ende 2006). Die gesetzliche Pflegeversicherung dagegen muss pro Mitglied, so die Berechnungen von Prof. Lauterbach, beinah viermal höhere Kosten schultern.  Dennoch gelang es nicht, mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz einen Finanzausgleich durchzusetzen, obgleich das die Regierungskoalition 2005 in einer gemeinsamen Vereinbarung versprochen hat. Privat Versicherte tragen daher auch zukünftig das besonders hohe Risiko der kranken und einkommensschwachen gesetzlich Versicherten nicht mit.
  • Allgegenwärtig sind die direkten und indirekten Folgen des chronischen Personalmangels in der Altenpflege sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für das Pflegepersonal selbst. Zeitmangel der Pflegenden geht meist zu Lasten menschlicher Zuwendung, die ohnehin durch die Kassen nicht bezahlt wird. Eine Fachkraftquote von 50 %  bedeutet bereits einen hohen Anteil ungelernter Kräfte. Da diese Quote zudem zum 1. Juli noch flexibilisiert wurde, provoziert sie einen steigenden Anteil ungelernter Kräfte und damit die weitere Entprofessionalisierung. Insoweit wurde auch ein Vorschlag kritisch diskutiert, die gesellschaftliche Teilhabe für Pflegebedürftige durch den Ausbau des öffentlichen Beschäftigungssektors zu verbessern. Der Bundessprecherrat unterstützt die Forderung der 1500 Altenpflegerinnen und Altenpfleger auf ihrer Demo in Hannover: "Pflegende brauchen bessere Arbeitsbedingungen, regelmäßigere Weiterbildung, mehr Zeit, höhere Entlohnung, mehr gesellschaftliche Anerkennung."
  • Mit dem Inkrafttreten der Förderalismusreform zum 1. September 2006 ist die Heimgesetzgebung an die Länder übergegangen. Veröffentlichte Eckpunkte lassen befürchten, dass die unterschiedlichen Reglungen der Länder nicht unbedingt eine Verbesserung der Leistungen für die Heimbewohner sowie der Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals bewirken werden. Das gilt ebenso für die Rolle der Heimaufsichten und die Mitwirkungsrechte der Heimbewohner. Die Seniorenarbeitsgemeinschaften sollten sich gemeinsam mit Fachpolitikern der Landtagsfraktionen eine Übersicht über die Auswirkungen der Förderalismusreform auf die Altenpflege im Land erarbeiten.
  • In der Aussprache wurden Erfahrungen vorgetragen, die für die politische  Arbeit  aufzuarbeiten sind, so u.a.: Der Frauenanteil in den Pflegeheimen ist auf 77% angewachsen; immer mehr Eltern wollen im hohen Alter ihren Kindern nicht zur Last fallen; der Modellversuch der BIVA (Interessenvertretung der Senioren- und Pflegeheimbewohner) hat gezeigt, dass die Heimbeiräte, oft selbst im hohen Lebensalter, nur unzureichend über die Lage im Heim informiert werden; die Landes-Seniorenarbeitsgemeinschaften sollten ihre Vorschläge auch zur Altenpflegepolitik als Anträge an die Landesparteitage einbringen; nachzudenken ist über die Verbesserung der Kontakte örtlicher Basisorganisationen zu den Genossinnen und Genossen in den Heimen.

Die Debatte des Bundessprecherrates machte deutlich, dass mehr politische Einflussnahme auf die Altenpflege ein bestimmtes Maß an Sachkenntnis und Einblick in den Pflegealltag erfordert. An die Seniorenarbeitsgemeinschaften der Landes-, Stadt- und Regionalverbände erging die Empfehlung, zu prüfen, wie dafür potentielle Möglichkeiten in den Territorien selbst erschließbar sind.

Verwiesen wurde auf die Fachpolitiker der Partei, in den Parlamenten und staatlichen Gremien, auf Genossinnen und Genossen, die selbst Angehörige zu pflegen hatten und damit  praktische Erfahrungen über das Wirken der Gesetze im Pflegealltag sammeln konnten und wo möglich, auf die Knüpfung von Kontakten und Zusammenarbeit mit Heimbeiräten und Angehörigen der Heimbewohner.

Genutzt werden sollte das reichhaltige Angebot an Pflegefachliteratur sowie die Studien und Analysen zur Altenpflege, die Wissenschaftler und  wissenschaftliche Einrichtungen im Internet anbieten. Zum Handwerkzeug jeder Arbeitsgemeinschaft sollten der Entschließungsantrag der Genossinnen und Genossen der Linksfraktion zum Pflegeweiterentwicklungsgesetz sowie die in Verbindung damit erarbeiteten Materialien gehören.

Die Orientierung des Bundessprecherrates, der Altenpflege mehr Aufmerksamkeit zu widmen, meint nicht, der Seniorenpolitik eine andere Richtung zu geben. Grundlage für die Tätigkeit der Seniorenarbeitsgemeinschaft bleiben die Seniorenpolitischen Standpunkte. Notwendig ist jedoch, die Folgen der sich verändernden Altersstruktur der Gesellschaft für die Altenpflege zu erkennen und in der Seniorenpolitik der LINKEN dafür erforderliche Antworten zu finden.

  • Die Seniorenarbeitsgemeinschaft braucht eine eigene politische Einschätzung zur Situation und den Perspektiven in der Altenpflege. Alle Erfahrungen die den pflegebedürftigen alten Menschen nützen und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte verbessern, sollten im Interesse der Gepflegten und Pflegenden genutzt werden. Kritisch zu hinterfragen sind die Auswirkungen des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes auf den Pflegealltag.
  • Ausgehend von der Fragestellung, "Was sind uns pflegebedürftige alte Menschen wert, welche Leistungen brauchen sie für ein menschenwürdiges Dasein, welche Mittel sind dafür notwendig und wie sollen sie aufgebracht werden?" muss die Seniorenarbeitsgemeinschaft ihre Mindestforderungen an eine menschenwürdige Altenpflege formulieren. Das schließt die Positionierung zur wachsenden Vielfalt in den pflegerischen Ausbildungsberufen ein.
  • Die Seniorenarbeitsgemeinschaft sollte sich mit kritischen Positionen zur Altenpflege in der Gewerkschaft Verdi, in den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Pflegewissenschaften aber auch solcher Kritiker wie Prof. Karl Lauterbach, Markus Breitscheidel, Claus Fussek u.a. auseinandersetzen, um berechtigte Forderungen gut begründet auch im Bündnis mit Anderen unterstützen zu können.
  • Alle Landes-Seniorenarbeitsgemeinschaften  werden gebeten, im Laufe des Jahres 2009 eine Einschätzung der Situation in der Altenpflege im Land vorzunehmen und eigene politische Schlussfolgerungen für Arbeitsschwerpunkte auf diesem Gebiet zu ziehen.

Helmut Schieferdecker
Mitglied des Sprecherrates