Linke Seniorenpolitik und EU
Linksfraktion im Europaparlament und Bundesarbeitsgemeinschaft diskutierten über linke Seniorenpolitik im Kontext mit der Seniorenpolitik der EU
Die gemeinsam von der Fraktion DIE LINKE im Europaparlament, dem Bundessprecherrat und der Landesarbeitsgemeinschaft Berlin vorbereitete Veranstaltung am 4. April 2013 erwies sich als gelungener Beitrag zur Umsetzung der Maßnahmen, die die Hauptversammlung zur Erhöhung der Ausstrahlungskraft der Bundesarbeitsgemeinschaft und des Engagements ihrer fast 1200 Mitglieder beschlossen hat.
Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE im Europaparlament, des Bundestages, des Abgeordnetenhauses Berlin und Genossinnen und Genossen der Bundesarbeitsgemeinschaft Senioren diskutierten mit interessanten Gästen über den zunehmenden Einfluss Brüsseler Entscheidungen auf die nationale Seniorenpolitik und über Konsequenzen, die sich daraus für Politik der LINKEN ergeben.
Herzlich begrüßt wurden Cornelia Ernst und Kartika Liotard (Niederlande), beide Abgeordnete des Europaparlaments, Dr. Martina Bunge, Mitglied des Bundestages, Martina Michels, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, Prof. Dr. Klaus Busch, Sozialwissenschaftler, Dr. Alfred Spieler, Volkssolidarität Bundesverband e.V., Heidi Kloor, Gewerkschaftssekretärin des Bundesvorstandes Ver.di,Vertreterinnen des Landesseniorenbeirates Berlin, des Sozialverbandes, des Vereins Selbstbestimmtes Wohnen u.a.
Wie die Vorträge und die Podiumsdiskussion zeigten, gibt es eine Vielzahl von Gründen, warum die Bundesarbeitsgemeinschaft das Thema "Linke Seniorenpolitik und EU" nicht als Einmalveranstaltung stehen lassen darf. Bereits heute sind ¾ aller Entscheidungen der EU in den Regionen umzusetzen. Genossinnen des Kreisverbandes Westsachen berichteten anschaulich, wie sehr inzwischen das Leben im Alter im ländlichen Raum davon betroffen ist. Deshalb wird ein Erfolg bei Bundestags - wie der Europaparlamentswahlen gleichermaßen auch davon abhängen, wie es gelingt, die Auswirkungen der Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Militärpolitik der EU auf die Lebensbedingungen der Menschen überzeugend darzustellen und den Gegenentwurf der LINKEN glaubhaft zu vermitteln.
Als bevölkerungsreichstes Land der EU bleibt der Umgang mit dem demographischen Wandel und seinen Auswirkungen in der Bundesrepublik nicht ohne Folgen für die gesamte Union. Im Vergleich zu allen anderen Mitgliedsländern zählt Deutschland (Statistisches Jahrbuch 2011) den höchsten Anteil der über 65-jährigen an der Gesamtbevölkerung. Die reiche Bundesrepublik gehört weltweit zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate. Sie hat die ältesten Mütter und ist Weltmeister in der Kinderlosigkeit. Die Reihe solcher Fakten ließe sich fortsetzen. Da sie allesamt nicht gottgegeben sind, braucht eine Veränderung dieser Entwicklung keine weiteren Schnellschüsse einzelner Minister, sondern ein anderes Gesamtkonzept zur Bewältigung der Folgen des demographischen Wandels, auch von der LINKEN.
Der seniorenpolitische Kurs der EU-Gremien lässt sich an ihren Entscheidungen und deren Auswirkungen für die Menschen ablesen - Ihre kritische Bewertung machte u.a. deutlich:
Bei aller Unterschiedlichkeit der Mitgliedsstaaten im Herangehen an das Phänomen demographischer Wandel ist ihnen gemeinsam, dass der Anteil der Älteren und Hochbetagten an der Gesamtbevölkerung ständig zunimmt. War vor 50 Jahren auf dem Territorium der heutigen EU nur jeder 14. Bewohner älter als 65 Jahre wird es 2020 bereits jeder 5. sein. Am schnellsten wächst die Altersgruppe der über 80-jährigen. Sie wird voraussichtlich bis 2020 in der EU auf ca. 20 Mio. anwachsen. Das entspricht gegenüber 1960 einer Erhöhung um 300%. Die Geburtenentwicklung in der EU ist weiterhin auf Abwärtstrend, in den einzelnen Mitgliedsstaaten allerdings auf sehr unterschiedlichem Niveau. In Großbritannien wurden 2010 je 100.000 Einwohner 1220 Kinder geboren, in Frankreich 1280, in Irland 1640. Deutschland belegt mit 840 Neugeborenen pro 100.000 Einwohnern den letzten Platz in der EU.
Angesichts der weiter wachsenden Zahl der Anspruchsberechtigten, sehen die Gremien der EU den Hauptweg zur Sicherung der Rentenfinanzierung in der Erhöhung des Renteneintrittsalters und der Absenkung des Rentenniveaus. Hinter verschlossenen Türen wird schon mal über die Anpassung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung diskutiert. Deutschland hat mit seiner Agenda - 2010 Politik auch hier "Maßstäbe" gesetzt. Das ehemals zugesicherte Rentenniveau in Höhe von 70% des Durchschnittseinkommens auf 42% zu senken, dürfte in Brüssel ein willkommener Beitrag zur Verwirklichung des neoliberalen Ansatzes der EU-Rentenpolitik gewesen sein.
Einen Schlüssel zur Bewältigung der Herausforderungen, die von der sogenannten überalterten Gesellschaft ausgehen, sieht die EU offenbar in mehr Kommerzialisierung und Privatisierung der sozialen Infrastruktur, des Gesundheitswesens inklusive. Die Menschen im Alter, vor allem die im hohen Alter, sind von den Auswirkungen dieser Politik besonders betroffen. Wie es im "Europäischen Manifest gegen die Kommerzialisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens" heißt, wird damit die Gesundheitsversorgung zunehmend zum Markt und Gesundheit und Krankheit zur Ware. Die Einführung von Mechanismen kapitalistischer Konkurrenz, genannt "Wettbewerb" zwingt zwangsläufig Beteiligte dazu, medizinische Prioritäten den ökonomischen, bzw. betriebswirtschaftlichen "Erfordernissen" unterzuordnen. Gewinne aus Gesundheitsleistungen, fließen zunehmend in private Taschen, werden so dem Gesundheitswesen entzogen und machen es zunehmend teurer.
Die Seniorenpolitik der EU-Gremien zeigt teilweise eine einseitige Orientierung auf das "junge" Alter (60bis 80 Jahre) und damit, bewusst oder unbewusst, eine Unterschätzung der Herausforderungen, die aus der zunehmenden Hochaltrigkeit der Gesellschaft erwachsen. Forscher der Max-Planck-Gesellschaft machen deshalb vor allem auf den bisher nicht gesicherten wissenschaftlichen Vorlauf in der medizinischen Forschung aufmerksam. Während im sogenannten jungen Alter mit steigender Lebenserwartung für viele ein Zugewinn an gesunden und aktiven Jahren einhergeht, setzt sich dieser Zusammenhang im hohen Alter so nicht fort. Mehr noch, es wird davon ausgegangen, dass im hohen Alter (über 80) das Risiko altersbedingter Krankheiten mit steigender Lebenserwartung zunimmt. Allein in Deutschland leben z.Z. 1,4 Millionen an Demenz Erkrankte. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft rechnet jährlich mit ca. 300.000 Ersterkrankungen.
Entscheidungen der EU wie auch ihre oben beschriebene einseitige Orientierung auf das "junge" Alter lassen erkennen, wie sehr in Brüssel Seniorenpolitik von Erfordernissen des Arbeitsmarktes bestimmt wird. Der Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über die Durchführung des "Europäischen Jahres für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen (2012)" nennt eingangs eine Vielzahl von Dokumenten zur Begründung dieses Vorhabens. 1. Grund - ein Artikel aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU- Betreff: "Beschäftigungsniveau", 2. Grund - Artikel "Arbeitsbedingungen", 3. Grund - Artikel "Antidiskriminierung", 4. Grund - "demographische Nachteile". Erst der 5. Grund für ein europäisches Jahr "Aktives Altern" spricht vom Recht der Menschen auf ein würdiges, unabhängiges Leben im Alter.
Die geführte Debatte hat eine Vielzahl von Erkenntnissen und Anregungen vermittelt, die es wert sind, durch den Bundessprecherrat und die Landesarbeitsgemeinschaften weiter gedacht zu werden:
- Die Grundlagen für das Wirken der Bundesarbeitsgemeinschaft bleiben die Analyse der realen Lebensverhältnisse der Seniorinnen und Senioren sowie das Programm der Partei. Angesichts der vermittelten Erkenntnisse und Fakten über den inzwischen gewachsenen Einfluss von EU- Entscheidungen auf die Lebensverhältnisse der Seniorinnen und Senioren auch in unserem Lande muss die Gewinnung, die kritische Bewertung und die Reaktion auf Informationen aus Brüssel in unserer künftigen Arbeit einen höheren Stellenwert erhalten. Engere Dauerkontakte zu unseren Genossinnen in Brüssel wären dafür sinnvoll. Wie in den Seniorenpolitischen Standpunkten festgeschrieben, hält die Bundesarbeitsgemeinschaft das vom Europaparlament und der Linksfraktion praktizierte Subsidiaritätsprinzip in der EU- Seniorenpolitik für unverzichtbar. Der Bundessprecherrat sollte im Gegenzug Mittel und Wege finden, eigene Erfahrungen und Erkenntnisse bei der Ausgestaltung linker Seniorenpolitik und seine Erwartungen an die Fraktion, den Genossinnen und Genossen in Brüssel in geeigneter Weise mitzuteilen.
- Die Beratung hat den Eindruck verstärkt, dass EU-Gremien Seniorenpolitik vorrangig an Hand der Erfordernisse definieren, die sich aus dem Bevölkerungsrückgang in der Union für den Arbeitsmarkt ergeben. Eine Seniorenpolitik, die zur Lösung demographischer Probleme vor allem auf Leistungskürzung bei den "Alten" setzt, hat zwangsläufig eine Abwertung des Alters in der Gesellschaft zur Folge. Sie unterstützt damit eine Alterskultur, die den verdienten Respekt vor der Lebensleistung der Altengeneration untergräbt, die Solidarität zwischen den Generationen schwächt und Altersarmut fördert. Der Ansatz europäischer Seniorenpolitik der LINKEN, ihrer Seniorenarbeitsgemeinschaften und der Linksfraktion im Europaparlament sollte eine klare Ansage dazu sein: Was kann und muss die EU leisten, damit immer höhere Lebenserwartung sowohl für die Menschen als auch für die europäische Gesellschaft zu einer wirklich großen Errungenschaft und nicht zu einer großen Belastung führt. Die Ökonomisierung der Seniorenpolitik stoppen, umkehren, und die Lebensqualität zum Ziel und zum Maß der Seniorenpolitik machen - das ist die Grundvoraussetzung hin zu einer anderen Alterskultur, die DIE LINKE anstrebt und die die Menschen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verdienen.
- Der schnelle Anstieg der Anzahl hochbetagter Menschen mit all ihren Ansprüchen und Risiken muss in den Grundsatzentscheidungen der EU-Gremien ebenso ernst genommen werden wie die Belange der sogenannten jungen Alten. Wenn die Gesundheitsversorgung im Alter nicht heißen soll "Immer mehr Alte immer mehr Risiken immer mehr Arztbesuche" dann muss, wie Wissenschaftler schon lange fordern, die Erforschung von Krankheitsmechanismen, von denen die Verhinderung altersbedingter Krankheiten erhofft werden kann, entschieden intensiviert werden. DIE LINKE, die Bundesarbeitsgemeinschaft und die Linksfraktion im Europaparlament sollten sich dafür engagieren, dass die EU ihren Einfluss nachhaltiger nutzt, prädestinierte Forschungskapazitäten finanziell verstärkt zu fördern und europaweit zu vernetzen. Es geht um die Erhöhung der Effizienz ihrer Arbeit und wo möglich, um die frühere Bereitstellung verwertbarer Ergebnisse. Gemeint ist nicht irgendein abstraktes Spezialthema, sondern das Schicksal von Millionen potenzieller Demenzpatienten in Europa und vieler Millionen Angehöriger, die damit eine Chance erhalten könnten, auch ihr Leben bis ins hohe Alter in Würde zu leben.
- Mehr Einfluss auf die Seniorenpolitik der EU erfordert den weiteren Aufbau der Partei Europäische Linke, den Einfluss ihrer Mitgliedsparteien auf die jeweils nationale Seniorenpolitik und die Stärkung der Fraktion Europäischen Linke im Europaparlament. Der Vorschlag, Kontakte mit Seniorenpolitikern dieser Parteien zu suchen und wenn möglich schrittweise herzustellen, sollte durch den Bundessprecherrat aufgegriffen und gemeinsam mit Helmut Scholz auf seine Machbarkeit geprüft werden.
Helmut Schieferdecker