Clara-Zetkin-Preis für die Aktivistinnen von Ciocia Basia
Laudatio von Katja Kipping bei der feierlichen Preisverleihung in Berlin
Ich freue mich, dass wir heute den 7. Clara-Zetkin-Preis an die Aktivistinnen von Ciocia Basia überreichen.
Mit ihrer Arbeit geben sie vielen Frauen Hoffnung und helfen konkret, wenn es darum geht, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden.
Polen hat europaweit eines der schärfsten Abtreibungsgesetze. Es gibt nur 3 Ausnahmefälle, in denen ein Abbruch erlaubt ist: nach einer Vergewaltigung, wenn das Kind schwer behindert sein wird oder wenn die Gesundheit der Mutter in Gefahr ist.[1]
Und selbst dieses Gesetz sollte im vergangenen Sommer verschärft werden. Im erzkatholischen Polen ruft das Thema immer wieder die schärfsten Kritiker auf den Plan. Fast 0,5 Mill. Unterschriften haben sie für ein vollständiges Verbot sowie Haftstrafen für Frauen und Ärzte von bis zu 5 Jahren gesammelt.
Einzelfälle werden aufgeblasen, die es den Kämpferinnen für sexuelle Selbstbestimmung schwer machen, sich Gehör zu verschaffen. Dachte man zumindest. Doch die geplante Verschärfung rief tausende Demonstrantinnen und Demonstranten tagelang auf die Straßen Warschaus.
Diese Proteste waren einer der Gründe, warum sich die konservative Regierungspartei PiS am Ende doch gegen die Verschärfung aussprach. Die Verschärfung wurde im Parlament abgelehnt. Ein Erfolg für alle, die sich für sexuelle Selbstbestimmung einsetzen.
Leider kam der nächste Rückschlag vor wenigen Wochen. In Polen wurde die rezeptfreie Pille danach wieder verschreibungspflichtig. Und das obwohl ein EU-Erlass verlangt, dass die Pille danach in allen EU-Mitgliedstaaten rezeptfrei zu erwerben ist. Ein klarer Verstoß .[2]
Diese geplanten Verschärfungen sind kein Einzelfall in Europa. Die Konservativen und Rechtspopulisten unserer Zeit haben sich auf einen Feldzug begeben. Ja, wir erleben gegenwärtig den Versuch einer Konterrevolution in den Geschlechterverhältnissen.
Einen Feldzug gegen all jene Errungenschaften, die die Frauenbewegung hart erkämpft hat. Und deshalb sei noch mal an die Geschichte dieses Kampfes erinnert.
- Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch war eine der zentralen Forderungen der proletarischen Frauenbewegung.
- 1920 brachte die USPD erstmals einen Antrag für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Weitere Versuche der KPD folgten. 1924 gab es einen Teilerfolg - der Paragraph 218 ward geboren.[3]
- In der NS-Zeit wurden die alten Strafen wieder eingeführt.
- In der DDR wurde der Schwangerschaftsabbruch 1972 legalisiert.
- In Westdeutschland brachte die 1968er-Bewegung das Thema wieder auf den Plan.
- Die BRD führte 1975 die Fristenregelung unter Paragraph 218 ein - gegen Proteste der CDU/CSU, die Abbrüche nur bei Gefahr für die Mutter oder nach Vergewaltigungen erlauben wollten.
- Die CDU klagte daraufhin vorm Bundesverfassungsgericht und gewann. 1976 verabschiedete der Bundestag eine modifizierte Indikationsregelung.
- Nach der Wende wurde auch in den 1990er Jahren weiter um den §218 gestritten - gerade weil die Gesetzeslage in der DDR progressiver war. Leider ohne Erfolg. Deswegen begleitet das Thema die Feministinnen und Feministen in Deutschland weiter.
In diesem Jahr kommen wir nicht umhin, auch über die anstehenden Wahlen zu reden. Im Herbst werden wir die kommende Regierung wählen - und auch die kommende Opposition. Und in der Tat wird es bei den kommenden Wahlen um etwas gehen. Es geht um die Möglichkeit für einen fortschrittl. Politikwechsel.
Viel zu oft verheddern wir uns in unproduktiven Debatten, wie etwa dem Streit darüber, was das kleinere Übel ist: der Retro-Heimatkapitalismus der Rechtspopulisten oder der globale Finanzmarktkapitalismus der neoliberalen Eliten. In diesem Streit hat eine fortschrittliche Linke nichts zu gewinnen. Stattdessen sollten wir um eine neue Hegemonie der Solidarität auf der Höhe der Zeit kämpfen.
Wir sollten deutlich machen, dass es eine grundlegende Alternative von links gibt. Was wir brauchen ist eine menschlich-soziale Wende.
Dabei dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass eine Hoffnung von links immer größer und vielfältiger als die jeweils eigene Partei sein muss, damit sie sich auch in eine gesellschaftliche Veränderungsperspektive übersetzen lässt.
Eines sage ich fest zu: Als LINKE setzen wir uns in jedem Fall für eine vollständige Streichung des Paragraphen 218 ein - im Wahlkampf und auch nach der Wahl. Denn es gilt: Mein Körper - meine Entscheidung!
Ich möchte noch etwas Grundsätzliches sagen: Nach den Wahlerfolgen der AfD und spätestens nach dem Wahlsieg von Donald Trump ging auch durch die deutsche Linke ein Raunen. In der Linken wurde, vor allem angestoßen durch das Buch "Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon, die Rückbesinnung auf die Arbeiterklasse gefordert.
Mehr Klassenkampf - das finde ich gut. Es wäre toll, wenn die Rückbesinnung auf die Arbeiterklasse nun münden würde in einer stärkeren Konfliktbereitschaft gegenüber den Herrschenden. Und wenn sie zu mehr Leidenschaft beim Eintreten für grundlegende Alternativen oder zu mehr Engagement bei Gesprächsoffensiven und Haustürbesuchen in ärmeren Stadtteilen führte, würde ich mich darüber sehr freuen. Doch wundersamer Weise nimmt auch in der Linken so mancher die Besinnung auf "die Arbeiter" nur zum Anlass, um so ziemlich alles zu entsorgen, was von der gesellschaftlichen Linken spätesten mit 1968 erkämpft wurde.
Oft wird beim Sprechen über "die Arbeiter" ein am Fließband stehender weißer Arbeiter imaginiert. Linke Machos projezieren dann gern ihre antifeministischen Affekte auf just diesen Arbeiter. Und setzen Rückbesinnung auf die Arbeiterklasse gleich mit Antifeminismus. Was für ein Kurzschluss!
Das ist schon deshalb ein Kurzschluss, weil Arbeiterklasse heute ganz anders aussieht. Sie ist heute vor allem weiblich und migrantisch geprägt.
Schauen wir uns doch die wirkliche Arbeiterschaft mal in ihrer Zusammensetzung an. Die Beschäftigten im produktiven Bereich sind nur ein Teil. Zudem einer, der in Folge von technischem Fortschritt abnimmt. Tätigkeiten im Pflegebereich, in der Care-Arbeit, also Arbeit am und mit Menschen bzw. immaterielle Arbeit, Arbeit am Laptop, kurzum Wissensproduktion und Kommunikationsarbeit machen einen wachsenden Teil der Arbeiterschaft aus.
So hat die Zahl der Arbeitenden im Pflegebereich die der Automobilindustrie bereits weit überholt.[4] Wer es also ernst meint mit der Klassenorientierung und der Arbeiterschaft, der muss sich mit ihrer vielschichtigen Zusammensetzung und deren Wandlungen ernsthaft auseinandersetzen.
Aufgabe eines linken, eines sozialistischen Feminismus muss es sein, Freiheitsrechte und soziale Rechte nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie als gemeinsame Kämpfe zu begreifen. Eine Linke auf der Höhe der Zeit muss die Kämpfe um soziale und Freiheitsrechte, wie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, immer zusammen denken.
Denn der Kulturkampf der Rechten droht Europa und die USA in die Vergangenheit zu schicken.
Ich bin froh, dass ich heute vor mir so viele Frauen und Männer sehe, die stattdessen für die Zukunft streiten.
- Für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und sexuelle Selbstbestimmung.
- Für gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit.
- Gegen Sexismus und gegen Gewalt an Frauen.
- Für eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind und gleichzeitig niemand Angst davor haben muss, anders zu sein.
Für diese Kämpferinnen stehen auch die Aktivistinnen von Ciocia Basia. Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken und von Herzen gratulieren.
Anmerkungen
[1] www.deutschlandradiokultur.de/verschaerfung-des-abtreibungsgesetzes-abtreibung-in-polen.2165.de.html?dram:article_id=362076
[2] www.sueddeutsche.de/politik/verhuetung-polen-fuehrt-rezeptpflicht-fuer-die-pille-danach-wieder-ein-1.3397468
[3] de.wikipedia.org/wiki/Schwangerschaftsabbruch#Geschichte_vor_1945
[4] Gesundheits- und Krankenpflege, Rettungsdienst und Geburtshilfe = 1.027.000 und Altenpflege 543.000, Quelle: Statistisches Bundesamt, 2014 www.destatis.de/.../Tabellen/Beschaeftigte.html; Automobilindustrie: 785.200, Quelle: VDA, Verband der Automobilindustrie, November 2014 www.vda.de/.../zahlen-und-daten-uebersicht.html).