Die Radikalisierung in der Gesellschaft in linkes Regierungshandeln zu übertragen
Rede von Katja Kipping auf dem Landesparteitag der Berliner LINKEN
Alles was jetzt in Berlin jetzt geschieht, geschieht nicht nur für Berlin. Es hat auch eine bundesweite Strahlkraft. Insofern ist es mehr als gut, dass ihr in der Regierung bisher keine Federn gelassen habt, sondern auch noch zugelegt habt. Zur Halbzeit hat Rot-Rot-Grün in Berlin eine satte Mehrheit in den Umfragen. Das ist eine Bestätigung für den Kurs, den DIE LINKE durch ihre Initiativen geprägt hat. Darauf könnt Ihr stolz sein. Und so gesehen, wünsche ich mir Berliner Verhältnisse im Bund. Eure Erfahrungen hier in Berlin können eine Blaupause für den Bund werden.
Blaupause für den Bund?
Nun können wir die Situation in Berlin nicht eins zu eins auf den Bund übertragen. Aber es gibt Aspekte, die beispielhaft sind. Erstens haben sich hier alle drei Regierungsparteien auf Augenhöhe getroffen. Früher sahen Koalitionen eher so aus, dass eine große Partei sich einen kleinen Juniorpartner dazu holte, der dann auch mal was durchsetzen durfte. Diese Koch-Kellner-Rituale sind überholt. Und das hat dem Berliner Koalitionsvertrag gutgetan. Zweitens gab es von Anfang an einen regen Austausch mit den sozialen Bewegungen. Der Begriff vom Regieren in Bewegung machte die Runde.
Das läuft bestimmt nicht immer reibungslos. Aber Reibungslosigkeit kann auch nicht unser Ziel sein. Entscheidend ist die Haltung, Druck aus der Gesellschaft, Kritik aus den Bewegungen nicht als Angriff zu verstehen, den es zurückzuweisen gilt. Der Druck aus den Bewegungen ist vielmehr Treibstoff für eine Radikalisierung nach links. Das stärkt innerhalb der Koalition natürlich unsere Ansätze. Manchmal hilft es uns auch über uns selbst hinauszuwachsen.
Im Übrigen hat der Ansatz "Regieren in Bewegung" noch einen weiteren Vorteil. Wir alle hier wissen, dass die Frage von Linksregierungen in unserer Partei nie unumstritten war. Es gab ja über viele Jahre bei uns eine Kontroverse, ob wir eher auf Bewegung oder auf Regierungsbeteiligung setzen sollen. Ich finde, in Berlin zeigt sich ganz praktisch, dass gerade im Zusammenspiel eine Radikalisierung nach links gelingen kann. Regierungsskeptiker müssen gar nicht von ihrer grundlegenden Kritik abschwören, um produktiv Einfluss auf die Landespolitik zu nehmen. Die Initiative "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" z.B. hat ja nicht nur die Mieterinnen und Mieter organisiert, sie beeinflusst auch das praktische Regierungshandeln. So können Kontroversen unter uns für die Stadt produktiv bearbeitet werden.
Warum ist es so wichtig ist über Enteignung zu reden? Auch in anderen Städten
Deutschlands größter Immobilienkonzern, Vonovia, hat an der Börse wieder alle Rekorde geschlagen. Die Mieteinnahmen sind um ein Fünftel gestiegen und liegen jetzt bei 502 Millionen Euro.
Hinter diesen 502 Millionen Euro verbirgt sich massenhafte Verdrängung und Enteignung von Menschen. Wenn die Mieten explodieren, die Löhne du Renten stagnieren bleibt immer weniger zum Leben gerade für Menschen mit niedrigen bis mittleren Einkommen.
Diese neue Spezies der Immobilienfonds praktiziert Profitgier in Reinform. Das ist nicht soziale Marktwirtschaft. Das ist übelste kapitalistische Abzocke und Ausbeutung. Und die Geschichte hat uns gelehrt: Mit netten Worten allein werden wir das nicht ändern.
Diejenigen, für die der Profit alles, Mensch und Natur aber nichts sind, die sollen wissen: Wir sind nicht wehrlos. Wir, die Vielen, sind bereit uns zu wehren. Wir sind bereit, dazu auch alle Möglichkeiten des Grundgesetzes zu nutzen.
Um wehrhaft zu sein, brauchen wir eine soziale und revolutionäre Umwälzung. Sie muss friedlich und demokratisch sein, aber nicht weniger radikal. Wir brauchen nicht weniger als eine zivile Rebellion gegen die Zumutungen des Neoliberalismus.
Auch das Netzwerk der solidarischen Städte zeigt das Zusammenspiel von fortschrittlichen Linken in Regierung und einer widerständischen Zivilgesellschaft. Es sind mutige Initiativen wie seawatch die Menschen auf dem Mittelmeer vorm Ertrinken retten. Und es sind fortschrittliche Köpfe in den Kommunen wie in Berlin, Barcelona, Neapel und anderswo, die die gelebte Solidarität verstärken und den Geretteten eine Heimstatt anbieten.
Und damit dieses Städtenetzwerk seine Wirkung voll entfalten kann, brauchen wir dringend einen anderen Bundesinnenminister. Seehofer ist schlicht eine Belastung für die Menschenrechte. Auch deshalb brauchen wir andere Regierungsmehrheiten im Bund.
Neue linke Mehrheiten auch im Bund
Ich laufe ja schon eine Weile rum und werbe dafür, dass wir auch im Bund den Kampf um andere Regierungsmehrheiten, um soziale Mehrheiten links der Union aufnehmen. Anfangs haben mich viele für verrückt erklärt und nur auf die Umfragen verwiesen, wo wir, SPD und Grüne zusammen noch nicht über 50% kommen.
Keine Sorge, die Grundrechenarten beherrsche ich natürlich. Jedoch bin ich der Meinung, unsere Aufgabe besteht nicht darin, die bestehenden Umfragezahlen ängstlich zusammenzuzählen. Unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, für die Mehrheiten zu kämpfen, die wir wollen. Und wenn wir für ein Projekt Begeisterung entfachen, können sich die Umfragen auch schnell verändern.
Inzwischen gibt es eine neue gesellschaftliche Dynamik. Ein steigendes Interesse an Debatten über eine linke Regierungsalternative im Bund. Zu dieser Dynamik gehört, dass der Tabubruch inzwischen auf Seiten der Linken ist. Jahrelang hat sich die Grenze des Sagbaren weiter nach rechts verschoben. Jahrelang wurde die mediale Debatte durch rechte Provokationen dominiert. Jetzt bestimmen linke Themen die Debatte wie Enteignung, Klimanotstand oder Sozialismus.
Das Interessante an der Debatte um die Aussagen von Kevin Kühnert sind doch vor allem die hysterischen Reaktionen der Marktradikalen. Sie spüren offensichtlich, dass sich das Blatt wendet und sie in Bedrängnis kommen. Es ist ein frischer Wind, der da weht, ein Wind der Veränderung.
Zu der neuen Dynamik gehört eine Vielzahl von gesellschaftlichen Initiativen wie Klimastreik, Frauenstreik, die Proteste für Freiheit im Internet, gegen den Mietenwahnsinn oder der Pflegestreik.
Viele dieser Initiativen bearbeiten ein konkretes Problem und stellen dabei oft die großen Fragen. Wir hatten ja neulich die Jugendliche von Fridays for Future in der Fraktion. Diese jungen Leute lassen sich nicht mit warmen Worten abspeisen. Richtig, denn gegen die globale Erwärmung helfen keine warme Worten, sondern nur entschiedenes Handeln für den Klimaschutz.
Kurzum diese Initiativen sind radikal in ihren Forderungen und setzen auf widerständige Methoden wie den Streik. Jedoch erwarten sie von den Parteien auch, dass sie nicht nur verbal zustimmen, sondern Veränderung wirklich bewirken.
Auch deshalb lautet unsere Aufgabe als LINKE in diesen spannenden Zeiten wie folgt: Wir müssen die Radikalisierung, die sich gerade in der Gesellschaft entwickelt, aufgreifen und in linkes Regierungshandeln übersetzen. Das wird kein Spaziergang. Aber das ist das Radikale, was gerade zu tun ist.
Wenn ich für linke Regierungsmehrheiten im Bund werbe, meine ich ausdrücklich nicht einen Kurs der Anpassung. Ich meine ausdrücklich nicht, dass wir erst mal ein paar Grundsätze über Bord werfen, um uns möglichen Koalitionspartnern anzubiedern. Nein das ist nicht die Regierungsalternative, für die ich werbe.
Es geht um grundlegende Veränderung. Stellt Euch vor, es gäbe eine Linksregierung
- die die Armut in die Geschichtsbücher verdammt,
- die Mitte deutlich besserstellt sowie
- mit Friedenpolitik und Klimaschutz dafür sorgt, dass wir alle eine Zukunft auf diesem Planeten haben.
Es geht darum, jede Möglichkeit zu nutzen, um die Kräfteverhältnisse zugunsten der Vielen zu verändern. Zugunsten derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen. Sicherlich, es gibt dabei noch tausende Hürden zu überwinden. Sicherlich, wir können damit auch scheitern. Aber ich möchte, dass die Menschen im Land nicht mehr nur zwischen kleineren Übeln wählen müssen, sondern Aussicht auf wirkliche Verbesserung haben.
Ich möchte, dass wir eine Situation schaffen, in der die Grünen im Bund am Ende Farbe bekennen müssen:
- schwarz oder rot,
- links oder rechts.
Das Vortäuschen von Klimaschutz mit der Union oder sozialen Aufbruch und mutigen Klimaschutz mit uns.
Es geht um was in Europa
Liebe Genossinnen und Genossen, in zwei Wochen wird in der EU gewählt. Es besteht die Gefahr, dass die autoritären und nationalistischen Kräfte stärker werden. Bisher dominierten die neoliberalen Kräfte der Austerität den Kurs der EU. In der Auseinandersetzung zwischen den Macrons und Salvinis, zwischen Rechten und Neoliberalen können wir zwar sagen, wer das kleinere Übel ist.
Wir müssen aber vor allem sagen, dass beide Kräfte diesem Kontinent keine Zukunft zu bieten haben – weder die Rechtsradikalen noch die Marktradikalen.
Wenn es Hoffnung für die Menschen in Europa gibt, dann liegt sie bei denen, die sich für ein soziales, friedliches und solidarisches Europa einsetzen.
Das sind wir, DIE LINKE. Denn wir streiten wir für ein Europa, in dem die Menschen an erster Stelle stehen. Für gute Löhne und mehr Zeit zum Leben. Für ein Europa, das alle von Armut befreit durch verbindliche soziale Mindeststandards. Für eine europäische Politik, die die Macht derjenigen begrenzt, die die EU allein nach ihren Interessen formen wollen. Für europäische Zusammenarbeit bei der Abrüstung und dem Verbot von Rüstungsexporten. Für ein Europa in dem gilt: Menschenrechte sind unteilbar.
Auf in den Wahlkampfendspurt
In den kommenden zwei Wochen braucht unsere Partei euch ganz besonders. Bei den Europawahlen kommt es vor allem darauf an, dass es uns gelingt, im Endspurt unsere Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren.
Nutzen wir also die kommenden zwei Wochen. Gehen wir raus zu den Menschen. Jetzt gilt es zu begeistern und zu überzeugen: an Infoständen, im Netz, bei Haustürbesuchen, vorm JobCenter, im Büro oder beim Gespräch mit den Nachbarn.
Dabei können wir mit einfachen Worten klarmachen: Hier ist unten, dort ist oben. Hier ist Zukunft, dort ist Vergangenheit. Hier ist links, dort ist recht.
Ich wünsche Euch einen guten Landesparteitag. Lasst uns die kommenden zwei Wochen den Europawahlkampf rocken! Auf in den Endspurt!