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Oskar Lafontaine

Ein Beitrag zu einer lebendigen Demokratie in Deutschland

Statement von Oskar Lafontaine bei der Vorstellung des Programmentwurfes auf der Pressekonferenz im Berliner Karl-Liebknecht-Haus am 20. März 2010

Wir haben den Programmentwurf unter die Überschrift gestellt: Wir wollen eine demokratische, eine soziale und ökologische Erneuerung. Warum eine demokratische Erneuerung? Wenn zeitnah analysiert wird, wie sich die Gesellschaft in den letzten Jahren entwickelt hat, dann stellen wir fest, dass immer weniger Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zur Wahl gehen. Das muss Gründe haben. Sie sind offensichtlich zu wenig motiviert, zur Wahl zu gehen. Bei der letzten Bundestagswahl hatten wir eine Wahlbeteiligung von etwa 70 %, bei Landtagswahlen geht das runter bis auf 40 %, bei Kommunalwahlen, bei Direktwahlen nähern sich die Beteiligungsergebnisse der 20-%-Grenze.

Wir haben nicht nur Wahlenthaltungen und einen immer größer werdenden Teil der Nichtwähler. Wir haben auch ein immer weiter verbreitetes Urteil, dass sich die Mehrheit der Menschen politisch nicht mehr vertreten fühlt. In vielen Untersuchungen zeigt sich, dass sowohl in der Sozialpolitik als auch in der Steuerpolitik, als auch in der Lohnpolitik und auch in der Außenpolitik zwei Drittel der Menschen die Entscheidungen der Parlamente ablehnen. Diese Entwicklungen verlangen eine zeitgemäße Antwort. Die zeitgemäße Antwort, die wir geben, ist zunächst einmal die, dass die Bürgerinnen und Bürger direkt an solchen Entscheidungen zu beteiligen sind – also mehr direkte Demokratie. In diesem Punkt folgen uns auch andere Parteien. Insofern ist die Forderung nach Volksbegehren, Volksentscheiden usw. kein Alleinstellungsmerkmal der LINKEN, sieht man einmal davon ab, dass etwa bei Europa-Verträgen immer die mit uns konkurrierenden Parteien der Auffassung sind, im Gegensatz zu anderen Ländern seien die Menschen direkt an der Entscheidung nicht zu beteiligen.

Der zweite Punkt: Wir glauben, dass in den letzten Jahren aufgrund der Veränderungen der Machtstrukturen in der Gesellschaft, des zunehmenden Konzentrationsprozesses, der Lobbyismus immer stärker die politischen Entscheidungen bestimmt, denn nur hier ist ja eine der Ursachen zu suchen, warum die Entscheidungen der Parlamente oft nicht mehr auf die Zustimmung der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zählen können. Deshalb haben wir im Gegensatz zu anderen Parteien Vorschläge, den Lobbyismus und die Verfremdung der parlamentarischen Entscheidungen zurückzudrängen. Das ist einmal, dass wir sagen, jawohl, auch nach den jüngsten Erfahrungen, wir wollen Unternehmensspenden an politischen Parteien nach dem Vorbild Frankreichs verbieten. Wir hätten dann die Mövenpick-Spende nicht gehabt. Wir hätten auch nicht an der Saar beispielsweise den Sachverhalt gehabt, dass ein der FDP angehörender Unternehmer die Grünen mit einer solch hohen Spende bedacht hat, dass man sie als gekauft bezeichnen muss. Ich glaube, dass das ein wichtiger Vorschlag zur Erneuerung unserer demokratischen Landschaft wäre, den wir natürlich auch noch um den Vorschlag ergänzen, dass Parlamentarier nicht gleichzeitig auf der Lohnliste von Großunternehmen, Wirtschaftsverbänden usw. stehen sollten, denn nach allen Erfahrungen, die wir gemacht haben, führt dies dazu, dass diese Parlamentarier sich letztendlich dann dem Geldgeber verpflichtet fühlen und entsprechend im Parlament votieren. Der Parlamentarismus ist ursprünglich nicht anders konzipiert. Der Abgeordnete sollte in erster Linie seiner Urteilskraft und seinem Gewissen verpflichtet sein, nicht ökonomischen Verpflichtungen. Also demokratische Erneuerung in doppeltem Sinne, Volksbegehren und Volksentscheide, aber auch Bekämpfung des Lobbyismus in den Parlamenten.

Wir glauben im Übrigen auch, dass ganz entscheidend die Wirtschaftsstruktur die Freiheit und die Spielräume der Politik bestimmt. Daher schlagen wir im Gegensatz zu anderen Parteien vor, die Wirtschaftsstruktur zu verändern. Wir beginnen bei dem Finanzsektor, weil wir festgestellt haben und hier auf große Zustimmung in der öffentlichen Diskussion gestoßen sind, dass kein großer Industriestaat in der Lage ist, den Finanzsektor zu regulieren. Wir haben jetzt seit eineinhalb Jahren das öffentliche Diskutieren der Finanzkrise. Sie ist ja schon seit längerer Zeit am Laufen, aber seit eineinhalb Jahren ist bisher nirgendwo eine wirkliche strukturelle Veränderung des Finanzsektors beschlossen worden. Es gibt Hunderte Vorschläge. Allgemein wird bilanziert, dass der Finanzsektor nach wie vor die Methoden praktiziert, die er schon vor der Krise praktiziert hat, dass mit Giftpapieren gehandelt wird, dass in Steueroasen gehandelt wird, das Boni in völlig unverhältnismäßiger Höhe gezahlt werden usw. Daher muss hier etwas mehr geschehen, als der bloße Erklärungsparlamentarismus. Wir sagen daher, wir brauchen einen öffentlichen Bankensektor, im Gegensatz zu den anderen Parteien. Wir sind der absoluten Überzeugung, dass ein privater Bankensektor in der heutigen Zeit mit den Konzentrationsprozessen, die wir weltweit haben, die Demokratie gefährdet, die Demokratie aushöhlt. Letztendlich ist dies ja schon vor zehn Jahren amtlich festgestellt worden, als Tietmeyer den im Schweizerischen Davos versammelten Politikern erklärte: sie sind jetzt alle der Kontrolle der Finanzmärkte unterworfen. Er hätte auch sagen können, der Finanzindustrie unterworfen. Nichts anderes ist ja die aktuelle Realität. Also hier ist DIE LINKE eine Alternative zu den anderen Parteien. Der Hinweis, der dann oft kommt, auf die Landesbanken geht fehl, weil die Landesbanken zunächst mal durch die Entscheidungen der Kommissionen ihr Geschäftsmodell entzogen bekamen, und weil sie gedrängt wurden, sich für die Privatisierung fitzumachen. Was dabei herausgekommen ist, können Sie dann sehen. Das heißt also, nicht nur die Veränderung der Eigentümerstruktur ist dringend notwendig, sondern auch staatliche Regulierungen hinsichtlich der zulässigen Geschäfte. Wir sehen ja etwa auf der Sparkassenebene, dass so etwas funktioniert und Gefährdungen in dieser Größenordnung, wie wir sie erlebt haben, nicht ausweisen.

Zweiter Punkt, Energiewirtschaft: Auch hier glauben wir, dass wir eine andere Eigentümerstruktur brauchen. Ich will nur darauf hinweisen, dass beispielsweise die Netzverstaatlichung in unseren Nachbarländern im Norden von konservativen Regierungen auf den Weg gebracht worden ist und dass schon der klassische Liberale John Stuart Mell darauf hingewiesen hat, dass man Netze, wo man also nicht mehrfach konkurrierende Netze miteinander haben kann, in öffentlicher Verantwortung haben muss. Ich glaube, das zu begründen, ist nicht sonderlich schwierig. Wir glauben aber auch, angesichts des nicht vorhandenen Wettbewerbs – denken Sie an die Benzinpreise, denken Sie an die Strompreise, denken Sie an die Gaspreise –, dass hier eine Veränderung der Eigentümerstruktur notwendig ist, wie sie in vielen anderen Staaten diskutiert worden ist. Wir können nicht erkennen, dass die jetzige Struktur durchgreifend zu einer Veränderung dieses Sachverhalts führen wird.

Damit sind wir, wenn wir über die demokratische Erneuerung sprechen, bei dem Thema der Freiheit und damit auch bei dem Thema der Eigentumsordnung. Es ist allgemein in der liberalen Theorie – Lothar Bisky hat mir das Stichwort gegeben – die These, dass Eigentum Freiheit begründet. Das Erstaunliche ist, dass die Mehrheit der Diskussionsteilnehmer dann nicht zu dem Schluss kommt, dass man dann Eigentum für alle fordern müsste, weil ja nur so dann für alle Freiheit begründet werden könnte. Das ist ein erstaunlicher Widerspruch in der Debatte, wo ich noch kein irgendwie geartetes Argument gehört habe, das diesem Widerspruch auflösen würde. Wir sind also der Auffassung, dass wir, wenn wir Freiheit wollen, am Eigentum ansetzen müssen, insbesondere natürlich in den Betrieben und dass das Eigentum in den Betrieben in erster Linie durch Belegschaftsbeteiligungen verändert werden muss. Wenn Sie von Belegschaftsbeteiligungen hören, dann möchte ich darauf hinweisen, dass noch in den 70er Jahren – ich habe das im Bundestag ausführlich mehrfach dargelegt – auch die Liberalen der Auffassung waren, dass der Zuwachs des Betriebsvermögens an die Belegschaften gehen müsse, weil sonst dieser Zuwachs die Freiheit aushöhlen würde. Wir machen hier also einen Vorschlag, die Freiheit in unserer Gesellschaft und die Verantwortung weiter zu verankern. Das geht eben nur, wenn man endlich akzeptiert, dass Eigentum die Grundlage der Freiheit ist und die Verfügung über Eigentum und dass damit eben die Belegschaften in größerer Form als bisher an dem von ihm erarbeiteten Vermögen zu beteiligen sind. Hier gibt es einen interessanten Widerspruch in der öffentlichen Debatte. Dann würde ich also darum bitten, dass man ihn mal aufgreift und ihn auch entsprechend formuliert. Ich lese, DIE LINKE will Enteignung. Das ist eine gravierende Verleumdung. Das ist völliger Unfug. DIE LINKE möchte die Enteignung rückgängig machen. Wir haben derzeit gravierende Enteignungen. Auch wenn wir jahrzehntelang gelernt haben, dass diese Enteignung keine Enteignung sei, so ist sie dennoch eine Enteignung. Ich will das jetzt auf den Punkt bringen: Wer behauptet, dass große Vermögen von VW beispielsweise sei von Herrn Piech geschaffen, dann muss er das auch begründen. Wer aber zu der schlichten Einsicht kommt, dass kann ja gar nicht sein, der muss dann eine andere Antwort finden. Wer behauptet, dass Vermögen von BMW sei von den Damen Quandt und Klatten geschaffen worden, der muss das dann bitteschön auch sagen. Wir lachen über solche Festschreibungen, die wir in ungezählter Form immer wieder sehen. Das ist einfach nicht wahr. Das Eigentum von BMW ist nicht von diesen Frauen geschaffen worden. Es ist von vielen Tausenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geschaffen worden. Ich könnte das fortführen. Der Unternehmerlohn, der soll sein, aber es kann nicht sein – und hier komme ich nochmal zurück auch zu klassischen liberalen Positionen –, dass eben der Zuwachs des Vermögens einseitig einzelnen Personen zugeschrieben werden und ein freiheitsgefährdender Prozess weitergeht. Wir sind also an dieser Stelle nach unserem Verständnis mit unseren Strukturvorschlägen die Partei der Freiheit. Unser Zukunftsentwurf ist eine Mitarbeitergesellschaft, nicht eine Struktur, wie wir sie derzeit haben.

An dieser Stelle schließen wir nicht nur zum Begriff der Demokratie und zum Begriff der Freiheit auf. Wir schließen genauso zur ökologischen Fragestellung auf, weil wir der Auffassung sind, dass eine ökonomische Ordnung, die auf Expansion angelegt ist, nur in der Expansion gesteuert und letztlich auch begrenzt werden kann, wenn man eben in größerer Form öffentliches und Belegschaftseigentum hat. Hier verbinden sich also Freiheit, Demokratie und Ökologie, konkret noch einmal an der Energiewirtschaft erläutert. Es ist naiv, wenn beispielsweise die Grünen glauben, mit der jetzigen Eigentümerstruktur sei letztendlich die ökologische Frage zu lösen. Wir haben an dieser Stelle – das will ich nicht im Geringsten leugnen – keine abschließenden und perfekten Antworten. Wir sind aber der Überzeugung, dass große Monopole, die auf Expansion getrimmt sind, letztendlich nicht dazu führen werden, dass die ökologische Frage beantwortet wird. Ein kleiner Hinweis: Ein Hauch des Freiburger Programms ist bei der FDP noch auszumachen, wenn jetzt ein Entwurf diskutiert wird, die Kartellnovelle zu verschärfen und sogar zu entflechten – Sie werden das gelesen haben –, so dass man die FDP ironischer weise verdächtigen könnte, an dieser Stelle hinsichtlich der kritischen Würdigung der Machtstrukturen von der LINKEN in der letzten Zeit gelernt zu haben.

Also drei Zielsetzungen: demokratische Erneuerung, eine andere Begründung der Freiheit in unserer Gesellschaft und letztendlich die Suche nach einer Wirtschaftsordnung, die die ökologische Frage beantwortet.

Dass wir bei der ökologischen Frage auch die Außenpolitik mit einbeziehen, ist gerade nochmal heute im Vorstand diskutiert worden. Es wurde darauf hingewiesen, dass es wirklich eine grüne Außenpolitik gibt, aber nicht etwa die, die die Partei der Grünen derzeit vertritt – mit militärischen Interventionen zur Sicherung von Öl- und Gasfeldern. Eine Außenpolitik der Grünen muss zunächst einmal kritisch hinterfragen, ob es richtig ist, sich Öl- und Gasfelder militärisch zu sichern. In der klassischen Sprache hieß das früher einmal Imperialismus, aber es ist heute nur schöner formuliert. Sie muss insbesondere zu dem Ergebnis kommen, dass Krieg die schlimmste Form der Umweltzerstörung ist und dass im Grunde genommen Kriegsbefürwortung und ökologische Erneuerung die größten Widersprüche sind, die man sich überhaupt vorstellen kann.

Letzte Bemerkung: Wir haben natürlich eine intensive Diskussion immer wieder zu dem Thema Regierungsbeteiligung – Ja oder Nein. Sie haben das ja, soweit Sie das kommentiert haben, auch angesprochen. Es gibt bei uns niemanden, der gegen Regierungsbeteiligungen ist. Ich will das noch einmal sagen: Der Streitpunkt ist immer nur der, unter welchen Bedingungen man das macht. Das ist ja wohl ein zulässiger Streit. Im Übrigen ist das ein Streit, von dem ich weiß, dass er auch quer durch andere Parteien geht. Es ist auch nicht so – das sage ich gerade im Hinblick auf NRW –, dass man behaupten kann, DIE LINKE hätte sich an Regierungsbildungen im Westen verweigert und sei nur bereit, im Osten Regierungen zu bilden. Ich bitte noch einmal aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit doch einzuräumen, dass in Hessen die Regierungsbildung nicht an der LINKEN gescheitert ist. Ich weiß als jemand, der dabei war, bis ins Detail, dass an der Saar die Regierungsbildung nicht an der LINKEN gescheitert ist. Ich weiß, dass in Thüringen die Regierungsbildung nicht an der LINKEN gescheitert ist. Ich weiß im Vorfeld der hamburgischen Diskussionen, dass auch in Hamburg eine andere Diskussion möglich gewesen wäre, hätte nicht die SPD das kategorisch ausgeschlossen. In NRW erleben wir folgendes: Die Grünen suchen einen Vorwand, nicht mit uns zusammenzuarbeiten und mit der CDU ins Koalitionsbett zu schlüpfen, und die SPD weiß wieder nicht was sie will. Dabei wäre NRW nun tatsächlich eine Entscheidung, um ein Stück, einen Anfang sozialer Erneuerung in Deutschland in der Form auf den Weg zu bringen, als eben die Krise nicht der großen Mehrheit der Bevölkerung aufgebürdet wird.

Fazit also: Unter der Überschrift demokratische Erneuerung, Fundierung der Freiheit durch moderne Eigentumsstruktur und Versuch, eine ökologische Wirtschaftsordnung zu finden ist dieses Programm eine moderne Antwort. Es wird natürlich noch innerhalb der Partei diskutiert werden und wird auch noch – so hoffen wir – da und dort Verbesserungen haben. Aber ich glaube, es ist ein Versuch der Partei DIE LINKE, ihre Position innerhalb der Bevölkerung weiter zu stärken und damit zu einer lebendigen Demokratie in Deutschland beizutragen.