Eine andere Welt ist möglich
Belém im brasilianischen Amazonasgebiet war Schauplatz des 9. Weltsozialforums 2008. Die Amazonasmetropole mit ihren ca. 1,6 Mio Einwohnern ist ein Abbild der aktuellen Entwicklungen in weiten Teilen der Welt. - Thomas Händel
Belém im brasilianischen Amazonasgebiet war Schauplatz des 9. Weltsozialforums 2008. Die Amazonasmetropole mit ihren ca. 1,6 Mio Einwohnern ist ein Abbild der aktuellen Entwicklungen in weiten Teilen der Welt. Rund zwei Drittel der Einwohner leben in eher armen Verhältnissen, südamerikanische Favelas (Armenviertel) mit offenen Abwasserkanälen prägen die Randgebiete der Stadt. Die Innenstadt selbst, mit einer Hochhaus-Skyline und den touristischen Highlights, überdeckt die sozialen Konflikte nur spärlich. Auch hier leben Menschen in der Kanalisation, gleichen Stadthäuser von Wohlhabenden mit hohen Gittern und elektrischen Sicherungszäunen Hochsicherheitstrakten gegen die hohe Armutskriminalität. Die Entscheidung für diese höchst gefährdete Region fiel unter dem Vorzeichen der weltweiten Debatte über den Klimawandel. Aktuell überlagert wurde das Weltsozialforum jedoch durch die Auswirkungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise.
Nach dem auch hier zu verzeichnenden Boom der letzten Jahre, augenfällig durch die enorm gewachsene Zahl von Fahrzeugen, scheint nun die Finanzkrise auch hier angekommen. Rund ein Dutzend im Bau befindliche Wolkenkratzer haben Baustillstand – der vorwiegend mit ausländischem Kapital finanzierte Immobilienboom ist gestoppt. Regierungsinvestitionen hatten die Stadt für das Weltsozialforum auf Vordermann gebracht. Eine langfristige Entwicklung erwarten die Einwohner Beléms allerdings nicht: „Wenn ihr hier weg seid, ist wieder alles beim Alten“ formuliert eine Beléma. Dennoch: das Weltsozialforum tut Stadt und BewohnerInnen gut, zumindest für eine kurze Zeit.
Rund hunderttausend Teilnehmer
Delegierte von mehr als 4.000 sozialen Bewegungen, Abgesandte indigener Völker, von Gewerkschaften, Kirchen und nichtstaatlichen Organisationen sind nach Belém gekommen. Alleine diese Teilnehmerzahl deutet darauf hin, dass die Bewegung nicht an Schwung verloren hat, wie so mancher Skeptiker meint. Dennoch hat die Weltsozialforums-Bewegung Probleme, die einer baldigen Lösung bedürfen, will sie ihre wichtige Bedeutung behalten und stärken.
Deutlich mehr als achtzig Prozent der Teilnehmer kommen aus Südamerika. Selbst für sie ist Belém nur schwer und vor allem nur mit dem nötigen Kleingeld zu erreichen. Ein „südamerikanisches Sozialforum mit internationalen Gästen“, so kritisieren manche Teilnehmer und auch ausländische Beobachter. Der Anspruch der Statuten des Weltsozialforums „... ein Weltprozess zu sein“, und das „alle Versammlungen und Konferenzen, die als Teil dieses Prozesses abgehalten werden, (…) eine internationale Dimension“ haben, kann damit kaum gewährleistet werden.
Die Zahl der Teilnehmer und die Zahl der Veranstaltungen überfordern auch die Organisatoren selbst. Rund 2000 Veranstaltungen sind nicht nur für die Teilnehmer äußerst unübersichtlich; ein auf 10 Mio. Dollar angewachsenes Budget reicht trotz allem nicht aus, um alle Veranstaltungen mit den nötigen ÜbersetzerInnen auszustatten, wie Sprecher des internationalen Rates einräumen. So bleibt die internationale Dimension des Austausches weitgehend auf die spanisch und portugiesisch sprechenden TeilnehmerInnen begrenzt – Übersetzungen ins Englische und Deutsche sind eher selten, Französisch oder Arabisch suchte man vergebens.
Manche Veranstaltungen litten unter Teilnehmermangel, andere waren mehr als gut besucht. Die Veranstaltungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit entsprechender Übersetzung waren sehr begehrt. Ihre Veranstaltung zur Kriminalisierung von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften in Lateinamerika platzt aus allen Nähten. Hier funktioniert der kontinentale Austausch. Die große Anzahl an Beispielen von brutalsten Übergriffen, verschwundenen Aktivisten und zerhackten Menschen, die sich gegen Staudamm-Projekte oder für die Siedlungsrechte der indigenen Bevölkerung einsetzten, ist vielen europäischen Teilnehmern nicht bewusst. Dagegen leidet das Forum der Arbeit, von der brasilianischen Arbeitspartei (Partido do Trabajo - PT) organisiert, ebenso wie der Kubanische Pavillon zum 50.Jahrestag der Revolution unter anderem an den Defiziten in der Übersetzung.
Schwierig auch das Verhältnis zur Regierungspolitik. Die Veranstalter hatten vier linksgerichteten Präsidenten Südamerikas nach Belém zum Abschlusstag eingeladen - nicht jedoch Brasiliens Präsidenten Lula da Silva. Sie sollten dort mit den Kernforderungen des Weltsozialforums konfrontiert werden. Viele Kritiker empfanden dies als Vereinnahmung durch die Politik. Lula da Silva - als alter, politisch erfahrener Fuchs – lud sein Präsidenten-Kollegen jedoch bereits für den Mittwoch vor der Abschlusskundgebung ein, überrascht damit Organisatoren wie Teilnehmer und brachte den Veranstaltungskalender gehörig durcheinander. In einer kurzfristig organisierten „Diskussion“ mit Event-Charakter warben dann alle fünf vor einem ausgesuchten Teilnehmerkreis für ihre Politik. Brasiliens Staatschef Lula da Silva sparte dabei nicht mit Kritik an den Industrienationen. "Das ist ihre Krise, nicht die unsere", rief er den Anwesenden zu. Europäer und Nordamerikaner hätten ihn jahrelang gedrängt, den Einfluss des Staates zu reduzieren und die Wirtschaft zu öffnen. Für ihn sei dieses Prinzip gescheitert. "In der jetzigen Krise muss der Staat die Verantwortung übernehmen für Investitionen. Jetzt ist die Zeit, Geld in den produktiven Sektor zu stecken.“ Mit seiner Ankündigung zur Erhöhung des brasilianischen Mindestlohns hatte Lula denn auch einen weiteren Trumpf im Ärmel. Die weltweite Resonanz bestätigte den politischen Rückenwind des Auftretens der Politiker – ein wesentlicher Punkt, zu dem der internationale Rat künftig sein Verhältnis klären muss.
Wege über das System hinaus
Beim Weltsozialforum wurden viele Wege aus der Krise diskutiert. Im Vorfeld hatten Beobachter jedoch keine einheitliche Abschlusserklärung erwartet. Zu heterogen seien die Netzwerke und Bewegungen. Das Abschlussplenum bewies das Gegenteil:
(...) „ Wir stehen vor einer Krise, die durch den globalen Kapitalismus verursacht wurde. Es gibt keine Ausfahrt in diesem System. Alle Maßnahmen sind darauf gerichtet, zur Überwindung der Krise nur die Verluste sozialisieren und das Überleben des Systems sicherzustellen (...) Zur Bewältigung dieser Krise müssen wir an die Wurzel der Probleme und so schnell wie möglich auf den Weg einer radikalen Alternative, die die Beseitigung des kapitalistischen Systems und der patriarchalen Herrschaft ..“ zum Ziel hat.
Auf diese Weise haben wir zu kämpfen für die weite populäre Mobilisierung für eine Reihe von dringenden Maßnahmen, wie z. B.:
- Die Nationalisierung der Banken, ohne Entschädigung und unter gesellschaftlicher Kontrolle
- Die Verkürzung der Arbeitszeit ohne Verringerung der Löhne
- Maßnahmen zur Sicherung der Souveränität von Nahrungsmittel- und Energieversorgung
- Ende des Krieges, den Besatzungstruppen und Abbau der ausländischen Militärbasen
- Anerkennung der Souveränität und Unabhängigkeit der Völker, und des Rechts auf Selbstbestimmung
- Garantie des Rechts auf Land, Land, Arbeit, Bildung und Gesundheit für alle
- Demokratisierung der Medien und des Wissens.“ (...)
Mit dieser Erklärung zeigte das Weltsozialforum einen deutlichen Schulterschluss über alle Differenzen hinaus und setzt klare Forderungen an die gesellschaftlichen und politischen Akteure weltweit. Aufgerufen wurde zu einer weltweiten Woche der Aktion gegen den Kapitalismus und den Krieg vom 28. März bis 4. April 2009. Auch die großen Demonstrationen am 28. März in Deutschland sollen in diesen Zusammenhang gestellt werden, wie einige deutsche VertreterInnen bestätigten.
Wie weiter?
Während nicht unwesentliche Stimmen dafür plädieren, den "Marktplatz der Ideen“ in seiner jetzigen Form „zu erhalten", sprechen sich andere gegen das derzeitige Modell Weltsozialforum aus und halten es für überlebt. Zu Beginn des Jahrzehnts wichtig, um ein Zeichen gegen Weltwirtschaftsforum in Davos und den Neoliberalismus zu setzen, den verschiedenen Akteuren der sozialen Bewegung eine Bühne und die Chance zum Austausch zu bieten, um Strategien zu entwickeln und um die Bewegung zu einen, bedarf es nun einer Weiterentwicklung.
Alleine der Aufwand und die Kosten, Aktivistinnen aus aller Welt in dieser Anzahl zusammen zu bringen, spricht für grundsätzliche Überlegungen. Auch die Überfall-artige Entscheidung für ein wiederholtes Stattfinden in Brasilien, das die südamerikanischen Mitglieder im internationalen Rat gegen die Afrikaner durchsetzten, kann nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen sein. Ein Weltsozialforum mit diesem Anspruch und in dieser Form erfordert ein rotierendes Stattfinden in allen Erdteilen. Lula teilt diese Einsicht. Er plädierte dafür, das kommende Weltsozialforum entweder in den Vereinigten Staaten oder im Nahen Osten stattfinden zu lassen.
Nicht wenige Organisationen verzichten aber bereits heute aus finanziellen Gründen auf eine Teilnahme. Ein Weltsozialforum, an dem nur der wohlhabendere Teil der Linken teilnimmt, wird aber an Ausstrahlung und Signalwirkung verlieren.
Eine Alternative könnte die stärkere Dezentralisierung bzw. Kontinentalisierung der Foren sein. Ein auf dieser Basis aufbauendes und zusammenfassendes zweijähriges Weltsozialforum mit einem geringeren, möglicherweise aber auch strukturierteren Teilnehmerfeld nach Regionen und Erdteilen, und einer geringeren Anzahl von Veranstaltungen würde sowohl den übersetzungsbedingten Aufwand reduzieren als auch den Austausch der unterschiedlichen Positionen positiv befördern und die Bewegung weiter stärken. Sie wird es brauchen.
* Thomas Händel ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Gewerkschafter und Teilnehmer des 9. Weltsozialforums.