Frieden hat für uns Linke absolute Priorität
Aus der Rede des Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden der Partei DIE LINKE Lothar Bisky während abschließenden Lesung des EU-Reformvertrages von Lissabon
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DIE LINKE engagiert sich für ein Europa des Friedens, der Freiheit, der Demokratie, der sozialen und ökologischen Sicherheit und der Solidarität.
Wir sind in diesem Hause die Einzigen, die dem Vertrag von Lissabon die Zustimmung verweigern. In der Gesellschaft und in Europa stehen wir mit unserer kritischen Haltung keineswegs allein da.
Auf der europäischen Ebene - auch in Deutschland - haben Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ihre Bedenken gegen den neoliberalen Geist des Lissabon-Vertrages deutlich gemacht. Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA, lehnt den Lissabon-Vertrag ab und fordert die SPD-Abgeordneten auf, diesem Vertrag im Bundestag nicht zuzustimmen. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges fordern, den EU-Vertrag nicht zu ratifizieren. Ob Pax Christi oder Attac, sie alle weisen darauf hin, dass der Lissabon-Vertrag nicht den Interessen der Mehrheit der Menschen entspricht.
Wer also meint, nur DIE LINKE habe Bedenken, irrt gewaltig und sollte sich mit den Positionen von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und anderen Initiativen und Verbänden auseinandersetzen.
Wenn Herr Kollege Beck der Ansicht ist - das hat er nicht hier, aber an anderer Stelle gesagt -, dass man mit einer Partei, die diesen EU-Vertrag ablehnt, nicht koalieren könne, dann sage ich als Antwort darauf ganz deutlich: Wenn sich Regierungsfähigkeit an der Akzeptanz von Beihilfe zum Sozialdumping bemisst, dann wollen wir nicht regierungsfähig sein.
Wieder liegt uns eine Vertragsänderung und keine Verfassung für die Bürgerinnen und Bürger der Union vor. Der Verfassungsentwurf wurde von der französischen und der niederländischen Bevölkerung abgelehnt.
Der französische Altpräsident Giscard d'Estaing sagt über den heute auf dem Tisch liegenden Vertrag, er unterscheide sich nur unwesentlich vom Verfassungsentwurf. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Von einer Vereinfachung der EU-Verträge und von mehr Transparenz kann leider keine Rede sein. Wir hätten dringend rechtzeitig eine lesbare Fassung gebraucht. Glasnost auch für Europa! Einen Antrag dazu hat die Linksfraktion vorgelegt; denn das gesamte Vertragswerk ist für normale Menschen schwer verständlich. Europapolitik wird so zunehmend eine Auslegungssache für Juristinnen und Juristen. Ich frage Sie: Wie sollen sich denn so die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union mit Europa identifizieren können?
Die EU-Kommission finanziert Werbekampagnen, um den Menschen, wie es heißt, Europa zu erklären. Ich sage Ihnen: Solange Sie eine Politik über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg machen und solange die Menschen nicht das Gefühl haben, am Bau des europäischen Hauses beteiligt zu sein, so lange ist das herausgeschmissenes Geld.
Die Art und Weise des Zustandekommens dieses Vertrages spricht Bände. Es ist ein Vertrag der Regierenden, nicht der Bürgerinnen und Bürger.
Wieder tagte eine Regierungskonferenz hinter verschlossenen Türen, wieder konnten sich die Bürgerinnen und Bürger nicht an der Gestaltung der vertraglichen Grundlagen der Zukunft der Union beteiligen. Über das Ergebnis dürfen sie nicht mitentscheiden. Das Einzige, was sie dürfen, ist, die Zeche zu bezahlen. Eine solche Politik lehnen wir ab. Europapolitik darf nicht länger eine Politik von Eliten für Eliten sein. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger wollen ihr Europa mitgestalten. Dafür müssen sie über die Grundausrichtung europäischer Politik mitentscheiden können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, dass Sie die Bevölkerung von der Entscheidung ausschließen, zeigt, dass Sie dem Vertrag von Lissabon selber nicht über den Weg trauen; sonst hätten Sie doch nichts zu befürchten. Wir Linken wollen eine Volksabstimmung. Hier sind wir nicht allein.
Alle in der Europäischen Linkspartei zusammengeschlossenen 28 Parteien fordern Volksabstimmungen über das Fundament des europäischen Hauses. Wir verweisen da auf Irland; das ist ein vernünftiger Weg.
Nicht nur die Linksparteien, auch die Friedenskoordination Berlin, die Initiative "Mehr Demokratie" und weitere Initiativen haben Unterschriften für ein Referendum in Deutschland zum Vertrag von Lissabon gesammelt. Diese Unterschriften werden heute dem Bundestag übergeben.
Wir Linken sind engagierte Internationalisten, und wir sind proeuropäisch.
Wir leben und arbeiten in Europa und in Deutschland, und wir fühlen uns für die Entwicklung Europas mit verantwortlich.
Nach den wenig erfolgreichen und vor allem undemokratischen und intransparenten Regierungskonferenzen von Amsterdam und Nizza wurde ein Konvent einberufen. Das haben wir begrüßt. Wir haben aktiv an der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes mitgearbeitet, ebenso an der Grundrechtecharta der EU.
Europa liegt auch uns am Herzen. DIE LINKE ist für Europa. Es gibt aber genügend Gründe, heute mit NEIN zu stimmen.
Dass wir als Linke den Vertrag von Lissabon in der vorgelegten Fassung ablehnen, hat einzig inhaltliche Gründe. Wir übersehen nicht, dass dieser Vertrag gegenüber dem Vertrag von Nizza durchaus Verbesserungen bringt; das betrifft beispielsweise die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, die stark erweitert werden, und die Beteiligung der nationalen Parlamente, erste Schritte zu mehr direkter Demokratie. Wir verleugnen das Positive nicht.
Der Vertrag von Lissabon bringt aber leider vor allem gravierende Nachteile. Von diesem Reformvertrag geht kein Friedenssignal aus.
Die Bestimmungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind nun vor allem militärisch geprägt. Wir halten diese Ausrichtung für falsch und auch für gefährlich.
Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf schrittweise Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten, Art. 42 Abs. 3, heißt doch im Klartext: ständige Aufrüstung.
Im Sinne einer friedlichen, demokratischen, sozialen und ökologischen Entwicklung brauchen wir aber mehr Abrüstung. Für ebenso kontraproduktiv wie überflüssig halten wir die Battle-Groups. Zur Terrorismusbekämpfung taugen sie nicht, und weltweite Militärinterventionen sind der falsche Weg, um Frieden zu erhalten oder herzustellen.
Wir bleiben dabei: Wir sagen Ja zur Selbstverteidigung, aber außerhalb des Hoheitsgebietes der EU sollen militärische Operationen der EU nicht stattfinden.
Aufrüstung ist ein falsches Signal. Es muss Schluss sein mit dem historischen Völkergemetzel der vergangenen Jahrhunderte. Um die Probleme der Europäischen Union und die globalen Probleme zu lösen, brauchen wir politische Mittel.
Wir wollen keine völkerrechtswidrigen Kriege, sondern friedliche Lösungen politischer und sozialer Konflikte. Das heißt, wir wollen ein vertraglich zu verankerndes Verbot von Angriffskriegen, eine strikte Bindung an die UN-Charta und die Einhaltung der international anerkannten Völkerrechtsnormen.
Frieden hat für uns Linke absolute Priorität.
Man hört, dass DIE LINKE wegen ihrer friedlichen Außenpolitik angeblich nicht salonfähig ist. Wenn die Meinung der anderen Parteien darin besteht, dass weitere kriegerische Lösungen anzustreben sind, dann sind wir froh, nicht salonfähig zu sein.
Wenn die Salonfähigkeit durch Krieg definiert wird, dann heben wir uns gerne davon ab. Zu einem solchen Salon begehren wir keinen Einlass.
Mit der Einrichtung einer ständigen strukturierten Zusammenarbeit für militärisch besonders anspruchsvolle Staaten wird ein militärisches Kerneuropa auf den Weg gebracht. Im Vertrag von Nizza war eine verstärkte Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen durch Art. 27 b noch explizit ausgeschlossen. Das hätte so bleiben müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Regelungen, die Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen haben, sind uns sehr wichtig, weil durch sie in das Leben von fast einer halben Milliarde Menschen eingegriffen wird. Ich habe wohl zur Kenntnis genommen, Herr Beck, dass die soziale Frage auch bei Ihnen eine wichtige Rolle spielt.
Ein neoliberaler europäischer Binnenmarkt und eine neoliberale Wirtschafts- und Währungspolitik, mit denen vornehmlich auf Wettbewerbsfähigkeit und Preisstabilität gesetzt wird, haben den meisten Menschen in Europa mehr geschadet als genutzt.
Unsichere Jobs und massenhaft niedrige Löhne sind das Ergebnis dieser Politik. Trotzdem ist der Vertrag von Lissabon nicht grundlegend verändert worden. Zwar wurde in Art. 3 EUV die soziale Marktwirtschaft als Ziel der EU definiert, gleichzeitig wurde sie aber an die Wettbewerbsfähigkeit gebunden. In den Art. 119 und 120 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union wird das Ziel der sozialen Marktwirtschaft jedoch wieder zurückgenommen, indem von offener Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb die Rede ist. Dies ist nicht nur widersprüchlich. Nun kann sich jede und jeder beliebig aussuchen, was gebraucht wird. Letztlich entscheiden die Gerichte. Wohin das führt, haben die jüngsten drei Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu Viking, Laval und Rüffert deutlich gezeigt: zu Lohndumping, zu Sozialdumping und zu einem eingeschränkten Streikrecht.
Wir haben uns gefragt, wie der Vertrag wirtschaftlich, sozial und politisch interpretiert wird. Unsere Befürchtungen sind durch die drei Urteile des Europäischen Gerichtshofes bestärkt worden.
Meine Damen und Herren, sagen Sie den Beschäftigten, was diese Urteile für sie bedeuten. Die Befürchtungen der Linken waren und sind begründet. Sie werden durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes vollauf bestätigt; denn diese Urteile sind eindeutig gegen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerichtet. Diese Entwicklung ist verhängnisvoll.
Wir lehnen eine solche neoliberale Politik ab. Wir können es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, einer Politik Vorschub zu leisten, die den Unternehmen Extraprofite sichert, den Beschäftigten aber nicht einmal Mindestlöhne gönnt. Unsere Vorstellung von Europa ist nicht, dass Sozialabbau Gesetzescharakter erhält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ich bin sicher, dass auch manch eine oder manch einer in Ihren Reihen von den arbeitnehmerfeindlichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes kalt erwischt wurde. Der Europäische Gerichtshof hatte den Vertrag von Nizza auszulegen. Um solche Urteile in Zukunft zu vermeiden, muss der Vertrag von Lissabon geändert werden, zum Beispiel durch ein weiteres Protokoll zum Vertrag, das eine soziale Fortschrittsklausel beinhaltet. Dazu haben wir einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
Wir Linken wollen eine Europäische Union, die sich in ihren Werten zur Sozialstaatlichkeit bekennt, und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch im Detail.