Gegen Gewalt in der Westsahara und die fortdauernde Besatzung
Brief des Geschäftsführenden Parteivorstandes der Partei DIE LINKE an den UN-Sicherheitsrat bezüglich der jüngsten Gewalt in der Westsahara und die fortdauernde Besatzung
Sehr geehrte Frau Vorsitzende Woodward, sehr geehrter Herr Generalsekretär Guterres, sehr geehrte Mitglieder des Sicherheitsrats,
wir, der Geschäftsführende Parteivorstand der deutschen Partei DIE LINKE, stellvertretend für die über 60.000 Parteimitglieder, bringen unsere große Sorge über das jüngste Aufflammen der Gewalt in der Westsahara und die nunmehr 46 Jahre währende Besatzung des ressourcenreichen Territoriums durch das Königreich Marokko zum Ausdruck.
Im November 2020 brach Marokko nach 29 Jahren den mit der sahrauischen Befreiungsbewegung Frente Polisario ausgehandelten Waffenstillstand. Zuvor blockierten sahrauische Aktivistinnen und Aktivisten friedlich eine Handelsroute, die in der neutralen Pufferzone zwischen den besetzten Gebieten der Westsahara und Mauretanien liegt. Das marokkanische Militär drang am 13. November widerrechtlich bei Guerguerat im Süden in die Pufferzone ein, um die Demonstrierenden zu vertreiben und gleichzeitig eine neue Erweiterung der Mauer im neutralen Gebiet zu errichten. Dies ist ein eindeutiger Verstoß gegen das Waffenstillstandsabkommen von 1991 sowie das Militärabkommen Nr. 1 von 1997/98, die beide jegliche militärische Präsenz in der Pufferzone untersagen. Einen Tag später, als Akt der Selbstverteidigung, erklärte die Frente Polisario Marokko den Krieg. Die Polisario griff marokkanische Stellungen hinter den 2.720 Kilometer langen durchgehend verminten Sperrwall an und setzt diese bis heute fort. Der ungelöste Konflikt in der letzten Kolonie Afrikas droht nun, in einen offenen Krieg zu eskalieren.
Wir fordern alle UN-Mitgliedsstaaten, die UN-Generalversammlung sowie den UN-Sicherheitsrat auf, sich für eine friedliche Beilegung des Konflikts einzusetzen. Wir fordern sie auf, an der Seite des sahrauischen Volks zu stehen, um sich nach 46 Jahren marokkanischer Besatzung für dessen Recht auf Selbstbestimmung, wie es in Artikel 1 der UN-Charta sowie den beiden UN-Menschenrechtspakten von 1966 verbrieft ist, starkzumachen.
Im April 1991 wurde nach 16 Jahren verlustreichen Krieges mit der Resolution 690 des UN-Sicherheitsrats die UN-Mission MINURSO ins Leben gerufen. Ein Ziel der Mission ist es, ein Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara zu organisieren. Dieses Ziel ist bis heute nicht erreicht. Seit 2002 wird in den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zur Verlängerung des MINURSO-Mandats ein solches Referendum gar nicht mehr erwähnt, obwohl dieses den Schlüssel zur friedlichen Beilegung des Westsahara-Konflikts darstellt. Zur Überführung der MINURSO in eine echte Friedensmission fordern wir den UN-Sicherheitsrat auf, nach Auslaufen des aktuellen MINURSO-Mandats am 31. Oktober 2021 die nachstehenden Punkte in das Folgemandat aufzunehmen:
- Die Wiederaufnahme der Forderung nach einem „freien, fairen und unparteiischen Selbstbestimmungsreferendum des Volkes von Westsahara“ (vgl. UNSC-Resolution 973, 1995)
- Erstellung eines konkreten Zeitplans zur Durchführung des Referendums, spätestens jedoch ein Jahr nach Verabschiedung der Resolution
- Ausweitung des Mandats auf Dokumentation von Verletzungen der Menschenrechte sowie des einschlägigen Völkerrechts und Schutz der sahrauischen Bevölkerung
- Durchsetzung einer umfassenden Mission zur Minenräumung entlang des 2.720 Kilometer langen Sperrwalls sowie der umliegenden Gebiete
Nach dem Ausscheiden von Horst Köhler aus dem Amt des UN-Sondergesandten für die Westsahara im April 2019 bedarf es ganz dringend einer zeitnahen Wiederbesetzung dieser Position, um die Friedensverhandlungen wiederzubeleben.
Auf der UN-Liste der 17 verbliebenen Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung („Kolonien“) ist die Westsahara die mit Abstand größte und bevölkerungsreichste. Die UN-Charta hält in Artikel 73 fest, dass die Interessen der Einwohner von Gebieten ohne Selbstregierung stets Vorrang vor denen der Verwaltungsmacht haben müssen: „das Wohl dieser Einwohner aufs äußerste zu fördern“, ist der „heilige Auftrag“ der Verwaltungsmacht, was explizit die wirtschaftliche Entwicklung einschließt. 2001 forderte die UN-Generalversammlung in Resolution 56/74 die Verwaltungsmächte von Gebieten ohne Selbstregierung mit Nachdruck auf, „sicherzustellen, dass keine Wirtschaftstätigkeit in [diesen Gebieten] den Interessen der Völker dieser Gebiete zuwiderläuft“ und bekräftigte „die unveräußerlichen Rechte der Völker der Gebiete ohne Selbstregierung auf ihre natürlichen Ressourcen“. Und im Januar 2002 stellte der damalige UN-General-Untersekretär für rechtliche Angelegenheiten Hans Corell in einem bindenden Rechtsgutachten unmissverständlich fest, dass die Ausbeutung der Ressourcen der Westsahara ohne Konsultation und gegen die Interessen der Sahrauis völkerrechtswidrig sei.
Marokko beutet verschiedenste Ressourcen in der Westsahara aus und verletzt somit zahlreiche völkerrechtliche Verträge, Resolutionen und Gutachten. Zentrale Kollaborateure und damit Profiteure dieses Völkerrechtsbruchs sind die EU sowie eine Vielzahl europäischer Konzerne. So sind etwa Siemens und Continental maßgeblich an der Ausbeutung der Phosphatmine in Bou Craa beteiligt, der größten Phosphatlagerstätte der Welt. In hochprofitablen Großprojekten planen Siemens, die italienische Enel und die französische Voltalia die Errichtung gänzlich neuer Windparks. HeidelbergCement, ThyssenKrupp, DHL, Schenker sowie französische, finnische, spanische oder Schweizer Firmen sind in eine Vielzahl an Infrastruktur-, Landwirtschafts- oder Energieprojekten in der Westsahara involviert, ohne dass die Sahrauis davon profitieren.
Internationalismus, die Solidarität zwischen den Völkern und die nachhaltige Befriedung der Welt stehen im Zentrum unseres Wertesystems. Wir stehen solidarisch an der Seite der unter Ausbeutung und Unterdrückung leidenden sahrauischen Bevölkerung und appellieren an die Weltgemeinschaft, sich für ein Ende der widerrechtlichen marokkanischen Besatzung der Westsahara einzusetzen. Eine Durchsetzung des Anspruchs auf Selbstbestimmung der Westsahara ist nur mit vereinten Kräften und mit großem Engagement der UN erreichbar. Es darf nicht länger Zeit vergehen und weitere Menschen der militärischen Auseinandersetzung zum Opfer fallen. Die richtige Zeit zum Handeln ist jetzt!
Hochachtungsvoll
Katja Kipping und Bernd Riexinger für den Geschäftsführenden Parteivorstand DIE LINKE