Gipfelproteste 007 – Was bleibt?
Eine Bilanz von Katja Kipping
Nun, da die Gipfelproteste um Heiligendamm vorbei sind, stellt sich die Frage: Was bleibt? Diese Frage erinnert zunächst nur formal an den Titel einer Erzählung von Christa Wolf, in der sie sich mit den zermürbenden Erfahrungen einer Beobachtung durch die Stasi auseinandersetzt. Kenner der Erzählung erinnern sich jedoch: Der gewohnte Tagesablauf der Protagonistin wird durch eine beeindruckende Erfahrung durchbrochen. Auf einer Lesung begegnet sie einer neuen Generation von Schreibenden. Einer Generation, die provozierende Fragen nach einer lebbaren Zukunft aufwirft - voller Wille und Mut, etwas zu verändern. Bei aller Verschiedenheit des historischen Hintergrundes gibt es hier eine interessante Parallelität. Auch um Heiligendamm konnte man eine neue Generation erleben, die bestehende Zustände hinterfragt sowie für Veränderungen kämpft - und das in einer Zeit, in der alle Welt vom politischen Desinteresse der Jugend spricht. Schon in dieser Politisierung junger Menschen liegt ein großer Erfolg der Gipfelproteste.
Gipfelproteste – unterm Strich ein Erfolg
Doch wie sind die Gipfelproteste ansonsten zu bewerten? Über ein Jahr lang arbeitete ein breites Bündnis von kirchlichen Entwicklungsorganisationen und Greenpeace über attac, linken Gewerkschaftlern, sowie Linkspartei und WASG bis hin zur radikalen Linken auf die Gipfelproteste 2007 hin. Hat sich dieser Aufwand gelohnt? Am Samstagabend schien es angesichts der Ausschreitungen, als sei all die Arbeit umsonst gewesen. Zu sehr dominierten die Bilder der Gewalt die Wahrnehmung. Doch zum Glück waren die Bilder der Gewalt nicht die einzigen, die von den Gipfelprotesten aus um die Welt gingen. Rund 80.000 Menschen kamen nach Rostock, um gegen die Politik der G8 zu demonstrieren. Die Demonstrationszüge bestachen dabei durch eine Lebendigkeit, wie sie nur selten auf einer Demonstration in der BRD zu erleben ist. Die inhaltlichen Diskussionsrunden waren gut besucht und wurden auch von interessierten Anwohnerinnen und Anwohnern angenommen. Mit friedlichem zivilen Ungehorsam und tausenden Beteiligten gelang das, was viele für unmöglich hielten. Die Zufahrtsstraßen wurden blockiert. Der Tagungsort des Gipfels war nur über Luft und Wasser zu erreichen. Die Berichte über die Blockaden waren die Top-Meldung des Tages noch vor den Berichten über Angela Merkel und George Bush. Die Gipfelproteste hatten dem G8-Gipfel die Show gestohlen.
Wirkung über die Woche hinaus und Defizite
Die globalisierungskritische Bewegung hat darüber hinaus Akteure bekannt gemacht, die neoliberale Deutungsmuster hinterfragen und die - sei es im Radio oder Fernsehen - gern eingeladen werden. Das Ergebnis: Selbst in Talkshows bleiben die G8-Befürworter nur noch selten unter sich und müssen sich mit den Argumenten der Globalisierungskritiker auseinandersetzen. Es wurde somit ein gesellschaftliches Klima befördert, in dem angebliche Sachzwänge hinterfragt werden. Globalisierung, so wie sie gegenwärtig abläuft, gilt für immer weniger Menschen als Naturereignis. Der neoliberale Irrglaube, es gäbe keine Alternativen zur herrschenden Politik, ist immerhin erschüttert. Die Gipfelproteste haben damit auch einen Nährboden bereitet für weit gehende politische Alternativen. Einzelne Forderungen, wie konsequenter Klimaschutz, Stopp des Börsenganges der Bahn oder transparenter Schuldenerlass erreichten eine breite Öffentlichkeit. Das Bündnis überstand alle Zerreißproben. Es entstanden Netzwerke bzw. Arbeitskontakte, die auch nach den Gipfelprotesten Lust auf weitere Zusammenarbeit machen. Dies sind Erfolge, die über die Woche hinaus wirken.
Kritisch zu bilanzieren ist hingegen, dass strukturelle Alternativen zu den G8 in der Öffentlichkeit kaum erörtert wurden. Sicherlich: Am Anfang steht die Kraft des gemeinsamen NEIN zu dieser selbsternannten Weltregierung G8. Und die Demokratisierung der UNO erscheint alles andere als leicht. Jedoch sollte nicht der Eindruck entstehen, es wäre besser, wenn die Nationalstaaten jegliche Kooperation untereinander einstellen oder die globale Politik allein den USA – als quasi G1 – überlassen. Das gemeinsame NEIN hält zusammen und gibt Kraft. Dies darf allerdings nicht zur Selbstgenügsamkeit führen. Parteien gehören zu dem Teil der Bewegung, der direkt in die tagespolitische Auseinandersetzung im institutionellen Raum eingebunden ist. Ihnen obliegt es wohl in Zukunft stärker, konkrete politische Alternativen im globalen Maßstab einzubringen. Wir sind als Partei aufgefordert, eine kohärente sozialistische Globalisierungskritik und eine strukturelle Reformalternative zu erarbeiten.
Ertrag der Gipfelproteste für die Beteiligten
Für die vielen tausenden Menschen, die wie ich an den Gipfelprotesten teilnahmen, brachten die Proteste einen ganz besonderen Ertrag. Die Rede ist von der wichtigen Schlüsselerfahrung, gemeinsam und solidarisch zu handeln. Denn: Die Gipfelproteste waren mehr als ein Protest-event. So konnte beispielsweise, wer wollte, in diesen Tagen Selbstorganisation jenseits der kapitalistischen Profitlogik nicht nur theoretisch erörtern, sondern live erleben und praktizieren. Schließlich funktionierten Protestcamps und Volksküche nach dem Prinzip der Selbstorganisation und das erstaunlich gut.
Auch die Blockaden haben zu diesem Schlüsselerlebnis beigetragen. Da wurde durch massenhafte Beteiligung das scheinbar Unmögliche möglich. Zum anderen wurde in den Blockaden gemeinschaftlich und demokratisch entschieden. Bezugsgruppen wählten Delegierte und diese erörterten in Delegiertenversammlungen das weitere Vorgehen. Die innere Struktur der Blockaden bewies, dass demokratische Verfahren gerade auch in komplizierten Situationen praktizierbar sind. Die Handlungsfähigkeit von heterogenen Truppen ist ergo auch ohne autoritäres Ansagertum und ohne Befehlskette zu organisieren und kann eine Stärke sein. Die Blockaden wurden deshalb auch zu einem Erfolg der selbstorganisierten Vielfalt gegenüber uniformierten Befehlsketten.
Auch viele, die nicht in die Gipfelproteste involviert waren, zeigten sich spontan begeistert von dem Erfolg der Blockaden. Friedlicher ziviler Ungehorsam gehört zum Repertoire einer kritischen Linken und ist auch in Zukunft von der LINKEN mitzutragen und zu kultivieren. Offensichtlich entfalten solche kollektiven Grenzüberschreitungen eine Wirkung, die mit gewohnten Sichten auf die Welt bricht. Und dies befördert kritisches Denken.
DIE LINKE bei den Gipfelprotesten
Linkspartei und WASG haben viel Kraft, Energie und Ressourcen in die Proteste gesteckt. Dies war nicht immer unumstritten. Doch am Ende hat sich der Einsatz gelohnt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Linkspartei.PDS und WASG haben mit rund 10.000 Menschen sichtbar an der Großdemonstration teilgenommen. Der Studierendenverband DIE LINKE.SDS sowie die Linksjugend solid waren integraler Bestandteil des Camps. Beide beteiligten sich an den Blockaden. Das Zelt der Fraktion in Bad Doberan war gut besucht und wurde auch von vielen Bad Doberanern ja sogar von Schulklassen gut angenommen. Es ist uns also gelungen, unsere Kritik am globalen Kapitalismus auch zu der ansässigen Bevölkerung und in die Klassenzimmer zu tragen. Mehrere Abgeordnete waren vor Ort und trugen zur Deeskalation bei. Auf der Abschlusskundgebung waren wir die einzige Partei, die eine Rednerin stellt. Dies und vor allem die herzliche Ankündigung der Moderation, wie gut es sei, dass nun endlich eine Partei im Bundestag sitzt, die gegen Kriegseinsätze stimmt, stellt einen Quantensprung in der Zusammenarbeit mit Bewegungen dar.
Im Gegensatz zu anderen waren wir 24 Stunden am Tag dabei und sind wir nicht nur zu den medienwirksamen Terminen erschienen. Wir waren als DIE LINKE sichtbar, gleichzeitig haben wir vertrauensvoll mit einem breiten Bündnisspektrum kooperiert und auf Dominanzansprüche gegenüber der Bewegung verzichtet. Kurzum: DIE LINKE war organischer Bestandteil der Gipfelproteste und hat zu deren Gelingen beigetragen.
DIE LINKE und die Bewegung
Die Protestbewegung wurde – abgesehen von den Ausschreitungen am Samstag – als gesellschaftliche Kraft mit politischer Zukunftsfähigkeit und jungem Gesicht wahrgenommen. Solche Proteste wirken als Hebel zur Veränderung der gesellschaftlichen Stimmung. Die globalisierungskritische Bewegung ist damit zu einem wichtigen Akteur in den hegemonialen Auseinandersetzungen geworden. Je erfolgreicher und überzeugender die Protestbewegung wirkt, umso besser kann DIE LINKE im parteipolitischen Raum Veränderungen bewirken. Eine Weiterentwicklung und Stärkung der globalisierungskritischen Bewegung liegt ergo im ureigensten Interesse der neuen LINKEN.
In der Zusammenarbeit zwischen Bewegung und Partei wurde eine Form der Zusammenarbeit jenseits von devoter Unsichtbarkeit der Partei einerseits und jenseits einer Kolonisierung der Bewegung durch die Partei anderseits gefunden. Dies verlief nicht immer Konflikt frei, aber am Ende erfolgreich. Davon profitierten beide Seiten. DIE LINKE ermöglichte vieles mit ihrer Unterstützung. Anderseits beförderten die Gipfelproteste, z.B. die Blockaden als Formen des zivilen Ungehorsams, auch einen politischen Lernprozess innerhalb der neuen LINKEN. Diese Zusammenarbeit gilt es fortzusetzen, um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verändern und Spielräume für linke Politik auszuweiten.
Der UN-Berichterstatter Jean Ziegler eröffnete am Dienstag in der übervollen Nikolaikirche den Alternativgipfel. Er endete mit einem Pablo Neruda-Zitat: „Sie, unsere Feinde, können alle Blumen abschneiden. Aber sie haben keine Herrschaft über den Frühling.“ Die Kraft des Frühlings ist mit uns. Diese Worte drücken eine gewaltige Zuversicht aus. In die Herzen und Köpfe der Beteiligten ist eben jene besondere Zuversicht eingezogen. Eine Zuversicht, die mehr ist als eine spontane Anwandlung. Eine Zuversicht, die länger nachwirkt, weil sie empirisch unterfüttert ist. Genau darin liegt der besondere Erfolg der Gipfelproteste und dies ist nicht zu unterschätzen.