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"Große Koalition der Apologeten"

Die Bundesregierung und die Debatte um den "Kriegsverrat"

Von Jan Korte

Dem "Kriegsverrat"-Paragraphen des Militärstrafgesetzbuchs (MStGB) von 1934 fielen Tausende vor allem einfacher Soldaten zum Opfer. Erwähnt wird er weder im "Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege" vom 25. August 1998 noch im "Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege" vom 23. Juli 2002. Darin wurden - damals wegweisend - nach langen Kämpfen die Deserteure rehabilitiert.
Nicht aber die "Kriegsverräter". Nachdem die Historiker Wolfram Wette und Detlef Vogel nun dieses dunkle Kapitel der NS-Militärjustiz umfänglich dokumentiert haben, wird die Debatte um "Kriegsverrat" neu aufgenommen - dank eines Gesetzentwurfs der Linksfraktion auch im Bundestag.

Der Soldat Adalbert von Springer wurde am 18. September 1943 hingerichtet. Kurz zuvor wurde er wegen "Kriegsverrat" nach §57 des Militärstrafgesetzbuches (MStGB) durch das Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt. Sein Vergehen: Er hatte in einem Flugblatt Offiziere aufgefordert, den Krieg zu beenden. Ein anderer - unbekannter - Soldat wurde am 9. Mai 1944 wegen "Kriegsverrat" zum Tode verurteilt. Er hatte versucht, 13 jüdische Menschen in Ungarn zu retten. Robert Albrecht, ein Gefreiter, setzte sich für britische Kriegsgefangene ein. Das Reichskriegsgericht verurteilte ihn unter anderem wegen "Kriegsverrat" am 5. August 1942 zum Tode. Oberstleutnant Harro Schulze-Boysen, maßgeblicher Kopf der Widerstandsorganisation "Rote Kapelle", einer Gruppe von Soldaten, Offizieren, Künstlern aus allen politischen Richtungen, wurde mit vielen anderen am 19. Dezember 1942 wegen "Kriegsverrats" verurteilt und hingerichtet.

All diese Fälle und viele andere wurden jetzt von Wolfram Wette und Detlef Vogel akribisch dokumentiert. (1) Die beiden Historiker machen zugleich deutlich, welch vergangenheitspolitischer Skandal die nicht-pauschale Rehabilitierung der "Kriegsverräter" bis heute ist. Denn praktisch bedeutet dies für die Opfer, dass sie bis heute eine Einzelfallprüfung über sich ergehen lassen müssten. Im militärischen Denken bedeutete "Kriegsverrat" "Landesverrat im Felde", also durch Soldaten begangen, die damit den Feind begünstigten. Im NS-Faschismus wurde der Kriegsverratsparagraph wesentlich ausgedehnt und vor allem unbestimmter und damit als radikales Willkür- und Terrorinstrument nutzbar gemacht. In der Regel wurde "Kriegsverrat" mit dem Tode bestraft.
Wette und Vogel illustrieren kompakt die Uferlosigkeit dieses Terrorparagraphen und erklären, warum so viele Menschen wegen "Kriegsverrats" verurteilt und umgebracht wurden: "Während die übrigen Landesverrats-Bestimmungen des Strafgesetzbuches qualifizierte Tatbestände beschreiben, enthält der - für die 1934 vorgenommene Neudefinition des Kriegsverrats entscheidende - §91 b die unscharfen Begriffe 'Vorschub leisten' und 'Nachteil zufügen'. Mit der damit ermöglichten 'elastischen' Gesetzesanwendung eröffneten diese den Wehrmachtsrichtern einen unbegrenzten Handlungsspielraum." Zusammengefasst arbeiten Wette und Vogel heraus, dass der "Kriegsverrat" "das eigentliche politische Delikt (war), das Soldaten im Kriege begehen konnten." Insbesondere mit dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wurde der "Kriegsverrat"-Paragraph als zentrales Mittel zur Ausschaltung von Ungehorsam und politischer Abweichung genutzt.

Ebenso prägnant erteilen die Autoren denjenigen eine Absage, die nach wie vor die Wehrmacht und damit auch ihre Justiz aus dem NS-Regime exkulpieren wollen: "Die NS-Militärjustiz folgte dem Willen der nationalsozialistischen Führung und betätigte sich als regelrechte Terrorjustiz im Dienste der Fortsetzung des Krieges." Deshalb ist es umso unverständlicher, dass die "Kriegsverräter" und damit der Widerstand des "kleinen Soldaten" bis heute nicht pauschal rehabilitiert wurden.

Um die Frage zu beantworten "Warum fehlen die, Kriegsverräter?", zeichnen Wette und Vogel die geschichtspolitischen Debatten stichpunktartig nach und zeigen, dass es in der Bundesrepublik einen größeren Schwerpunkt in der Auseinandersetzung und Anerkennung des Widerstandes der gesellschaftlichen Eliten (20. Juli) gegeben hat, auch wenn dieser in den 1950er und 1960er Jahren erst mühsam gegen den erbitterten Widerstand der Bürgerlichen erkämpft werden musste. Dabei ist von vergangenheitspolitisch zentraler Bedeutung - bis heute - der Versuch von Geschichtsrevisionisten und Konservativen, die Wehrmacht vom NS-Unrechtssystem zu trennen, also die Mär von der "sauberen Wehrmacht" aufrecht zu erhalten, was über Jahrzehnte hin äußerst erfolgreich betrieben wurde.

Erst Mitte der 1960er und 1970er Jahre bröckelte der Mythos der "sauberen Wehrmacht", rückte der Widerstand insgesamt mehr in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Erkämpft durch Menschen wie Eugen Kogon, Walter Dirks, Martin Niemöller und Wolfgang Abendroth, sowie durch den von Fritz Bauer vorangetriebenen Auschwitz-Prozess, die Arbeit vieler linker und kritischer kleiner Zeitungen und nicht zuletzt durch den gesellschaftlichen Umbruch von achtundsechzig, konnte ein zunehmend kritischer Umgang auch mit den Verbrechen der Wehrmacht und der NS-Justiz durchgesetzt werden.

Trotz dieser mühseligen Fortschritte in der Geschichtspolitik mussten und müssen politische und wissenschaftliche Standards immer wieder verteidigt und erkämpft werden. Das zeigt sich besonders bei neuen Aufgüsse der Totalitarismustheorie, wie beispielsweise beim Historikerstreit 1986, den Nachwirkungen des DDR-Untergangs, der genutzt wurde die Auseinandersetzung mit dem NS-Faschismus für nicht mehr dringlich zu erklären, den Diskussionen um die Wehrmachtsausstellung oder das "Schwarzbuch des Kommunismus" 1998.
Bei all diesen Debatten, in denen übrigens die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Wehrmacht die heftigsten Wallungen auslösten, wurde immer um die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik insgesamt gestritten.
Einer Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht muss es immer auch darum gehen, die Opfer nicht verschwinden zu lassen, genauso wenig wie die Täter aus der individuellen Verantwortung zu entlassen. Genau dies geschieht bei der aktuellen Debatte um die Rehabilitierung der "Kriegsverräter".

Die Fraktion DIE LINKE im Bundestag hat nun in enger Abstimmung mit dem bekannten Deserteur Ludwig Baumann und der "Vereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V." einen Gesetzesentwurf zur Rehabilitierung der "Kriegsverräter" in den Bundestag eingebracht. (Bundestagsdrucksache
16/3139) Dem vorausgegangen war ein jahrelanges Bemühen Ludwig Baumanns und der Bundesvereinigung, die Verurteilungen wegen "Kriegsverrat" aufzuheben. In einem Brief von Ludwig Baumann an Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) vom 31. März 2006 heißt es: "Sehr geehrte Frau Ministerin, kein Straftatbestand wurde während der NS-Zeit so grausam verfolgt wie Kriegsverrat (Landesverrat im Krieg) des einfachen Soldaten. Es wurden ausschließlich Todesurteile verhängt und vollstreckt." Und weiter bittet Baumann die Ministerin zu bedenken:
"Dabei lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass Millionen Zivilisten, KZ-Insassen und Soldaten nicht hätten zu sterben brauchen, wenn mehr Kriegsverrat begangen worden wäre."

Mit Schreiben vom 25. April 2006 antwortete die Ministerin auf Baumanns Anliegen unter anderem: "Ausdrücklich nicht aufgenommen (in das Gesetz von 2002, Anm. JK) wurden Straftatbestände, bei denen die Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nach wie vor nicht verantwortbar erschien. Hierzu gehörte vor allem der Kriegsverrat (§§ 57, 59, 60 MStGB). Der in Fällen des Kriegsverrats möglicherweise gegebene Unrechtsgehalt (nicht ausschließbare Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten) erschien äußerst hoch, so dass auch der Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges begangen worden sind, keinen Anlass zur pauschalen Rehabilitierung begründen konnte." Abgesehen davon, dass die Ministerin keinen einzigen praktischen Beleg für die Behauptung liefert, beim Kriegsverrat hätte eine Lebensgefährdung für eine Vielzahl deutscher Soldaten bestanden, fragt man sich, was überhaupt rechtens an dem zentralen Terrorparagraphen "Kriegsverrat" gewesen sein könnte.
Immerhin gibt es zunehmend auch deutliche Gegenpositionen. So verabschiedete der 31. Deutsche Evangelische Kirchentag 2007 eine Resolution mit der Forderung, "die mit dem Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion Die Linke (...) angeregte pauschale gesetzliche Rehabilitierung der wegen ,Kriegsverrats` verurteilten NS-Opfer bald zum Abschluss zu bringen."

Dem vorausgegangen war am 10. Mai 2007 die erste Lesung des Gesetzentwurfes der Fraktion DIE LINKE. Als ob man in die 1950er Jahre zurückkatapultiert würde, begründete der CDU/CSU-Abgeordnete Norbert Geis die Ablehnung einer pauschalen Rehabilitierung. Bereits eingangs zeigt Geis, wes Geistes Kind er ist: "Man fragt sich natürlich, warum mehr als 60 Jahre nach Ende der Nazizeit immer noch die Forderung kommt, Urteile aus dieser Zeit pauschal aufzuheben. Pauschal heißt, ohne Prüfung des Einzelfalls, ohne sich die Frage zu stellen, ob einzelne Urteile damals bei allen Abstrichen, die man machen muss, nach den damaligen Umständen nicht doch rechtens gewesen sein könnten." Aber damit nicht genug. Geis begründet auch, warum die CDU/CSU 2002 die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure abgelehnt habe und auch heute die Rehabilitierung der "Kriegsverräter" ablehne: "Wer Kriegsverrat beging, hat oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kameraden geschadet, ja sie oft in Lebensgefahr gebracht, in der sie dann auch umgekommen sind, dies zum Beispiel dann, wenn der Verräter zu den feindlichen Linien überwechselte und, um sich dort lieb Kind zu machen ..." Welche Geringschätzung von widerständigem Verhalten allein in der Begrifflichkeit "lieb Kind machen" steckt, sagt alles über das Denken offensichtlich noch heute tonangebender National-Konservativer, denen Gehorsam alles und Widerständigkeit gegen Unrecht suspekt ist. Auch die Übermittlung von Informationen an die alliierten Truppen ist für Geis uneingeschränkt zu verurteilen: "Der Verräter hat in diesen Fällen auch nach unseren heutigen Maßstäben verwerflich gehandelt." Geis beendete seine Rede mit der schier unglaublichen Aussage: "Aber auch in einem ungerechten Krieg müssen Rechtsregeln gelten, kann nicht das Verbrechen des Verrates generell als gerechtfertigte Tat abgesegnet werden." Anders als die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen lehnten sowohl SPD als auch FDP den Antrag rundweg ab. Der Abgeordnete und Oberst der Bundeswehrreserve Jörg van Essen (FDP) verstieg sich dabei zu folgender
Eingangsbemerkung: "Ich finde es fast schon gespenstisch, dass wir uns heute mit diesem Antrag beschäftigen. Es hat den Eindruck, man hätte es hier mit Untoten zu tun. Wie oft - das müssen sich die Antragsteller von der Linksfraktion fragen lassen - wollen wir uns denn noch mit den Schandurteilen aus der NS-Zeit beschäftigen?" Diese Einschätzung spricht für sich und offenbart ein Denken, das prägend für die Entwicklung der Bundesrepublik gewesen ist. Diese erste Lesung des Gesetzes zur Rehabilitierung der "Kriegsverräter" macht die nach wie vor dominierende Vergangenheitspolitik kenntlich.

Mit dem Buch von Wette und Vogel gibt es nun auch für die Politik eine wissenschaftlich fundierte Studie, die deutlich macht, dass die "Kriegsverräter" aus politischen, ethischen, pazifistischen Gründen handelten oder sich einfach der Kriegsmaschinerie widersetzten, oft einfach nur Menschlichkeit an den Tag legten. Dem kann sich mittlerweile auch die Justizministerin nicht mehr entziehen. Bei ihrer Festrede zur Eröffnung der Ausstellung "Was damals Recht war... Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht" sagte Zypries am 21. Juni 2007, in Anwesenheit unter anderem von Ludwig Baumann: "Ich meine, dass diese Studie dem Gesetzgeber Anlass geben sollte, neu darüber zu diskutieren, ob man nicht auch die Verurteilungen wegen Kriegsverrat pauschal aufheben sollte." Auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion (2) teilte die Bundesjustizministerin mit, dass sie zu ihrer Aussage stehe und dass "neue wissenschaftliche Erkenntnisse für die Gesetzgebung zu berücksichtigen sind und die neue Studie der Militärhistoriker Wolfram Wette und Detlef Vogel dem Gesetzgeber Anlass geben sollte, neu darüber zu diskutieren, ob nicht auch die Verurteilungen wegen Kriegsverrats pauschal aufgehoben werden sollte." Zugleich wollte sie in dieser Sache keinerlei "Eilbedürftigkeit" erkennen.

Jan Korte ist Bundestagsabgeordneter für DIE LINKE und Mitglied im Innenausschuss des Bundestages. Eine längere Fassung seines Artikels, u.a. mit einer Reihe von Literaturhinweisen, wird im Februar 2007 in Utopie kreativ erscheinen.

Anmerkungen:
(1) Wolfram Wette, Detlef Vogel: Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat. Berlin 2007
(2) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jan Korte u.a. und der Fraktion DIE LINKE "Initiative der Bundesregierung zur Rehabilitierung sogenannter Kriegsverräter". Bundestagsdrucksache 16/6089