Nach 100 Tagen: Frankreich auf neuen Wegen?
Von Axel Troost, stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE und finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE
Der Konjunkturmotor Europas und der Eurozone läuft relativ rund: das Wirtschaftswachstum im Euro-Raum geht seit über vier Jahren leicht auswärts und der BIP-Anstieg von 2,2% im zweiten Quartal ist vor dem Hintergrund der verbreiteten Skepsis erstaunlich. Auch die hohe Arbeitslosenquote hat sich seither etwas zurückgebildet. Vor allem Spanien und die Niederlande haben von dieser Wirtschaftsbelebung profitiert und auch Frankreich hat etwas an Schwung gewonnen. Selbst Italien hat zu einem - bescheidenen - Wachstum zurückgefunden.
Gleichwohl sind die Strukturprobleme weiterhin beträchtlich, wie die Entwicklung in Italien, Frankreich, aber auch Spanien und Griechenland zeigt.
Es gibt auch einige Anzeichen dafür, dass der Konjunkturgang seinen Höhepunkt bereits erreicht hat. Außerdem sind die Risiken, die den leichten Aufwärtsprozess beenden könnten, hoch (Brexit, geldpolitische Straffung, Immobilienpreise, zunehmender Protektionismus, abrupte Erstarkung des Euro).
Große Hoffnungen zur Überwindung der strukturellen Schwächen verbinden sich mit dem Programm des neu gewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der ein Budget für die Euro-Zone, einen gemeinsamen Finanzminister und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung fordert. Selbst wenn zunächst kleinere Impulse der Aussetzung der Austeritätspolitik und der Stärkung von Infrastrukturinvestitionen (auch über den Junkerfonds) angestrebt werden sollten, ist für eine wirksame Reformpolitik eine grundlegende Erneuerung der deutsch-französischen Achse unverzichtbar.
Im Wahlkampf hatte Macron für einen eigenen europäischen Finanzminister geworben und für ein eigenes Budget der Euro-Zone. Bis zur Bundestagswahl wird sich auf diesem Feld allerdings nichts tun. Bisher deuten außer Symphatiebekundungen von Angela Merkel nichts auf eine praktische Unterstützung der Vorschläge Macrons hin. Es ist nur noch zynisch, wenn der deutsche Finanzminister Schäuble, ohne einen Jota von seiner harten Haltung abzuweichen, geschweige dem Vorschlag auf Steigerung der europäischen Investitionsmargen entgegenzukommen, den Präsidenten zu umschmeicheln versucht: "Der Sieg Macrons hat in mir große Freude ausgelöst", sagte der Bundesfinanzminister. Er hofft, dass der junge Präsident seine Reformpläne umsetzen kann. "Wir brauchen ein starkes Frankreich." Und gemeinsam mit Paris, so Schäubles Überzeugung, werde es auch gelingen, die Europäische Union zu stärken und weiterzuentwickeln. Ohnehin gebe die wirtschaftliche Lage in der Eurozone Grund zum Optimismus. Davon unabhängig muss die neue Regierung in Frankreich aktuell selbst erleben, dass nach der heftigen Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten vom Front National keineswegs eine große Bereitschaft für die Umsetzung von gesellschaftlichen Reformen gegeben ist.
Unbestreitbar besteht in Frankreich großer Reformbedarf. Die jahrzehntelange Politik des konservativen und sozialistischen Establishments haben die gesellschaftlichen Grundlagen schwer beschädigt. Die neue Bewegung von Präsident Macron verdankt ihre Wahlergebnisse eben auch vor allem der tiefsitzenden Enttäuschung und Wut über die neoliberale Klientelpolitik. Faktisch hat sich eine Mehrheit der Wahlbevölkerung von den politischen und wirtschaftlichen Strukturen der V. Republik abgewandt. Aber die überzeugende Ablehnung des überlieferten Regimes ist eben noch kein Masterplan für eine grundlegende Reform.
Die Beliebtheit des Präsidenten Macron befindet sich im Sinkflug. Nach 100 Tagen Präsidentschaft sind nur noch 36% der WählerInnen laut dem Meinungsforschungsinstitut Ifop mit der Amtsführung von Emmanuel Macron zufrieden. Bei Hollande waren es zum selben Zeitpunkt noch 46%. Zwar hat der frühere Wirtschaftsminister in den ersten Wochen zwei wichtige Gesetze durch die Nationalversammlung gebracht und wichtige politische (Parlament, Abschaffung der Mandatsbündelung etc.) und wirtschaftliche Reformen eingeleitet, doch die Akzente, die er setzte, finden in der Bevölkerung wenig Zustimmung: "Die positiven Effekte der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wie die Neugestaltung der Politik und die Berufung von konservativen Politikern in die Regierung sind verflogen", sagt der Direktor des Meinungsforschungsinstituts Ifop, Jérôme Fourquet, der Zeitung "Figaro". "Die Franzosen erwarten nun Ergebnisse und eine Klarstellung der Reformpolitik.", nachdem er erste Maßnahmen umgesetzt hat.
Diese Maßnahmen treffen vor allem die sozial schlechter gestellten Teile der französischen Gesellschaft. So kündigte die Regierung eine Kürzung des Wohngeldes und eine Erhöhung der allgemeinen Sozialsteuer CSG an, die vor allem die RentnerInnen belastet. Gleichzeitig sollen Reiche von einer Reform der Vermögensteuer profitieren. Die Serie der Ankündigungen ohne roten Faden lässt die Franzosen im Unklaren über den Kurs von Macron. Es ist von der neuen Bewegung und ihrer Regierung nicht zu erwarten, dass sie zu deutlichen Korrekturen in den Verteilungsverhältnissen den politischen Mut hat. Aber die kleineren Korrekturen beim Wohngeld und der allgemeinen Sozialsteuer können die klientelistischen Verzerrungen mit Sicherheit nicht aufbrechen.
Dazu kommt das Einschwenken auf die europäischen Haushaltsregeln. Die verordnete Kürzung des Haushaltes der Regierung um 4,5 Mrd. Euro in diesem Jahr, um die europäische Defizitgrenze einzuhalten, ist ein Entgegenkommen gegenüber der EU-Kommission und der deutschen Bundesregierung. Um die Maastricht-Kriterien noch in diesem Jahr zu erfüllen, sollen die Ausgaben des Staates sinken. Einsparungen im Verteidigungshaushalt stehen genauso auf der Streichliste wie Kürzungen bei den Zuwendungen für die Regionen und Départements.
Die dafür nötigen Maßnahmen dürften das Land vollauf beschäftigen. Ob Macron dann noch Energie für den Umbau der Euro-Zone hat? Sein Premierminister Édouard Philippe hat schon mal vorsichtshalber eine Verschiebung in Aussicht gestellt. Als ersten Schritt betreibt die Regierung die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Der Staat will sich auf diesem Feld deutlich zurücknehmen und Entscheidungsbefugnisse an die Tarifparteien abgegeben. Das gelockerte Arbeitsrecht soll die Unternehmen veranlassen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, damit die seit Jahren hohe Arbeitslosenquote sinkt. Noch wird über die Details verhandelt, aber am 31. August, zum Ende der Sommerferien, sollen die Franzosen informiert werden. Die Nationalversammlung stimmte für eine Vorlage, die es dem Präsidenten erlaubt, das Arbeitsrecht per Verordnung zu reformieren, was einer weiteren Entleerung demokratischer Spielregeln gleichkommt. Damit es nicht wie im vergangenen Jahr zu Massenprotesten kommt, holte Macron einen Teil der Gewerkschaften mit ins Boot. Auch die Gewerkschaft CGT hält nicht um jeden Preis am Arbeitsrecht in seiner heutigen Form fest. "Das ist tatsächlich umfangreich, komplex und schwer anzuwenden, vor allem wegen der vielen Ausnahmeregelungen. Wir sind einverstanden, dass man das überarbeiten und vereinfachen muss." Zu den Gegenvorschlägen gehört auch die Verkürzung der Arbeitszeit, denn "wir sind überzeugt, dass beispielsweise eine 32-Stunden-Arbeitswoche zu einer besseren Verteilung der Arbeit und so zur Senkung der Arbeitslosigkeit beitragen könnte." Aber zwischen den verschiedenen Gewerkschaftsbünden besteht nur zum Teil Einigkeit. Am 12. September soll ein erster Aktionstag testen, wie groß die Mobilisierungsfähigkeit ist. Den angekündigten Umbau der Renten- und Arbeitslosenversicherung hat Macrons Premierminister Edouard Philippe dagegen auf 2018 verschoben.
Es mag sein, dass die Kürzungspolitik und die Neugestaltung des Arbeits- und Tarifrechtes das leichte Wachstum und den Prozess des Abbaus der Arbeitslosigkeit nicht gefährden. Ohne Unterstützung aus Brüssel und der europäischen Ebene ist aber die versprochene Investitionsoffensive nicht zu realisieren. Und diese ist unverzichtbar: Zwar ist Frankreichs saisonbereinigtes Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit vier Quartalen auf 1,8% angewachsen, aber im enger gefassten verarbeitenden Gewerbe, der Abgrenzung nach vergleichbar mit der deutschen Industrie, fiel die Herstellung im Monatsvergleich um 0,9%. Der Anteil des industriellen Sektors an der Bruttowertschöpfung der französischen Volkswirtschaft zeigte in den letzten beiden Jahren leicht überdurchschnittliche Zuwächse und lag 2016 mit 11,4% geringfügig höher als 2015. Dagegen liegt der Anteil in Deutschland 2016 bei 25,4% des BIP. Damit ist die Kernaufgabe klar umrissen: Frankreich benötigt eine Revitalisierung des verarbeitenden Gewerbes und damit eine verbesserte Wachstumsperspektive, die sich in eine moderne, nachhaltige Beschäftigungs- und Arbeitsgesellschaft umsetzen muss.
Das Absinken der Zustimmungswerte für Macron kommt daher nicht überraschend. In der ersten Runde der Präsidentenwahl hatte nicht einmal jede/r fünfte Wahlberechtigte für Macron gestimmt. Seine Kern-Anhängerschaft ist begrenzt, viele gaben ihm eher eine Chance und wollten die Rechtspopulistin Marine Le Pen verhindern. Regierungssprecher Castaner erzählte im Sender France Inter, Macron habe ihm am Tag des Wahlsiegs gesagt: "Wir haben das Recht gewonnen, Risiken einzugehen. Denn in unserem Land muss man Reformen machen."
Ich kann die Notwendigkeit von Reformen durchaus nachvollziehen, aber diese Anpassungen haben ohne eine große Investitionsoffensive in die marode Infrastruktur und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze keine Zukunftsperspektive und tragen zur weiteren Zerrüttung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei. Da Frankreich diese Investitionen nicht aus eigenen Mitteln stemmen kann, fordert Macron zurecht eine "Relativierung" der neoliberalen Austeritätspolitik. Angesichts der Forderungen von Macron zur Reform der Eurozone sowie der sich abzeichnenden Neubelebung der deutsch-französischen Achse wirtschafts- und währungspolitischer Veränderungen ist es meines Erachtens politisch unklug und unzureichend gegenüber dieser Kritik immer wieder ausschließlich die Grundsatzkritik von der neoliberalen EU zu wiederholen.