Parlamentarische Beobachtung als gelebten Schutz des Grundgesetzes ins Versammlungsrecht aufnehmen
Erklärung von Dietmar Bartsch (Vorsitzender Fraktion DIE LINKE. im Bundestag und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 2021) und Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Parteivorstandes, MdB, Sprecher für Klima- und Energiepolitik)
In den letzten Jahren waren Parlamentarier*innen von DIE LINKE und anderer demokratischer Parteien regelmäßig bei Aktionen des zivilen Ungehorsams der Klimaschutzbewegung und anderen Demonstrationen und Bürger*innenprotesten zur Wahrnehmung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG) als parlamentarische Beobachter*innen am Ort des Geschehens. Die Mandatsträger*innen übernehmen hierbei die unverzichtbare Funktion einer Beobachtung, Dokumentation und somit Kontrolle der exekutiven Gewalt der staatlichen Sicherheitskräfte. In Konfliktsituationen wirken sie als Vermittler*innen zwischen Demonstrationsteilnehmern*innen und Polizeibeamten*innen und wenden übertriebene Härte, Eskalation und Rechtsbrüche auf beiden Seiten ab. Mit ihrem Engagement leisten die Parlamentarischen Beobachter*innen einen gelebten Schutz des Grundgesetzes und erfahren dafür sowohl bei Demonstrant*innen wie Polizei viel Respekt und Anerkennung.
Als Mandatsträger*innen dürfen die Parlamentarischen Beobachter*innen in der Ausübung ihres Mandats nicht behindert werden. Die Abgeordneten haben allerdings nicht das Recht, polizeilichen Maßnahmen wie Räumungen und Verhaftungen beizuwohnen. Die einzige Ausnahme gegenüber den Bürger*innen besteht darin, dass sie als Mandatsträger*innen nicht in polizeiliches Gewahrsam genommen werden dürfen, also nicht in Polizeikesseln festgehalten werden oder präventiv in Haft dürfen. Bisher war das Entscheidende bei der Parlamentarischen Beobachtung nicht die rechtliche Besserstellung, sondern das symbolische Kapital von Mandatsträger*innen und die Fähigkeit, effektiv und in vorheriger Absprache mit der Polizei und den Versammlungsteilnehmer*innen kommunizieren und vermitteln zu können.
Diese rechtliche Sonderstellung reicht nicht mehr aus. In der letzten Zeit ist es bei der Ausübung der Parlamentarischen Beobachtung vermehrt zur strafrechtlicher Verfolgung von demokratisch gewählten Mandatsträger*innen gekommen. Ein wichtiger Grund für das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft gegen die Parlamentarier*innen ist die rechtliche Grauzone, in der diese wichtige Begleitung von Versammlungen stattfindet. Oft wissen einfache Polizeibeamte nicht, wie sie im Einsatz mit den Beobachter*innen rechtlich zu verfahren haben. Regierungen und Staatsanwaltschaften können diese Regelungslücke nutzen, um unliebsame Parlamentarier*innen zu kriminalisieren.
Anlass dieser Erklärung ist ein von der Staatsanwaltschaft Nordrhein-Westfalen vorangetriebenes Strafrechtsverfahren wegen Hausfriedensbruchs gegen das LINKE-Parteivorstandsmitglied Lorenz Gösta Beutin aus Kiel. Der Klima- und Energiepolitiker der Bundestagsfraktion DIE LINKE. war im August 2019 bei einer Aktion des zivilen Ungehorsams der Klimabewegung gegen das Kohlekraftwerk "Datteln 4" in seiner Funktion als Parlamentarischer Beobachter anwesend. Im Laufe des Verfahrens hob der Deutsche Bundestag seine Immunität im März 2021 auf. Die Strafverfolgung von Lorenz Gösta Beutin ist ein Beispiel von vielen und steht exemplarisch für die aus unserer Sicht ungerechtfertigte Kriminalisierung von Mandatsträger*innen in Bund, Land und auf kommunaler Ebene bei der Ausübung der Parlamentarischen Beobachtung.
Um die für die Ausübung der Grundrechte so wertvolle Praxis in Zukunft auf rechtlich feste Beine zu stellen und die Kriminalisierung von Abgeordneten abzuwenden, fordert DIE LINKE mehr rechtlichen Schutz für Parlamentarische Beobachter*innen vor strafrechtlicher Verfolgung. Es geht nicht um Sonderrechte für Abgeordnete, es geht um den Schutz vor unverhältnismäßiger Strafverfolgung von Volksvertreter*innen.
Die Bundesregierung fordern wir auf, eine entsprechende Regelung im Versammlungsgesetz zu prüfen und zu verankern. In den Bundesländern, die ihr Versammlungsgesetz nach der Verlagerung des Versammlungsrechts in die Kompetenz der Länder bereits novelliert haben, fordern wir auf, diese entsprechend zu ändern. Zur Ausarbeitung einer zielführenden Gesetzesänderung schlägt DIE LINKE die Einrichtung einer Länder-Bund-Expertengruppe der Innenministerien und unabhängigen Jurist*innen noch vor den Bundestagswahlen vor.