Philosophieren über einen Wahlerfolg
Von Diether Dehm (Landesvorsitzender der Partei DIE LINKE in Niedersachsen) und Manfred Sohn (Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im niedersächsischen Landtag)
Wenn die in Niedersachsen am meisten nachgedruckte HAZ titelt, die 7,1 Prozent seien "Das Werk eines Politmanagers" schmeichelt dies. Gleichwohl: Die von der Zeitung angenommenen professionellen Techniken waren es nicht so sehr. Sicherlich bezweifeln wir nicht, gewisse "große Talente für Inszenierung und Wahlkämpfe" zu haben. Allerdings war es bürgerlichen Zeitungsschreibern noch nie gegeben, die kollektiven Talente einer Partei zu werten, Begabung also aus der individualistischen Sperre des Lernbaren zu lösen. Denn auch Wahlerfolge sind auf eine – gelegentlich sogar marxistische – Philosophie gebaut, die jeder und jedem ordentlich dialektisch Denkenden zugänglich ist.
I. Die Linke (nicht nur im Westen) ist, bis auf weiteres, kein "stehendes Heer" – um die hegemoniebetonende Sprache Gramscis zu nutzen – sondern eine Partisaneneinheit. Daraus müssen alle weiteren Konsequenzen in einer gewissen Demut abgeleitet werden. Sie muss beobachten, was geschieht, muß mit fremden Kräften Jiu-Jitsu-Rollen durchführen, sich zurückhalten und auf günstige Augenblicke warten. Viel mehr jedenfalls, als dass sie selbst günstige Augenblicke produzieren und eigene Trends setzen könnte. Sie darf doch z. B. nicht auf das Terrain eines stehenden Heeres vorrücken, in der Erwartung, dieses würde gar Platz machen, sondern muss auf kleineren Wegen gehen, die größeren Heere stets im Blick. Diese stehenden Heere sind die Volksparteien, die Volksstimmungen (die dauerhaften, wie der Antikommunismus, ebenso wie die flüchtigen, etwa eine Wechselstimmung bei Wahlen). Das stehende Heer besteht auch in der unterschwelligen Wirkungsmächtigkeit der Klassenkämpfe (der Kampf um Nokia, gegen die Riester-Rente, der Lokführerstreik usw. haben uns mehr genutzt als Hunderttausende eng beschriebener Handzettel). Wahlkämpfe sind abgeleitete Klassenkämpfe auf bürgerlichem Terrain.
Ob wir in Niedersachsen eine Wechselstimmung haben würden oder nicht, hatten nicht wir in der Hand. Erstens ist ein Haushaltsansatz mit nur 250.000 Euro (also genauso wenig wie Hessen und Hamburg) im zweitgrößten deutschen Flächenland (mit "nur" 2 Millionen mehr Menschen, aber mehr als doppelt so großer Fläche wie Hessen, also mit dünnerer Besatzung von Briefkästen und Marktplätzen) zigfach schwieriger für eine kommunikationsorientierte Partei. Zweitens haben wir im Westen kein ND und nur gegnerische Medien. Genau darauf bereiteten wir die Partei bereits während der Fusionsphase vor: Auf vieles vorbereitet sein, aber sich spät entscheiden, die Themen arg begrenzen, also keinen Gemischtwarenladen "man müsste mal…" aufzumachen und der Wahlkampfleitung große Vollmacht einräumen. Wir erreichten dies mit einem Leitantrag, bei dem wir fest versprachen, sofort mit dem Wahltermin die marxistische Theoriearbeit ganz stark wieder aufleben zu lassen.
II. Wahlkämpfe sind Zeiten gleichsam diktatorischer Vollmacht. Unsere Parteispitze musste und konnte somit die Partei in der schwierigen Zeit vor und im Wahlkampf straff führen, sowie zusammen- und uns Spitzenkandidatinnen und -kandidaten den Rücken frei halten, auch bei den komplizierten Wendungen. Der Landesvorsitzende musste ständig an der Parteibasis präsent sein und Medien den Kandidierenden überlassen. Die Landesvorsitzende und Spitzenkandidatin hatte mit dem männlichen Spitzenkandidaten die gesamte Öffentlichkeitsarbeit zu stemmen sowie schon ab November die neue Fraktion öffentlich tagen zu lassen, Anträge für den Landtag vorzubereiten usw. Diese Arbeitsteilung zwischen Partei und Fraktion funktionierte hervorragend.
Unsere Idee "Großer Ratschlag" war dabei auch sehr hilfreich. Schon während des Wahlkampfs bewarben wir auf Hunderttausenden von Drucksachen, dass wir uns zwei Tage nach der Wahl mit Gewerkschaften, Sozial-Verbänden, Antiatom- und Friedens-Initiativen über das Ergebnis beraten wollen. Mit dem "Ratschlag" kamen wir also um eine von den Medien forcierte alternative Dogmatik herum: entweder uns auf Rotgrün-Verweigerung oder Pro-Regierungslager festzulegen. Wir wussten einerseits, dass 70 % unserer Wähler eine engere Kooperation mit Rotgrün wünschen, aber 70 % unseres Kaders das komplette Gegenteil. Das hätte uns so auseinander gerissen, wie anfänglich die Hessen. Andererseits ahnten wir, dass es zu einer Wechselstimmung in Niedersachsen kaum kommen würde. Also konnten wir uns mit dem "Ratschlag" wunderbar aus der Schlinge ziehen. Wir sagten einfach den Medien und anderen "Inquisitoren": Das entscheiden wir zwei Tage nach der Wahl mit unserer organisierten Wählerschaft, mit attac, Sozialverbänden, Antiatomkämpfern, Gewerkschafterinnen und Friedensbewegung beim "Ratschlag" – und der Versuch, uns zu spalten, ging in die Leere.
Zunächst hatte der "Ratschlag" zwei Tage nach der Wahl also eine taktische Dimension. Aber je näher der Termin rückte und mit dem grandiosen Prozentergebnis wurde er zum Selbstläufer und zu einem Riesenerfolg. Sein mediales Echo war: Die Linken meinen es ernst mit der Stimme des Protests im Parlament. Und jetzt werden wir ihn fest institutionalisieren. Im Sommer machen wir unser erstes parlamentarisches Fest mit den "Außerparlamentarischen" als "Markt der Alternativen". Da wir unser Wahlprogramm auch mit diesen Initiativen gemeinsam erarbeitet hatten – die GEW hat unseren Bildungsteil dabei übrigens ziemlich gerupft – waren wir da auch glaubwürdig. Aber der "Ratschlag" half auch, damit der Landesverband in der heiklen Rotgrün-Kooperationsfrage sehr geschlossen hinter uns stand. Sonst hätten wir nicht mit dem heißen Wahlkampfbeginn bis Weihnachten warten können. Eine Partisaneneinheit wie unsere kleine Linke im zweitgrößten deutschen Flächenland Niedersachsen, die genauso wenig Geld bekommen hatte wie Hamburg, muss exakt und präzise auf vorhandene Trends lauschen und damit umgehen. Zum Beispiel: Schafft Jüttner eine Wechselstimmung? Auch Ypsilanti hatte das ja keiner zugetraut. Wenn ja, hätten wir mehr: "nur mit unseren 5 % hat Jüttner ’ne Chance" verbreiten müssen. Wenn Jüttner keine Wechselstimmung schaffte, mussten wir mehr die Parole betonen: "Liebe Wählerschaft, wenn sich schon sonst nichts ändert, dann leistet euch wenigstens eine echte Opposition." Auf beides waren wir vorbereitet. Wir mussten uns klein machen wie Partisanen mit ganz großen Ohren.
III. Versetzen wir uns in einen HartzIV-Abhängigen: 100 vergebliche Bewerbungen in den letzten Jahren, Selbstwertgefühl ganz unten, oft als "loser" gehänselt. So einer überlegt sich zehnmal, ob er sonntags wählen geht, denn das kriegt Bekannt- und Nachbarschaft ja mit. Und dann ist er im Falle von "Die Linke unter 5 %!" am Montag in der Kneipe oder Nachbarschaft wieder der Gearschte. Auf genau diesen "Loser"-Typus zielten die demotivierenden Umfragen in Bremen mit 4 % und in Niedersachsen vom 10. Januar mit 3 %. Das ist das Spiel der Meinungsmacher gegen links. Genau diesen Typus wollen sie von der politischen Meinungsbildung in diesem Land, also jetzt von der Wahl, fernhalten. Der sollte jede Hoffnung auf Änderung fahren lassen. Auf diesen Typus genau zielt das "there is no alternative". Und wir müssen genau dagegen ihm Mut machen, ihm ein Gewinngefühl geben. Obwohl wir vor fünf Jahren (noch als Linkspartei.PDS) 0,5 % hatten und erst kurz mit 140 Gewählten in Kommunalparlamenten präsent sind, also noch eine "quantité négligeable" waren. Dieser, unser Haupt-Wahltypus, hat nicht nur weniger Geld, oft im Leben Pech gehabt, sondern auch keine große Politinstitutionenkenntnis, er weiß weder, was der Unterschied von Erst- und Zweitstimme ist, noch dass wir Liste 5 haben. Er hat wenig Zugang zur "Hochkultur" und ist auch gelegentlich gegenüber rechter Demagogie anfällig. Das ist unser dickes Brett zu bohren. Das müssen wir ihm alles verklickern. Und vor allem ihm sagen: Du hast ’was davon, wenn du uns wählst; diesmal bist du bei den Gewinnenden und kannst anderen die Nase dreh’n!
Mit unserem Erfolg haben wir so auch gezeigt, dass die Linke die Kraft ist, den Zorn zu zivilisieren und den Protest grundgesetzförmig zu gestalten. Darum sind die zigtausend verlorenen Stimmen der Neonazis für uns ein besonderer Grund zur Freude. Denn wir, wer denn sonst, sind auch perspektivisch die demokratische Protestpartei.
Also hieß unsere Wahlparole "Links kommt", wir sagten überall, daß die Umfragen politisch manipuliert seien, wir konterten mit unseren win-win-Gesichtern aus dem Bundestag, Oskar und Gregor. In dieser Phase mit der 3-Prozent-Umfrage hatten auch wir Durchhänger, brauchten wir zugebenermaßen auch Zuspruch. Da war Uli Maurer, der zum Preis einer ganzen Kiste feinen Rotweins uns eine Wette anbot: "Ihr kommt über 7 %." und Dietmar Bartsch, der uns moralisch aufgebaut hat, als die 3-Prozent-Umfrage in stündlichen NDR-News vieler Menschen Stimmung ’runtergezogen hat.
IV. Als Motivator hatten wir auch immer und überall Kunst dabei: Kunst hilft nicht nur, den berühmten Bauch und Herz anzusprechen, sondern eine andere Welt als im tristen Hier und Heute antizipierend schmeckbar zu machen, als moralische Überlegenheit über die Verhältnisse, die uns sonst depressiv machen. In der heißen Wahlkampf-Phase waren dies Lieder und Lesungen, plus die Aufforderung, uns zu wählen, von "Gewinnern" wie Wecker, Schneyder, Sodann und Völz (alias "Käptn Blaubär").
Es ist schon ein mutmachendes Erlebnis, auf der Straße linke Wahlkämpfer mit roten Taschen und dazu einen chilenischen Liedermacher wie Pablo Ardouin in einer applaudierenden Menschentraube erlebt zu haben. Und, weil die Geschichte halt eine der Klassenkämpfe ist, waren Lokführerstreik und NOKIA-Konflikt auch subkutane Wachrüttler für unsere Wählerschaft. An Weihnachten, als endgültig klar war, daß Jüttner keine Wechselstimmung wie Ypsilanti hinbekommen würde, entschieden wir uns, den politisch gebildeteren Wählenden weniger zu erklären, daß nur mit 5 % links ein Regierungswechsel möglich ist, sondern mehr zu verbreiten, daß – wenn sowieso alles beim Alten bleibt – sie sich wenigstens eine gescheite Opposition gönnen sollen. Wir bauten unsere TV- und Radio-Werbespots um, unterlegten sie mit einer bekannten Alternativen-Melodie ("Was wollen wir trinken"). Für eine Extra-Kinowerbung in 25 % der niedersächsischen Fläche haben wir dann auch noch mal ein paar Tausender aus privaten Taschen geholt Und auch das hat im sogenannten "last-minute-swing" für uns gezogen.
V. Wahrscheinlich ein Jahr lang haben wir versucht, eine hochprominente Persönlichkeit zu finden. Wir haben über 30 "Promigespräche" geführt. Aber sich den Ruf beschädigen und womöglich dann doch nicht in den Landtag kommen – wir wurden ja unter "aussichtslos" gebucht - wollte niemand. Also entschieden wir uns für "Kollektiv und Inhalt". Allerdings mit einem Trick: Wir taten so, als sei es eine Art von kleiner Bundestagswahl und plakatierten auch bundesweit anstehende Themen.
Dennoch raten wir hier nicht zur Kopie. Besser ist immer ein prominentes Gesicht an der Spitze. Weil Wahlen nun mal bürgerliche Veranstaltungen sind. Streiks sind proletarisches Kulturterrain. Das sogenannte Charisma eines gewerkschaftlichen Vertrauensmanns oder einer Betriebsrätin beim Streikpostenorganisieren ist etwas ganz anderes, viel hemdsärmeliger, viel ungeschliffener, als die Ausstrahlung einer Fernseh-Show. Und Wahlkampf hat mehr von letzterem, von "Soap", ist für Linke immer auch etwas wie Betreten feindlichen Terrains.
VI. Unsere Kandidatenliste war und jetzt unsere Fraktion ist wirklich bestens zusammengesetzt und spiegelt unsere Themenschwerpunkte, ohne dass irgendwer auf dem Nominierungsparteitag getrickst hat. Tina hat ein hervorragendes öffentliches Auftreten bereits im Bundestagswahlkampf unter Beweis gestellt; ver.di und IG-Metall (Siemens-Betriebsrätin Ursula Weisser-Roelle) wurden von uns sehr stark betont, unsere beiden erfolgreichsten Kommunalpolitiker Henning Adler und Patrick Humke (mit ca. 7 % in ihren Städten bei der Kommunalwahl und jetzt zweistellig), aus Hannover Christa Reichwaldt, die für eine bekannte, linkssozialdemokratische Familie steht, der charismatische Kurt Herzog, Symbolfigur des Gorleben-Widerstands und stellvertretender Bürgermeister im Wendland, und die Wolfsburger Stadträtin Pia Zimmermann, die sich mit Dorothée Menzner besonders für die Belange bei VW eingesetzt hat, der hochtalentierte Victor Perli, Bundessprecher von "Solid" im Feld Bildungspolitik, und Marianne König, die sich als Krankenschwester einen Ruf im Kampf gegen die Privatisierung des Landeskrankenhauses in Osnabrück erworben hat.