Über Geschichte, Grundsätze und Glaubwürdigkeit
Grußwort des Bundesgeschäftsführers der Partei DIE LINKE, Dr. Dietmar Bartsch, an das Kolloquium "1918 – Eine andere Welt war möglich! Deutschlands Eintritt in die Moderne. Die ungeliebte Revolution 1918/19 und die Linke. Die Geburtsstunde der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in Berlin"
"1918 – Eine andere Welt war möglich! Deutschlands Eintritt in die Moderne. Die ungeliebte Revolution 1918/19 und die Linke. Die Geburtsstunde der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in Berlin", unter dieser Überschrift stand das VII. Ständige Kolloquium zur historischen Sozialismus- und Kommunismusforschung am 23. und 24. Januar 2009 in Berlin, veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, der Hellen Panke/Berlin und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Wir dokumentieren nachstehend das Grußwort des Bundesgeschäftsführers der Partei DIE LINKE, Dr. Dietmar Bartsch, an das Kolloquium:
Die neue linke Geschichtswissenschaft in Deutschland meldet sich nachdrücklich zu Wort und legt vier Bände zur Geschichte der KPD vom 31. Dezember 1918 bis zum 20. April 1946 vor. Mein Dank und mein Glückwunsch gelten den Autorinnen und Autoren! Ich habe zu dieser Edition insofern ein spezielles und sehr persönliches Verhältnis, als ich diese vor vielen Jahren in meiner damaligen Funktion als Schatzmeister der PDS ein bisschen mit auf den Weg gebracht habe – gemeinsam mit meinem leider früh verstorbenen Genossen und Freund Prof. Dr. Michael Schumann, dessen Name einen Ehrenplatz in unserer jüngeren Parteigeschichte hat.
Das Wahljahr 2009 ist zugleich ein Gedenkjahr 2009, also ein doppelt umkämpftes Jahr. Vor 60 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Vor 20 Jahren beseitigte die friedliche, demokratische Revolution die verknöcherte SED-Herrschaft und leitete das Ende der DDR ein. Diese beiden Ereignisse werden die hegemoniale Erinnerungskultur im Lande prägen. Ohne Frage sind sie für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und ihres Staates von wichtiger und herausgehobener Bedeutung.
Andere runde Jahrestage werden in den Hintergrund gedrängt oder nahezu ganz vergessen. Vor 60 Jahren wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Vor 70 Jahren überfiel das nationalsozialistische, das faschistische Deutschland Polen. Ein zweites Mal ging innerhalb einer Generation von Deutschland ein Weltkrieg aus – ein Angriffskrieg, ohne den die zehn Jahre später erfolgende Zweiteilung Deutschlands nicht zu erklären ist. Vor 90 Jahren wählten die Deutschen, Männer wie Frauen, erstmals in geheimer und gleicher Wahl eine Nationalversammlung, aus der die erste republikanische Verfassung Deutschlands hervorging. Voraus gegangen war die erste deutsche Novemberrevolution, die von 1918, die revolutionäre Erhebung von Soldaten gegen die kaiserliche Kriegsführung und die revolutionäre Erhebung der Arbeiter und Arbeiterinnen aus den Fabriken heraus. Ohne die revolutionären Massenkämpfe von 1918/19 ist die republikanische Verfassung, ist die parlamentarische Demokratie in Deutschland nicht vorstellbar. Das Ende des kaiserlichen Militärregimes und die Geburtswehen der Republik beginnen in Kiel mit einer handfesten Meuterei, nicht im Weimarer Sitzungssaal der Nationalversammlung. Ein Grund, warum man sich in der Bundesrepublik nicht so prominent an diese Revolution erinnert.
Tief verwurzelter Antikommunismus
Das frappierende Ungleichgewicht in der hegemonialen Erinnerungskultur unseres Landes bezeugt, wie aktuell der Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte in Deutschland ist. Und der Kampf um die Geschichte ist immer auch der Kampf um den Platz der LINKEN. Offen ruft die CDU dazu auf, im Wahljahr 2009 den 60. Jahrestag des Grundgesetzes und den 20. Jahrestag der Massendemonstrationen gegen die DDR- und SED-Führung zum Kampf um das richtige Geschichtsbild zu nutzen. Was dabei zählt, ist nicht die Auseinandersetzung darum, "wie es damals war", also die Arbeit des Historikers. Was offensichtlich allein zählt, ist die Fähigkeit, die in der westdeutschen Teilgesellschaft immer noch tief verwurzelten antikommunistischen Ressentiments auf DIE LINKE und die Linken zu projizieren.
Wenn heute in der politischen Auseinandersetzung wieder das "bürgerliche Lager" beschworen wird, dann nimmt das direkten Bezug auf die antikommunistischen Stimmungen und die entsprechenden Wahlkämpfe der CDU in den fünfziger Jahren und auf die Parole "Freiheit oder Sozialismus" aus den Wahlkämpfen der siebziger Jahre in der Bundesrepublik. Die LINKE soll als undemokratische Kraft ausgegrenzt werden. Bewusst wird mit der doppelten Bedeutung des Wortes "Bürger" im Deutschen gespielt: Ist der Bourgeois-Bürger gemeint, der sich gegen den "Plebs" formiert, oder schon der Citoyen-Bürger, zu dem alle anderen nicht gehören?
Wenn der Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter einer Partei, die in solchen heftigen Auseinandersetzungen steht, vor Historikerinnen und Historikern dieser Partei naher Stiftungen spricht, dann regt sich natürlich schnell der Verdacht, hier ginge es nun darum, die "eigenen Historiker" in dieser Auseinandersetzung auf "Partei-Linie" zu bringen. Diese Zeiten sind seit 1989 vorbei. Historiker sind keine Parteisoldaten. Die Geschichte der Arbeiterbewegung und der sozialen Kämpfe ist nicht identisch mit irgendeiner Parteigeschichte. Im Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte werden wir nur dann etwas gewinnen können, wenn wir mit unserer eigenen Geschichte im Reinen sind. In der politischen Auseinandersetzung zählt ja nicht, ob eine Behauptung stimmt, sondern ob das Behauptete glaubhaft klingt und für möglich gehalten wird.
Warum Misstrauen verfangen kann
Warum also kann der Vorwurf, DIE LINKE sei eine undemokratische Partei, der nicht zu trauen ist, bei vielen noch verfangen? Vor allem wohl, weil wir in unserer eigenen Geschichte Anlass zu entsprechendem Misstrauen gegeben haben. Die KPD in der Weimarer Republik hat ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zu den demokratischen Rechten, zum Parlamentarismus und zur bürgerlichen Demokratie praktiziert. Rückblickend auf seine Tätigkeit in der KPD hat Herbert Wehner – dessen Bild neben dem von Marx in meinem Büro hängt – die unzureichende Verteidigung dieser parlamentarisch-demokratisch verankerten Bürgerrechte als den größten Fehler im Kampf gegen den Nationalsozialismus bezeichnet. Den Verdacht, die Sozialisten und Kommunisten hätten ein instrumentelles Verhältnis zu den bürgerlichen Grundrechten und parlamentarischen Systemen, ist die Linke noch nicht wieder los geworden. Und darin steckt mehr als die Angst des Bürgers vor Eingriffen in seine Verfügungsgewalt über sein Eigentum an Produktionsmitteln. Darin steckt auch die Angst, dass die Linken es im Zweifel mit den Bürgerrechten und den Menschenrechten nicht so ernst nehmen, sondern sie vermeintlich übergeordneten Aspekten des "Klassenkampfes" unterordnen. Ich spreche das hier so an, weil es eine zentrale Erfahrung auch aus den jüngsten westdeutschen Wahlkämpfen ist, ein Misstrauen, was uns entgegenschlägt, das unserer Wählbarkeit für viele Menschen, über 85 Prozent im Westen, Grenzen setzt.
Eine zweite damit zusammenhängende und anhaltend fortwirkende Erfahrung, die die Vorwürfe gegen DIE LINKE begleitet, ist die erfahrene oder – im Westen – medial vermittelte Realität der DDR, wo eine aus der Arbeiterbewegung hervorgegangene Partei die staatstragende, also die gesellschaftlichen Verhältnisse gestaltende und verantwortende Partei war. Da heißt es dann: "Solange ihr Opposition seid, führt ihr die Grundrechte im Munde, was passiert, wenn ihr die Macht habt, konnte man in der DDR sehen…" Hier sind klare Worte und klare Unterscheidungen nötig, denn es geht um den Kern unserer Glaubwürdigkeit. Wenn wir unser Programm und unser politisches Selbstverständnis ernst nehmen, dann müssen wir klar und deutlich erkennen: die demokratische und rechtsstaatliche Praxis der DDR stand dazu zumindest partiell im Widerspruch. Nach unseren eigenen heutigen Kriterien herrschte in der DDR weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit, folglich trug sie Züge einer Diktatur. An dieser Feststellung können weder soziale Leistungen noch weltpolitische Rahmenbedingungen etwas relativieren. Wir sollten uns dem stellen, allein schon, weil wir selbst, ich auch, – und nicht die anderen! – in unserer eigenen Geschichte gerne und viel von der "Diktatur des Proletariats" gesprochen haben. Diese Klarheit im Urteil ist Voraussetzung, um zu zwei anderen Fragen einen eigenen Standpunkt in der politischen Auseinandersetzung der Gegenwart zu behaupten.
War die Gründung der DDR von Anfang an illegitim? Hierzu sage ich ebenso klar und deutlich: Nein, die Gründung der DDR war ein legitimer Versuch, auf deutschem Boden in einem eigenen Staat Lehren aus dem Nationalsozialismus und dem von ihm angezettelten Weltkrieg zu ziehen. Der Versuch wäre dann illegitim gewesen, wenn das Hitler-Regime durch eine deutsche Massenbewegung beseitigt worden wäre wie 1918 das kaiserliche Militärregime und sich die Staatsgründung der DDR gegen diese Bewegung gerichtet hätte.
Zwei Diktaturen?
Kann man von den zwei deutschen Diktaturen sprechen? Selbstverständlich nein. Legt man die Maßstäbe nur formal genug an, dann wird sicherlich Vergleichbares – nicht Identisches! – auf der Ebene des Rechts und der Bürgerrechte zu finden sein. Entscheidend jedoch sind der soziale Inhalt und der Charakter. Rassismus und Antisemitismus als alltäglich praktizierte Staatsdoktrin, gelbe Sterne hat es in der DDR nicht gegeben. Und es gehört schon eine gehörige Portion Dreistigkeit und politische Gemeingefährlichkeit dazu, den industriell betriebenen Massen- und Völkermord und das Anzetteln eines Weltkrieges in der verharmlosenden Rede von den "zwei Diktaturen" in einen Topf mit der DDR-Realität zu werfen. Nicht zu letzt in ihrem Ende unterscheiden sich beide fundamental. Manchmal könnte man denken, wird von den "Zwei Diktaturen" nur deshalb gesprochen, damit die Deutschen sich endlich auch einmal selbst von einer Diktatur befreit haben, die DDR-Bürgerinnen und -Bürger holen nach, was die Deutschen 1938 versäumt hatten ...
Diese Art der Entsorgung deutscher Geschichte ist mit der LINKEN nicht zu machen. Allein schon die Tatsache, dass antifaschistische Kämpferinnen und Kämpfer aus der Arbeiterbewegung und den Reihen der "einfachen Leute" sich in der DDR nicht als Vaterlandsverräter beschimpfen lassen mussten wie etwa Willy Brandt in Westdeutschland, verleiht der Gründung der DDR vor der deutschen Geschichte Legitimität. Der eingangs angesprochene Charakter der hegemonialen Gedenkkultur hat vor diesem Hintergrund nicht nur aktuelle Gründe in der geschichtspolitischen Einseitigkeit. Und es geht auch nicht nur um die Differenz zwischen in der Gegenwart fortwirkender Zeitgeschichte und abgeschlossener Geschichte. Beim Gedenken an 1989 steht ja nicht im Mittelpunkt, was die Demonstrantinnen und Demonstranten erreichen wollten, nicht die Erwartungen, Hoffnungen und Ansprüche an ein besseres Leben in einer besseren Gesellschaft, die sich etwa in den Debatten am Runden Tisch oder im neuen Verfassungsentwurf ausdrückten. Es geht allein um das Gedenken an den Ausbruch des Endes der DDR, damit des Endes der Zweistaatlichkeit und damit die Ausdehnung des Geltungsbereiches des Grundgesetzes. Wobei übrigens auch vergessen gemacht wird, dass eben dieses Grundgesetz für eben diesen Fall der Wiederherstellung der staatlichen Einheit vorsah, dass dem deutschen Volk eine neue Verfassung vorzulegen sei. Die Weimarer Republik bleibt somit eigentlich einzigartig in ihrem demokratischen Gründungsakt.
Die Gewichtung der Gedenktage spiegelt das Misstrauen der herrschenden Kräfte gegenüber sozialen und politischen Massenbewegungen wieder. Der Tag des Grundgesetzes erinnert an die Arbeit eines von den Alliierten eingesetzten Parlamentarischen Rates, wobei diese Nötigung zum Demokratischen gerne vergessen wird. Und der 3. Oktober als zweiter nationaler Gedenktag bezieht sich auf den Beitritt zum Grundgesetz, auf die staatliche Einheit, nicht mehr auf die revolutionäre Bewegung am Anfang.
Die Revolutionen von 1918 und 1989 teilen ein gemeinsames Schicksal. Als revolutionäre Massenbewegungen, als Zeichen der Unbotmäßigkeit und Stärke gegenüber den Herrschenden und ihrer Gewaltmittel, als Beweis, dass nichts so bleiben muss wie es ist, wurde die eine bereits aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, der anderen wird es in zwanzig Jahren vollends ebenso ergangen sein.
Dabei steckt in beiden viel nicht Abgegoltenes, nicht Eingelöstes. Ging die eine Bewegung aus den scheinbar stabilen Verhältnissen eines industriell nicht unterentwickelten Staates hervor, dabei Umbrüchen in anderen osteuropäischen Staaten folgend, war die andere davon beseelt, das Elend eines modernen Massenkrieges und die Herrschaft der ihn führenden Kräfte zu beenden. Beiden war eines gemeinsam: das Verlangen der "einfachen Leute" nach demokratischer und sozialer Emanzipation, nach einem besseren Leben und dem Recht, bei den entscheidenden Fragen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein entscheidendes Wort mitreden zu wollen.
Eine neue, aber keine geschichtslose Partei
Uns, DIE LINKE gibt es als politische Kraft noch immer, weil es diese unerfüllten Ansprüche der arbeitenden Bevölkerung an Respekt und Würde, an Sozialstaatlichkeit und Demokratie gibt. Zwar sind wir eine neue Partei, aber wir sind keine geschichtslose Partei. Unsere Geschichte beginnt nicht 1990, nicht 1949 oder 1919 mit der Gründung der KPD oder 1917 mit der Oktoberrevolution. Unsere Geschichte geht zurück auf die Deklaration der Menschenrechte und die französische Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – nicht nur formal, sondern materiell, nicht nur für den Bürgerstand und besitzende Steuerzahler, sondern auch für die Arbeiterklasse und die Besitzlosen. Unsere Tradition ist die Tradition des Kampfes um die volle soziale und demokratische Emanzipation. Mit diesem Maßstab blicken wir zurück in die Geschichte und fragen: Was hat sich verbessert am Leben der Arbeitenden und Besitzlosen, der einfachen Leute? Welche Rechte haben sie erreicht, nicht nur auf dem Papier, sondern in der gesellschaftlichen Realität? Von diesem Standpunkt aus lässt sich über Geschichte reden, über 1918, 1949, über 40 Jahre DDR und auch vierzig Jahre BRD, über 1989 und dabei lässt sich immer eine glaubwürdige Linie ziehen zum Programm und aktuellen Handeln der LINKEN. Dass diese Traditionsbildung gelingt, innerhalb und außerhalb der Partei gelebt wird, braucht es die Arbeit von Historikerinnen und Historikern, braucht es Tagungen wie diese.
In diesem Sinne, im Sinne des unverstellten und nicht verklärenden Blicks auf die handelnden Menschen, ihre Motive, Erwartungen und Hoffnungen und auf das Handeln von Parteien und ihren Führern in Bezug auf diese bewegenden Kräfte, in diesem Sinne wünsche ich der heutigen Tagung größtmöglichen Erfolg.