Wohnen ist ein Menschenrecht
Rede von Gesine Lötzsch beim "Langen Tag der Wohnungslosen" auf dem Berliner Alexanderplatz, der zentralen Veranstaltung innerhalb der Kampagne "Der Sozialstaat gehört allen!"
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Gäste, heute um 5.09 Uhr mitteleuropäischer Zeit hat der Herbst begonnen. Für gewöhnlich ist das nicht die Jahreszeit, in der Obdachlose im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Es sind vielmehr die strengen Winter und erste Kältetote, die mediale und damit öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Das ist zynisch und ein Armutszeugnis für ein reiches Land wie Deutschland. Die Betroffenen sind das ganze Jahr über obdachlos. Sie sind immer ohne eigene Wohnung. Sie leben unter Brücken, übernachten auf Parkbänken, hausen in Abbruchhäusern. Sie sind häufig stigmatisiert. Als "heruntergekommene Trinker", "arbeitsscheue Penner", "antriebslose Schmarotzer".
Wohnungslosigkeit hat ganz unterschiedliche Ursachen: Arbeitslosigkeit, Firmenpleiten, Mietschulden, Armut, Krankheit, Trennung, Tod eines Partners. Wohnungslosigkeit kann alle treffen. Fast 10 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland sind obdachlos. Eine genaue Zahl der Wohnungslosen in Deutschland ist allerdings nicht bekannt. Es gibt nur Schätzungen. Wohnungslose sind in keiner Bundesstatistik erfasst, es gibt keine verlässliche Erhebung von Bund, Ländern und Kommunen. Meine Fraktion, DIE LINKE im Bundestag, hat Anfang Juli dieses Jahres einen Antrag eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, unverzüglich Voraussetzungen dafür zu schaffen, das Ausmaß der Obdach- und Wohnungslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland statistisch zu erfassen. Um wirkungsvoll gegen Wohnungslosigkeit vorgehen zu können, muss deren Ausmaß bekannt sein. Dazu wird meine Kollegin Heidrun Bluhm, wohnungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, in der anschließenden Diskussion sicherlich noch etwas sagen.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, Obdachlosigkeit gibt es seit tausenden von Jahren. Im Mittelalter galten Bettler - nach der christlichen Lehre - als legitim und ehrenhaft. Armen Menschen war in Aussicht gestellt, dass erlittene Not auf Erden schneller in den Himmel führen würde. Reiche Menschen gaben Bedürftigen Almosen, um sich von ihren Sünden rein zu waschen. Im Absolutismus war vom mittelalterlichen Umgang mit der Obdachlosigkeit nichts mehr übrig. Obdachlose wurden geächtet. Es herrschte eine Moral, die menschliche Ehre vor allem auf Leistung, materiellen Verdienst, den eigenen Beitrag zur Finanzierung des Staates reduzierte. Es gab völlig unterschiedliche Klassen, Arme ohne Erwerbstätigkeit wurden als Plage und zunehmend auch als asozial empfunden.
Unsere reiche Gesellschaft ist sogar noch hinter die christliche Almosenlehre des Mittelalters zurückgefallen. Die moderne Demokratie pflegt noch immer ein absolutistisches Menschenbild. Eine Demokratie, die täglich mehr Schaden nimmt, weil Reichtümer in dieser Gesellschaft immer ungerechter verteilt werden. Nehmen wir nur einmal Thilo Sarrazin. Erst war er wegen seiner unverhohlen rassistischen, menschenfeindlichen Äußerungen als Bundesbankvorstand nicht mehr haltbar, dann hat er für sich mit Unterstützung des Bundespräsidenten eine monatliche Pension von 10.000 Euro ausgedealt. Eben jener Thilo Sarrazin, der schon als Berliner Finanzsenator mit absurden Speiseplänen für Hartz-IV-Empfänger auffiel und der dicke Pullover empfahl, wenn das Geld für die Heizung nicht reichte. Schon damals hätte Sarrazin entlassen werden müssen. Aber die SPD hat ihren Senator zur Bundesbank weggelobt. Die Bundeskanzlerin entrüstet sich einerseits öffentlich über Sarrazin, setzt andererseits aber seine Forderungen um. Das ist scheinheilig, passt aber ins Gesamtbild. Die Regierungskoalition versucht, die Kosten der Finanzkrise auf die Ärmsten der Gesellschaft abzuwälzen. Die Abschaffung des Elterngeldes für Arbeitslose ist eine klare Ansage: Kinder aus armen Familien sollen erst gar nicht auf die Welt kommen. So stellt sich die Bundesregierung die Beseitigung der Kinderarmut vor. Der arbeitslosen Schwangeren wird das Einkommen um bis zu 32 Prozent gekürzt. Die geplante Kürzung des Wohngelds lässt armen Menschen noch weniger Geld für Bildung, Kultur und gesunde Ernährung. Schon heute geben sozial Benachteiligte bis zu 50 Prozent ihres Einkommens für Miete, Wohnnebenkosten und Heizkosten aus.
Banker und Spekulanten, die die Krise verursacht haben, werden nicht zur Kasse gebeten. Im Gegenteil: Sie erhielten in den Krisenjahren mehr staatliche Transferleistungen als alle Arbeitslosen zusammen. Allein die Hypo Real Estate hat mittlerweile über 140 Milliarden Euro an Staatsgarantien und Bürgschaften verschlungen. Das ist fast die Hälfte des gesamten Bundeshaushaltes. Nun ist die HRE wieder in die Schlagzeilen geraten. Gerade hat sie weitere 40 Milliarden Euro an Staatsgarantien beantragt, um Liquiditätsengpässe zu überbrücken, da wird bekannt, dass sie gleichzeitig ihre Banker mit Boni in Höhe von 25 Millionen Euro belohnt. Und das mit Billigung und Zustimmung der Bundesregierung. Das ist ein Skandal, der auf die Titelseiten gehört!
Meine Damen und Herren, unlängst kämpften 50 Männer mit großen Anzeigen in Zeitungen und Illustrierten um lebenserhaltende Maßnahmen für eine sterbende Dinosaurier-Technologie - die Atomkraft. Die Anzeigenkampagne der Atomlobby zeigt, dass es Kräfte in unserem Land gibt, die jede Achtung vor demokratischen Institutionen verloren haben. Wer bezahlt denn diese Anzeigen? Die Atom-Bosse? Aus ihrer eigenen Tasche? Wohl kaum! Für die Kosten kommen Bürgerinnen und Bürger auf. Mit ihrer Stromrechnung. Stellen Sie sich einmal vor, 50 Wohngeldempfänger wollten per Anzeige gegen die Kürzung des Wohngelds protestieren - wem sollten sie wohl die Kosten in Rechnung stellen? Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, wie ungleich die Möglichkeiten in unserer Gesellschaft verteilt sind, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen.
Die Demokratie leidet nicht nur unter den herrschenden unfähigen Politikern, sondern auch an der ungleichen Verteilung des Reichtums in unserem Land. Wer das nötige Kleingeld hat, schaltet Anzeigen, beschäftigt Lobbyisten und Anwälte, um seine Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen. Wem das nötige Kleingeld fehlt, der hat nicht annähernd die gleichen Chancen, dass seine Stimme im Bundestag oder Kanzleramt gehört wird. Politik wird nicht mehr gewählt, sondern bestellt und gekauft. Es wird offen gedroht und gezeigt, wer hier das Sagen hat. Die Kanzlerin hat ihre Autorität selbst zerstört. Sie verhandelt mit den Lobbyisten und lässt sich vorschreiben, was zu tun ist. Hat sich Frau Merkel jemals bei den Betroffenen erkundigt, wie sie es finden, wenn ihnen das Elterngeld gestrichen und das Wohngeld gekürzt wird?
War Frau Merkel schon mal hier auf dem Alexanderplatz, um sich mit den jungen, wohnungslosen Leuten, mit den Straßenkindern, die sich hier regelmäßig treffen, über ihre Lebenssituation zu unterhalten? Darüber, wovon sie träumen, was sie sich wünschen, wie sie unterstützt werden möchten? Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte unlängst Gespräche, die die Autorin Nana Heidhues über mehrere Wochen mit diesen Kindern auf dem Alex geführt hat. Ein 19-Jähriger sagt da: "Das Schwierigste an diesem Leben ist die Ungewissheit, wie es weitergeht. Nicht zu wissen, ob ich mit 60 immer noch auf der Straße sein werde. Mein größter Wunsch ist im Moment, dass es mit meinem neuen Freund hält. Dass wir irgendwann zusammenziehen und ich mein eigenes Geld verdiene. Ich würde gerne eine Ausbildung zum Friseur machen. Und irgendwann, wenn ich mein Leben in geregelten Bahnen habe, würde ich gerne ein Kind adoptieren." Nein, mit diesen Menschen redet Frau Merkel nicht. Sie schenkt ihre Aufmerksamkeit anderen. Meine Damen und Herren, ich freue mich aufrichtig, heute hier sein und zu Ihnen sprechen zu können. Die Kampagne "Der Sozialstaat gehört allen!" ist eine höchst unterstützenswerte Initiative. Sie zeigt, dass auch Wohnungslose eine Lobby haben. Eine, die nicht viel Geld in teure Anzeigen steckt, sondern viel Kraft und Initiative in direkte Hilfe und Unterstützung investiert. All jenen, die sich für andere Menschen, die nichts nötiger brauchen als Aufmerksamkeit und Solidarität, in dieser Weise interessieren und engagieren, kann gar nicht genug gedankt werden. Dazu gehören selbstverständlich auch die Träger und Initiatoren der eben erwähnten Kampagne und der heutigen Veranstaltung. Inzwischen gibt es ja ein dichtes Netz an Unterstützung. Bundesweit existieren Angebote für die kostenlose ärztliche Betreuung Obdachloser.
Eine der Vorreiterinnen ist Jenny de la Torre hier in Berlin gewesen, die mit Hilfe ihrer Stiftung vor ziemlich genau vier Jahren, am 6. September 2006, sogar ein ganzes Gesundheitszentrum für Obdachlose eröffnet hat. Auch in meinem Wahlkreis Berlin-Lichtenberg gibt es die weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte MUT Gesellschaft für Gesundheit, die allgemeinmedizinische und zahnärztliche Versorgung für Obdachlose anbietet. Viele Städte haben inzwischen Tafeln eingerichtet, die kostenlos Lebensmittel abgeben. Es gibt Notunterkünfte, Suppenküchen, Kleiderkammern, Sucht- und Schuldenberatungen. Es gibt Projekte wie das in der Gitschiner Straße in Berlin-Kreuzberg, das in der nächsten Woche sein zehnjähriges Bestehen feiert und über das ich am vergangenen Wochenende in der "Berliner Zeitung" Folgendes gelesen habe:
"Im 'Gitschiner 15' können Obdachlose machen, was normalerweise nicht zu ihrem Alltag gehört: Sie können Bilder malen, Trommel-Unterricht nehmen oder Yoga-Stunden ... Die Angebote ... sollen den Obdachlosen ihre Würde zurückgeben. Sie sollen das 'Ich werde nicht gebraucht'-Gefühl verlieren, das so viele von ihnen haben." Es gibt sehr viele Menschen, die sich ehrenamtlich für ihre Mitmenschen einsetzen und sich dabei ausschließlich auf Spenden stützen müssen. Wo aber bleibt der Staat? Der ist dabei, sich aus der Verantwortung zu stehlen. "Der Sozialstaat gehört allen!" Das ist heute das Motto. Ein Sozialstaat, der für alle da ist, lässt nicht zu, dass Menschen von Obdachlosigkeit bedroht sind. Eine sichere, dem Bedarf entsprechende Wohnung gehört zu den Grundvoraussetzungen für soziale Sicherheit und Menschenwürde. Sie ist Zentrum des Lebens, steht für Identität und darf deshalb nicht wie eine Ware gehandelt werden. Wohnen ist ein Menschenrecht! In der "BZ" von vorgestern entdeckte ich eine kleine Meldung: "Trotz des angekündigten Sparkurses will die schwarz-gelbe Koalition für die Vermarktung ihrer eigenen Arbeit deutlich mehr Geld ausgeben als bisher. Für die Öffentlichkeitsarbeit sind in diesem Jahr 56,6 Millionen Euro veranschlagt. Das sind 14 Prozent mehr als 2009. Fast alle Ressorts planen mehr Eigenwerbung ..." Das Geld, Frau Merkel, Herr Westerwelle, können Sie sich nun wirklich sparen. Stecken Sie es lieber in Bildung, in Kinderbetreuung, in soziale Leistungen. Eine gute, eine gerechte Politik ist die beste Eigenwerbung. Das wäre mal eine nachhaltige Investition. Und ich verspreche Ihnen: Die zahlt sich auch aus.