Zum Hauptinhalt springen
Gesine Lötzsch

Zusammen für eine neue soziale Idee

Rede von Gesine Lötzsch, Vorsitzende der Partei DIE LINKE, auf der Beratung des Landesausschusses Baden-Württemberg in Stuttgart

Liebe Genossinnen und Genossen, vielen Dank für die Einladung hier zu euch nach Stuttgart. Vieles ist schon gesagt worden zur Auswertung der Landtagswahl, zum Wahlkampf und zum Wahlergebnis. Auch ich habe miterlebt, wie unglaublich engagiert ihr hier um jede Stimme gekämpft habt, und auch wenn das Ergebnis nicht so ist wie erhofft, danke ich euch sehr für diesen großartigen Einsatz. Gefreut habe mich auch über Euren Entschluss, euch nicht entmutigen zu lassen, sondern gerade jetzt eine Mitgliederkampagne zu starten, um die linken Strukturen in Baden-Württemberg zu stärken. Nur eine starke LINKE hat auch die Kraft für Veränderungen.

Es ist bereits mehrfach die Frage angesprochen worden: Haben wir einen zu engen Themenbereich, ist soziale Gerechtigkeit zu wenig für eine Partei? Ich finde, soziale Gerechtigkeit ist ein Thema, das alles umfasst: die Frage der Würde, die Frage der Gleichheit, die Frage der Solidarität in einer Gesellschaft. Und auch die Frage des Eigentums und die Frage der Demokratie, worauf ich später noch zu sprechen komme. Und darum möchte ich alle bitten, das Thema soziale Gerechtigkeit größer zu denken und nicht auf die Erhöhung des Hartz IV-Satzes zu beschränken. Das ist eine Frage, der wir uns natürlich stellen müssen, aber wir dürfen uns nicht in eine bestimmte Ecke drängen und den Eindruck entstehen lassen, soziale Gerechtigkeit habe für uns ausschließlich etwas mit Hartz IV zu tun.

Wir haben, liebe Genossinnen und Genossen, einen gespaltenen Arbeitsmarkt. Es gibt Menschen in sogenannten Normalarbeitsverhältnissen, und an ihrer Seite arbeiten Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter. Diejenigen, die in normalen Arbeitsverhältnissen arbeiten, riskieren – sofern sie nicht so spuren, wie es der Arbeitgeber von ihnen verlangt –, ebenfalls Leiharbeiter zu werden oder bei Hartz IV zu landen. So ist die soziale Gerechtigkeit auch eine Frage, die in der Arbeitswelt zu klären ist.

Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland vier Millionen Selbstständige, die im Monat weniger als 1.100 Euro Einkommen haben. Die Folge ist, dass diese Selbstständigen häufig nicht rentenversichert sind und darauf hoffen müssen, im Alter von einer Grundsicherung finanziert zu werden. Auch sie sind dann von der Allgemeinheit abhängig, obwohl sie gar nicht wollen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Wir wissen, dass viele Menschen in die Selbstständigkeit gedrängt werden, weil es ihre einzige Alternative ist, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch diese Menschen müssen wir ansprechen, wenn wir über das Thema soziale Gerechtigkeit reden.

Liebe Genossinnen und Genossen, ich will einige Worte dazu sagen, wie über unsere jüngsten Wahlergebnisse diskutiert worden ist. Wenn viele Genossinnen und Genossen sagen, die lagen nicht ausschließlich an Fukushima, dann haben sie natürlich recht. Es hat ja auch niemand behauptet, dass nur die Katastrophe in Japan das Wahlergebnis so entscheidend beeinflusst hat. Aber für eine Partei, bei der es unsicher und offen ist, ob sie den Einzug in den Landtag schafft oder nicht, sind solche äußeren Einfluss natürlich gravierender als für eine 20-Prozent-Partei, für die es nicht so wichtig ist, ob sie 19 oder 21 Prozent erhält. Natürlich reicht Fukushima als Erklärung nicht aus, und das hat – das will ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich unterstreichen – ja auch niemand behauptet.

Liebe Genossinnen und Genossen, unsere Partei DIE LINKE ist vor weniger als vier Jahren gegründet worden, sie ist als neue Partei zum ersten Mal zu diesen Landtagswahlen angetreten. Ich kann nur noch einmal an alle appellieren: Wir brauchen einen langen Atem, und wir müssen Wählerinnen und Wählern in den fünf Jahren bis zur nächsten Landtagswahl zeigen, dass wir ihre Probleme ernst nehmen, dass wir für sie da sind, dass wir diesen langen Atem haben, liebe Genossinnen und Genossen.

Was macht nun die Besonderheit unserer Partei aus. Das ist die Frage, die wir auch in der Programmdiskussion miteinander diskutieren. Mit der Programmdebatte müssen wir die zentrale Frage beantworten: Wie wollen wir, in was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Wir wollen – und das ist meine kurze Definition für demokratischen Sozialismus – eine Gesellschaft, in der Menschen frei und gleich in Würde und Solidarität miteinander leben können. Der Begriff Würde ist mir dabei besonders wichtig. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass Menschen – egal, ob sie im Arbeitsleben stehen, ob sie Rentner oder ob sie auf Hartz IV-Leistungen angewiesen sind – sagen, Geld ist die eine Seite, aber ich will würdevoll und anständig behandelt werden. Ich glaube, wenn wir diese Fragen miteinander verknüpfen – Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Würde –, dann haben wir einen guten Schritt hin zu unserer Identifikation erreicht.

Liebe Genossinnen und Genossen, oft wird die Frage gestellt, was uns heute von SPD und Grünen unterscheidet, die ja viele unserer Forderungen von 2005 inzwischen aufgegriffen haben, zum Beispiel die Fragen des Mindestlohns und der Veränderungen bzw. Korrekturen an der Agenda 2010. Ich glaube, uns unterscheidet ein ganz wesentlicher Punkt von SPD und Grünen. Uns unterscheidet, dass wir als einzige Partei den Zusammenhang von Demokratie und Eigentum aufwerfen. Wie wichtig diese Frage ist, sehen wir an der derzeitigen Diskussion darüber, wie der Atomausstieg organisiert und finanziert werden soll. Wir sind in der Situation, dass die vier großen Energiekonzerne die Bundesrepublik Deutschland untereinander aufgeteilt haben, als seien sie Besatzungsmächte. Darum ist es unsere Aufgabe, die Aufgabe der Partei DIE LINKE, die Frage zu stellen: Wie wird der so dringend notwendige, der so ungeheuer wichtige Ausstieg aus der Atomenergie finanziert? Werden die Kosten des Umbaus der Energieversorgung auf die Menschen abgewälzt, die sich das eigentlich nicht leisten können? Wird die Macht der Atomkonzerne angetastet oder nicht? Wir müssen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Eigentum und Demokratie immer wieder stellen. Wenn wir das nicht tun und keine Lösungsvorschläge unterbreiten, werden wir nicht erreichen, diese Gesellschaft gerechter zu gestalten.

Bis vor ein paar Jahren hatten wir noch eine staatliche Strompreiskontrolle. Man muss immer wieder fragen: Wer hat die staatliche Strompreiskontrolle abgeschafft? Und warum ist sie noch immer nicht wieder eingeführt worden? Das wäre auch ein Instrument, den Ausstieg aus der Atomenergie für alle finanzierbar zu gestalten.

Liebe Genossinnen und Genossen, einiges ist ja bereits zur Kommunismusdebatte gesagt worden. Hat sie geschadet, hat sie genützt? Sicherlich hat diese Debatte viele irritiert. Ich habe ja auch bergeweise Zuschriften bekommen, von Zustimmung über Ablehnung bis hin zu Morddrohungen. Aber mir ist nichts passiert, ich stehe ja hier.

Ich glaube, eine Schlussfolgerung aus der Debatte müssen wir unbedingt ziehen: Wir brauchen eine grundsätzliche Diskussion über den Zustand der Gesellschaft. Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte darüber, wie wir uns als LINKE den demokratischen Sozialismus vorstellen. Unser Ziel als Partei DIE LINKE ist der demokratische Sozialismus. Und dazu gehören vor allem die individuelle Freiheit und die Entwicklungsmöglichkeiten eines jeden Menschen. Und da sind wir wieder bei der Anknüpfung zur sozialen Frage.

Hier in Stuttgart hat vor einigen Monaten die Bildungskonferenz stattgefunden, auf der es um Fragen zur Zukunft der Bildung ging. Natürlich ist der Zugang zur Bildung eine Grundvoraussetzung für Gerechtigkeit und für Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen in einer Gesellschaft. Und wer Menschen den Zugang zur Bildung erschwert, der behindert nicht nur deren soziale Möglichkeiten, sondern schränkt auch ihre individuelle Freiheit ein. DIE LINKE ist eine Partei, die auch für individuelle Freiheit kämpft, aber nicht als Ellenbogengesellschaft, sondern als Partei der Solidarität.

Als wir 2005 zur Wahl angetreten sind, haben wir uns vorgenommen, eine neue soziale Idee auszuformulieren. Und wir müssen zugestehen, dass wir in dieser Zeit zwar viele verschiedene Konzepte entwickelt, aber diese neue Idee noch nicht so zündend rübergebracht haben, wie es notwendig gewesen wäre. Denn mit der sozialen Idee verbindet sich ja viel. Die Frage des Eigentums hatte ich schon im Zusammenhang mit den Energiekonzernen benannt.

Was aber immer ganz weit weg scheint, ist die gegenwärtige Krise des Euro. Was hat die mit uns zu tun? Ziemlich viel, weil uns in fast jeder Sitzungswoche des Bundestages neue Maßnahmen, Gesetze, Verordnungen ereilen, die den Euro-Rettungsschirm betreffen. Von der Bundesrepublik werden 22 Milliarden Euro direkt allein in den aktuellen Euro-Rettungsschirm gegeben. Wo kommt das Geld her? Da werden neue Schulden aufgenommen. Wie oft hören wir das Argument: Die von der LINKEN wollen doch immer nur Schulden machen. Die Schulden aus dem jetzigen Staatshaushalt sind nicht die Schulden der LINKEN. Diese 22 Milliarden Schulden sollen aus dem Bundeshaushalt abgewälzt werden, indem bei Sozialausgaben gespart wird. Dort wird gekürzt, und deshalb hat der Euro-Rettungsschirm auch eine ganze Menge mit uns zu tun. Denn auch hier geht es um soziale Gerechtigkeit.

Liebe Genossinnen und Genossen, unsere Partei ist in einer schwierigen Phase. Erfolge lösen immer Euphorie aus, Euphorie trägt einen eine ganze Weile, manchmal vernebelt sie auch ein wenig die Gedanken. Ich glaube aber, eine Partei kann sich auch dadurch beweisen, dass sie nicht nur zeigt, wie sie mit Siegen, sondern auch, wie sie mit Niederlagen umgeht. Sich aus einem Tal wieder hinaufzuarbeiten, ist kein Spaziergang, dazu braucht man Ausdauer, dazu braucht man Disziplin, dazu braucht man gute Nerven, dazu braucht man Zusammenarbeit, und dazu braucht man vor allem eine gemeinsame Idee. Und unsere Idee ist die einer gerechten Gesellschaft, in der alle in Würde, Solidarität und Gleichheit miteinander leben können. Wir sind die Partei der Solidarität. Und wir sind die Partei der demokratischen Erneuerung, denn ohne Demokratie kann eine solidarische Gesellschaft nicht leben.

Darum, liebe Genossinnen und Genossen, lasst euch nicht entmutigen, arbeiten wir zusammen für eine demokratische Erneuerung unseres Landes, arbeiten wir zusammen für eine neue soziale Idee.

Vielen Dank.