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Erklärung von Janine Wissler

Ich habe mich entschieden, auf dem kommenden Parteitag in Halle nicht erneut für das Amt der Parteivorsitzenden zu kandidieren. Das habe ich dem Parteivorstand in seiner heutigen Sitzung mitgeteilt.

Liebe Genossinnen und Genossen,

ich habe mich entschieden, auf dem kommenden Parteitag in Halle nicht erneut für das Amt der Parteivorsitzenden zu kandidieren. Das habe ich dem Parteivorstand in seiner heutigen Sitzung mitgeteilt.

Ich habe mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht und lange abgewogen, was in dieser Situation sinnvoll ist und ob so kurz vor der Bundestagswahl der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel an der Parteispitze ist. Ich nehme wahr, dass es in Teilen der Partei den Wunsch nach einem personellen Neuanfang gibt.

Der Parteivorstand hat am Wochenende den Leitantrag auf den Weg gebracht und ein Kandidaturverfahren beschlossen. Ich halte es jetzt für den richtigen Zeitpunkt, Klarheit zu schaffen, zwei Monate vor dem Parteitag, damit der Partei genug Zeit bleibt für ein transparentes Verfahren und eine innerparteiliche Meinungsbildung zu Kandidaturen.

Ich habe den Parteivorsitz im März 2021 übernommen, nachdem der Parteitag während der Corona-Pandemie zweimal verschoben werden musste. Ich hatte großen Respekt vor dieser Aufgabe und schon der Start war herausfordernd: Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl blieb praktisch keine Einarbeitungszeit, sofort mussten Entscheidungen getroffen werden und das in einer Phase, in der die Partei durch politische Machtkämpfe gezeichnet war. Die gesellschaftlichen Krisen der letzten Jahre wie die Corona-Pandemie und der Umgang mit den Kriegen in der Ukraine und in Gaza haben die Partei zusätzlich durchgeschüttelt.

Als ich Parteivorsitzende wurde, sah ich meine Aufgabe darin, die Partei in ihrer gesamten Breite zusammenzuhalten. Allerdings musste ich bald feststellen, dass viele Brücken, die ich bauen wollte, bereits mehrfach eingerissen waren.

Ich hätte mir gewünscht, dass ich die Partei nicht durch eine Abspaltung hätte führen müssen. Hätte man sie verhindern können? Nein. Nur um den Preis, dass wir keine linke Partei mehr wären. Ich habe diese Aufgabe angenommen und mit dem Wissen von heute, hätte ich manche Entscheidung anders getroffen.

Dass wir aus der Abspaltung mit einem deutlichen Mitglieder-Plus gehen würden, habe ich nicht für möglich gehalten, umso mehr freut es mich. Die tausenden Neueintritte geben Hoffnung, darauf können wir stolz sein.

Aber das Ergebnis der Europawahl und die Umfragen in Ostdeutschland zeigen, wie schwer es ist, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen und dass wir einen langen Weg vor uns haben.

Ich will nicht verhehlen, dass die letzten dreieinhalb Jahre an der Parteispitze enorm kräftezehrend waren. Die Termindichte, Sieben-Tage-Wochen, die langen Tage und die permanente Erreichbarkeit, die mit dem Amt als Parteivorsitzende verbunden sind, nehmen in Krisenzeiten noch mal deutlich zu. Es gab Wochen, in denen ich 25 Stunden in internen (Krisen-)Sitzungen verbrachte. Mir fehlte deshalb leider oft die Zeit, das zu tun, was mir am Herzen liegt und auch am meisten Spaß macht: Vor Ort zu sein, in den Kreisverbänden und bei Landesparteitagen, bei Streikversammlungen, lokale Initiativen zu treffen und spannende Veranstaltungen zu machen, aber auch über den Tag hinaus zu denken und mit freiem Kopf politische Ansätze und Strategien zu entwickeln. Unter so einer Belastung fehlte mir zu oft die Freiheit im Kopf, Dinge noch einmal ganz anders zu denken.

Ich habe die letzten Jahre viel Zeit damit verbracht, innerparteiliche Konflikte zu moderieren und interne Prozesse zu führen. Dabei kam die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner und die Aufgabe der Linken als Opposition zu den kapitalistischen Verhältnissen oftmals zu kurz.

In meiner Zeit als Parteivorsitzende habe ich einen Schwerpunkt darauf gelegt, die Zusammenarbeit der Partei mit den Gewerkschaften auszubauen und die Gewerkschaftsarbeit zu stärken. Zusammen mit dem Parteivorstand und der Bundesarbeitsgemeinschaft „Betrieb & Gewerkschaft“ haben wir den Gewerkschaftsrat ins Leben gerufen, der hochkarätig besetzt ist. In meiner Zeit als Vorsitzende war ich bei vielen Betriebsversammlungen und Streiks und war zu Gast bei fast allen Gewerkschaftstagen. Weil es mir wichtig ist, dass Die Linke die Klassenfrage ins Zentrum stellt.

Ich bin dankbar, dass ich als Parteivorsitzende so viele großartige Menschen treffen konnte - innerhalb und außerhalb unserer Partei. Menschen, die in ihren Betrieben als Einzelkämpfer begonnen und dann ganze Streiks organisiert haben. Menschen, die vor einem Krieg geflohen sind und heute in Deutschland dafür kämpfen, dass das Sterben im Mittelmeer ein Ende hat. Menschen, die trotz der Stigmatisierung, die mit Armut verbunden ist, ihre Stimme erhoben haben.

Unsere Partei hat großartige Mitglieder, die tagtäglich so viel tun und nicht im Rampenlicht stehen: Die Genoss*innen, die Die Linke vor Ort am Laufen halten, die allermeisten ehrenamtlich, die nach Feierabend Vorstandsarbeit machen, uns im Kreistag vertreten, die samstags den Infostand in der Innenstadt aufbauen, in der Mieterinitiative mitarbeiten, Sozialberatung machen oder im lokalen Bündnis gegen rechts mitarbeiten – die, ohne die gar nichts ginge.

Das ist der Genosse im tiefschwarzen Cloppenburg, der den Kreisverband führt, im Stadtrat ist und fast jeden Infostand selbst aufbaut. Es ist die Genossin in Greifswald, die nach jeder Kreismitgliederversammlung die älteren Mitglieder mit Gehbehinderung in ihrem Auto nach Hause fährt, weil sie sonst nicht teilnehmen könnten. Das sind die Genoss*innen in Recke, die aus dem Nichts einen Ortsverband aufgebaut haben und der Linken im schwarzen Münsterland der Linken ein Gesicht geben.

All die Mitglieder, die sich seit Jahrzehnten mit Zeit, Geld und Leidenschaft engagieren, die angespuckt und angefeindet wurden zu Anfangszeiten der PDS und trotzdem weitergemacht haben. Und die heute weitermachen trotz rechter Bedrohungen in Wahlkämpfen und im Alltag.

Sie sind das Herzstück der Partei, sie sind es, die wirklich unersetzbar sind. Wir Abgeordnete sind Abgeordnete, weil es diese Partei gibt, die tausenden aktiven Mitglieder, die tagtäglich Gesicht zeigen für Die Linke, die in ihrem Umfeld die Glaubwürdigkeit unserer Partei verkörpern. Dessen sollte man sich immer bewusst sein.

Ich habe mich nicht gegen eine erneute Kandidatur entschieden, weil ich die Zuversicht und den Glauben an unsere Partei verloren habe. Ich bleibe an Bord und bin zuversichtlich, dass wir das Schiff wieder auf Erfolgskurs bringen. Ich gebe das Steuer ab, aber wie allgemein bekannt ist, gibt es auf einem großen Schiff noch viele andere Aufgaben.

All denen, die mich gebeten haben, weiterzumachen, will ich sagen: Ich bin nicht weg. Ich freue mich, wieder mehr in Hessen und Frankfurt zu sein und als hessische Bundestagsabgeordnete stärker präsent und aktiv zu sein. Ich freue mich, wieder mehr Luft im Terminkalender zu haben, um Dinge machen zu können, die mir politisch am Herzen liegen und die in den letzten Jahren zu kurz gekommen sind. Wieder frei Gedanken zu entwickeln, mit etwas mehr Abstand und Ruhe, die es manchmal benötigt.

Ich bin seit Gründung dieser Partei, seit 2007, Mitglied des Parteivorstands, ich war sieben Jahre lang stellvertretende Parteivorsitzende, jetzt dreieinhalb Jahre Parteivorsitzende. Ich war 12 Jahre lang Fraktionsvorsitzende im Hessischen Landtag und zehn Jahre lang Kreisvorsitzende in Frankfurt am Main. Eine sehr lange Zeit in herausgehobenen Funktionen und Ämtern, jetzt ist es Zeit, mal einen Schritt zurückzugehen und den Kopf mal durchzulüften.

Ich werde mich auch weiterhin mit aller Kraft für unsere Partei engagieren. Weil ich überzeugt bin, dass eine sozialistische Partei in der Tradition von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die Aufgabe hat, dieses Erbe auch in schweren Zeiten weiterzutragen aus Verantwortung gegenüber der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft. Aufgeben ist keine Option.

Ich bin überzeugt davon, dass es eine Partei links von SPD und Grünen braucht, die die Eigentumsverhältnisse grundlegend infrage stellt und den Kapitalismus überwinden will. Es braucht eine Partei mit einer klaren Haltung in Fragen von Asyl und Menschenrechten, die sich der Rechtsentwicklung entgegenstellt und sich dem Aufrüstungskurs verweigert. Eine Partei, die den Kampf um soziale Rechte verbindet mit dem Kampf gegen jede Form von Unterdrückung.

Ich möchte mich bedanken, bei allen, die mich unterstützt haben - auch in schwierigsten Situationen.

Ich danke Martin Schirdewan für die vertrauensvolle und enge Zusammenarbeit, Harald Wolf, der dreieinhalb Jahren eine meiner größten Stützen und wichtiger Ratgeber war. Sowie Katina Schubert und Ates Gürpinar, die nach dem Rücktritt des Bundesgeschäftsführers die schwierige Aufgabe kurzfristig übernommen haben. Danke an die Mitglieder des Parteivorstands.

Ein riesiges Dankeschön an die Beschäftigten des Karl-Liebknecht-Hauses, die so gute Arbeit leisten, die mich herzlich aufgenommen und getragen haben. Allen voran meiner persönlichen Mitarbeiterin, Kerstin Wolter, für ihre großartige Arbeit und Unterstützung.

Und großen Dank an meinen Landesverband Hessen für den großen Rückhalt. („Lebbe geht weider“ – wie wir im Hessischen sagen.)

Es ist nicht immer nur eine reine Freude, Vorsitzende dieser Partei zu sein, aber es war mir immer eine Ehre. Machen wir es gut, machen wir es besser. Trotz alledem.

Mit solidarischen Grüßen,

Janine Wissler


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