Erklärung von Martin Schirdewan
Im kommenden Oktober werde ich nicht noch einmal als Vorsitzender für unsere Partei kandidieren.
Liebe Genossinnen und Genossen,
im kommenden Oktober werde ich nicht noch einmal als Vorsitzender für unsere Partei kandidieren. Diese Entscheidung ist nach gründlichem Nachdenken in den zurückliegenden Wochen in mir gereift. Ich habe sie mir nicht leicht gemacht.
Vor zwei Jahren habt ihr mir in Erfurt euer Vertrauen gegeben und ich verdanke eurer Unterstützung viel. Es war, ist und bleibt mir eine Ehre, der Partei in vorderster Reihe zu dienen, diese Verantwortung bis Oktober als Parteivorsitzender wahrzunehmen und als Mitglied des Europäischen Parlaments weiterhin übernehmen zu dürfen.
Die vergangenen zwei Jahre waren nicht leicht, nicht für die Menschen im Land und nicht für unsere Linke. Gesellschaftlich waren sie geprägt vom Versagen der amtierenden Bundesregierung gegenüber einem außer Kontrolle geratenen Krisenkapitalismus, von Inflation, Ungleichheit und Kriegen. Von einer Eskalation der Klimakatastrophe, einem neuen Rüstungswettlauf und von einem historischen Aufstieg der extremen Rechten und des Autoritarismus in ganz Europa. Aber auch von Massendemos gegen rechts und von großen Streiks, die Mut machen. Die Zukunft ist im Guten wie im Schlechten offen. Diese Zeit hat eine starke Linke verdient.
Wir haben es mit aller Kraft gemeinsam versucht, durchaus mit Erfolgen. Im „heißen Herbst“ haben wir als Linke mit dafür gesorgt, dass die Bundesregierung wenigstens die schlimmsten Auswüchse der Preiskrise für viele Menschen im Land abgemildert hat. In Europa haben wir, gemeinsam mit anderen, den rechten Rollback in der Klima- und Umweltpolitik zumindest vorerst gestoppt. Unsere Wahlergebnisse in Berlin und Bremen waren, gemessen an der politischen Großwetterlage, hart erkämpfte Erfolge. In vielen Kommunen engagieren sich unsere Genossinnen und Genossen jeden Tag für Verbesserungen. Unsere Regierungsbeteiligungen in Thüringen, Bremen, Berlin und Mecklenburg Vorpommern haben in diesen krisenhaften Zeiten für viele Menschen einen Unterschied gemacht.
Natürlich ist in einer Zeit wie dieser aber sehr viel mehr nötig. Gerade für eine demokratisch-sozialistische Partei.
Doch es ist ja kein Geheimnis: Die letzten zwei Jahre waren innerparteilich vor allem geprägt von der Klärung alter Konflikte und den damit einhergehenden Umbrüchen und Auseinandersetzungen. Das hat unsere öffentliche Wirkung vielfach gehemmt, manchmal konterkariert. Die Konflikte der Gesellschaft haben wir (zu) lange in unserer Partei geführt. Das hat viel Energie gekostet, wirkt immer noch nach und hat unsere eigene Zukunft zu lange blockiert. Selbstkritisch möchte ich sagen: Notwendige inhaltliche Weiterentwicklungen sind wir auch nach der Abspaltung zu langsam angegangen.
Die letzten beiden Jahre waren daher auch von schmerzhaften Wahlniederlagen geprägt. Zuletzt bei der Europawahl, in der ich als Spitzenkandidat unserer Partei angetreten bin. Allen, die mit mir bis zum Umfallen für ein besseres Ergebnis gekämpft haben, möchte ich herzlich danken. Wir setzen uns im EP mit aller Kraft dafür ein, gegen ein Europa der Reichen und Rechten dem Europa der Demokratie und Solidarität zum Durchbruch zu verhelfen. Ich kann euch versichern: Wir begreifen das in uns gesetzte Vertrauen als verbindlichen Auftrag.
Ich denke aber, dass unsere Partei in der jetzigen Situation neue Perspektiven und Leidenschaft braucht, um die notwendige Erneuerung voranzutreiben.
Dafür muss nicht bei Null angefangen werden. Der amtierende Parteivorstand hat wichtige Weichen gestellt. Wir hatten einen erfolgreichen Europaparteitag, wir sind mit dem Wahlprogramm einen ersten Schritt zu einer programmatischen Weiterentwicklung vor allem in der Europa- und Außenpolitik gegangen. Mit verschiedenen Formaten haben wir versucht, Konflikte nach vorn aufzulösen, haben die Partei gesellschaftlich geöffnet.
Doch unsere Partei steht jetzt vor wichtigen Entscheidungen. Sie wird sich für einen zukünftigen Weg entscheiden müssen. Daher meine Bitte: Gebt denen, die nun bald das Steuer übernehmen, die Chance und das Vertrauen, die Partei auch führen zu können.
Dazu braucht es eine Ende der teilweise destruktiven Machtpolitik in unseren eigenen Reihen. Denn es muss zuallererst immer um Inhalte gehen, um das politische Profil. Wir haben keine Zeit mehr, offene Fragen aufzuschieben, die die Menschen in diesem Land und in Europa umtreiben. Es geht um Glaubwürdigkeit und Haltung bei Weiterentwicklung unserer sozialen Kernanliegen, dem ökologischen Umbau der Industrie, der Außenpolitik in einer unsicherer werdenden Welt, um Konzepte der Teilhabe und Integration für Einwandernde und Geflüchtete. Es geht darum, den Menschen Sicherheit in schwierigen Zeiten geben zu können. Dafür braucht es politische Antworten, die mehr sind als ein kritischer Kommentar oder eine Beschwörung vermeintlich guter alter Zeiten. Unsere Antworten müssen die Bedrohung der Demokratie in Europa von innen und außen ernst nehmen und es uns ermöglichen, unsere Gesellschaft heute aktiv mitzugestalten.
Erste Grundlagen dafür sind in den zurückliegenden Monaten gelegt worden. Zunächst für einen erfolgreichen Parteitag im Oktober. Danach müssen wir die Kraft finden, die programmatische Weiterentwicklung unserer Partei voranzutreiben. Es geht darum, eine starke sozialistische Kraft in Deutschland, der größten Volkswirtschaft in der EU, zu entwickeln.
Euch, den Mitgliedern der Linken, fallen diese Entscheidungen zu. Ich weiß, dass ihr sie verantwortungsbewusst treffen und damit unseren Platz und Gebrauchswert in der Gesellschaft festlegen werdet. Wir tun dies nicht für uns, sondern für diejenigen, deren Interessen wir verteidigen und vertreten. Für unsere Klasse, die abhängig Beschäftigten, für die vielen Menschen, die ohne goldenen Löffel im Mund geboren wurden.
Es sagt sich immer so leicht: Wir haben eine große Verantwortung. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir uns tatsächlich in einer historischen Situation befinden. Geht es nach der Ampel so weiter, auf einer steilen Rutschbahn nach rechts? Oder gibt es auf Bundesebene endlich einen Politikwechsel nach links? Dafür ist auch entscheidend, ob und wie stark dem nächsten Bundestag eine demokratisch-sozialistische Partei angehören wird. Es kommt auf uns an.
Den kommenden Abschnitt müssen ab Oktober andere in vorderster Position gestalten. Meinem Anspruch, moderne sozialistische Politik zu betreiben, werde ich verpflichtet bleiben. Er wird meine Arbeit als Fraktionsvorsitzender der Linken im Europäischen Parlament prägen, auf die ich mich zunächst konzentrieren werde. So werde ich der Partei in außenpolitischen und europapolitischen Fragen weiterhin mit all meiner Kraft zur Seite stehen und helfen, ihr Profil zu schärfen. All denen, die mir zugesprochen haben und mich zum Weitermachen bewegen wollten, sei gesagt: Ich bin nicht aus der Welt. Wir machen weiter zusammen sozialistische Politik. Als stolze und selbstbewusste Sozialistinnen und Sozialisten lassen wir uns nicht unterkriegen.
Grund für Zuversicht gibt es. Das Fundament ist gelegt: Die Partei hat in den letzten Monaten fast 8000 neue Mitglieder gewonnen. Wer hätte das noch vor einem Jahr überhaupt gedacht? Ihre Energie und die vielen guten Ideen der neuen und der langjährigen Mitglieder sind ein wahnsinniger Gewinn. Ich freue mich daher auf die gemeinsamen zukünftigen Kämpfe mit euch. Gegen die da oben, die sich bereichern und mit all denen, die jetzt erst recht für eine gerechte und friedliche Welt streiten.
Zuletzt will ich einen Dank für die vertrauensvolle Zusammenarbeit an meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter richten. Danke für den Zusammenhalt in guten und in schlechten Stunden. Ein herzlicher Dank geht auch an Janine und die Genossinnen und Genossen im PV und im Getrieberaum der Partei, dem Karl-Liebknecht-Haus. Gemeinsam waren wir immer stark. Und den vielen tausenden Mitgliedern, die unermüdlich für diese Partei und mehr sozialistische Politik kämpfen, möchte ich sagen: Ohne euch wäre alles nichts. Danke für euer Engagement.
Ich bin überzeugt, dass unsere Linke die gegenwärtige Krise überwinden wird. Ich werde meinen Teil für eine starke Linke an anderer Stelle beitragen. Wir sehen uns. Und arbeiten gemeinsam weiter für eine bessere Welt.
Euer Martin