Ausgewählte Presseerklärungen
Ein Jahr nach "Friedensquell": Bundesregierung muss endlich Position zu Menschenrechten beziehen
Zum Jahrestag des Überfalls der Türkei auf die kurdische Region in Nordsyrien am 9. Oktober 2019 (Operation "Friedensquell") erklärt Katja Kipping, Vorsitzende der Partei DIE LINKE:
Heute vor einem Jahr hat die türkische Armee zusammen mit islamistischen Milizen die kurdische Region in Nordsyrien überfallen. Die Türkei griff die Kurdinnnen und Kurden an und damit jene Kräfte in Syrien, die den islamistischen Staat zurückgedrängt und besiegt haben. Bis heute hat sich die Bundesregierung fatalerweise zu keiner klaren und unmissverständlichen Aufforderung an ihren Premium-Partner Erdogan durchringen können, dass die türkische Armee und die ihr untergeordneten islamistischen Banden das syrische Staatsgebiet der Kurdinnen und Kurden wieder verlässt.
Dabei ist der Völkerrechtsbruch, der mit diesem Angriffskrieg gegen die Kurdinnen und Kurden einhergeht, eklatant und offensichtlich. Laut einem jüngsten UN-Bericht trägt die Türkei als faktische Besatzungsmacht die Verantwortung für massenhafte Plünderungen, für Folter an syrischen Zivilisten kurdischer Herkunft, für die Vergewaltigung von Frauen und Mädchen durch syrische Kämpfer im Rahmen von Razzien, für den Raub und die Zerstörung von antiken Kulturgütern und die Schändung religiöser Stätten wie jesidische Schreine und Gräber.
Im Rahmen der türkischen Eroberungen und der Etablierung eines faktischen Protektorats durch syrischen Milizen sind seit dem Oktober 2019 geschätzte 300.000 Menschen geflohen, unter ihnen ein hoher Anteil von Jesid:innen und Christ:innen. Die Türkei hat ihrerseits sunnitisch-islamische Flüchtlingsfamilien aus Zentralsyrien in den eroberten Zonen angesiedelt und so einen demographischen Bevölkerungsaustausch eingeleitet.
All dies ist politisch und menschenrechtlich nicht hinnehmbar und verdeutlicht, dass die Bundesregierung gegenüber ihrem Nato-Partner Erdogan mit besonderer Nachsicht handelt: Die Türkei kann sich ungestraft eine Politik militärischen Expansion und Menschenrechtsverletzungen erlauben. Die Entwicklung zeigt zudem, dass eine derartige Leisetreterei einen Despoten wie Erdogan gegenüber keinerlei Erfolg hat.
Die Bundesregierung hat bei der türkischen Besetzung der syrisch-kurdischen Region Afrin im Januar 2018 keine nachhaltigen Konsequenzen gezogen, sie hat nach dem Einmarsch in Nordsyrien 2019 nicht gehandelt, sie hat Erdogan ungestraft syrische Kämpfer nach Libyen schicken lassen und sie lässt es aktuell zu, dass Erdogan erneut syrische Söldner nach Aserbaidschan schickt, um den Krieg gegen Bergkarabach und Armenien zu befeuern.
Es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung gegenüber der Türkei endlich eine aktive Politik der Menschenrechte beginnt.
Erdogans expansiver Kriegspolitik muss im Rahmen der Nato entschieden widersprochen werden. Es darf im Rahmen der EU keine Handels- und Zollanreize für die Türkei geben und der Freifahrtschein für Erdogan muss beendet werden.
Ferner gilt es klar zu sagen, das der Einmarsch und die Besetzung in Nordsyrien völkerrechtswidrig ist. Die dort stattfindenden Menschenrechtsverbrechen müssen erfasst und zur Anklage gebracht werden. Alle, die von einer Vertreibung betroffen sind, haben ein Recht zur Rückkehr und müssen von der Türkei entschädigt werden.
Darüber hinaus sollte die Bundesregierung im Rahmen der humanitären Hilfe mit der arabisch-kurdischen Autonomieverwaltung in Nordsyrien endlich zusammenarbeiten. Das gilt sowohl für die Versorgung von Binnenflüchtlingen wie für die Vorsorge bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie.
Eine Unterstützung der arabisch-kurdischen Autonomieverwaltung in Nordsyrien wird die Idee der Demokratie in Gesamtsyrien und damit in der gesamten Region stärken.