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Die Entscheidung, vor der wir am Wahltag stehen, ist klar: entweder mit der Linken oder mit Austeritätspolitik
Interview mit Alexis Tsipras, Vorsitzender von SYRIZA (Griechenland) und Spitzenkandidat der Europäischen Linken für die Europawahl am 25. Mai 2014
Alexis Tsipras könnte Griechenlands neuer Premierminister werden. Wären heute Wahlen könnte er laut Umfragen tatsächlich gewinnen. Bereits vor zwei Jahren trat er in den letzten Wahlen für das Amt an. Nur ein Prozent fehlte, um in die Regierung zu gelangen. In seiner Wahlkampagne glänzte er derart, dass er die Rechten das Fürchten lehrte, nicht nur in Griechenland, sondern in ganz Europa. Daraufhin wurde von Wirtschaft, Politik und den Medien eine rechte Kampagne gegen ihn lanciert. Es war ein schmutziger Krieg. Sie behaupteten, wenn SYRIZA gewinnt, würden sie Griechenland aus der Eurozone und dem Euro austreten lassen, es würde Chaos herrschen. Das war eine Lüge. SYRIZA wollte nicht aus der Eurozone austreten, sondern ihren inneren Wandel, ihre Veränderung und Demokratisierung.
Sie versuchten, SYRIZA zu verstümmeln, aber SYRIZA existierte weiter und demonstrierte, dass es für die Linke möglich ist, zu gewinnen und sich der Troika und ihren konservativen und sozialdemokratischen Helfern zu stellen. Sie versuchten, Alexis Image zu zerstören, machten ihn aber nur zum Lächeln und zu der Hoffung eines Europas, dass sich nicht mit der Beschneidung seiner Freiheiten, Rechte und sozialen Dienstleistungen, seiner Bildung, Gesundheit und angemessenen Löhnen abfindet. Seine Ausstrahlung reicht weit über die Grenzen der hellenischen Halbinsel hinaus.
Mit 39 Jahren ist Alexis heute die Stimme der Europäischen Linken, der einzigen Partei, die sich der Troika entgegenstellt und Europa neugründen möchte, um es zur Demokratie zurück zu führen und die Wirtschaft in den Dienst der Menschen statt der Banken zu stellen. Der erste Punkt auf seiner Agenda ist die Beendung der Austeritätspolitik und der Memoranden. Außerdem soll eine europäische Schuldenkonferenz abgehalten werden, bei der über die Nichtzahlung illegitimer Schulden, die demokratische Reorganisation der europäischen Institutionen und die Beendigung der Kasinowirtschaft, die die Arbeitenden arm macht, beraten werden soll.
Er sagt, der Liberalismus ist nicht unbesiegbar, dass er nur das Resultat des Zusammenspiels der gegenwärtigen Kräfte ist und dass, wenn sich die Machtverhältnisse ändern, sich auch die politische Ökonomie wandelt. Um dies zu erreichen, fordert Tsipras dazu auf in diesem entscheidenden Moment der Europäischen Linken die Stimme zu geben, um die Politik ändern zu können und sich nicht dem Abgrund hinzugeben, zu dem die Austeritätspolitik hinführt.
Europäische Linke: Letzten Dezember beschloss die Europäische Linke nach eingehender Debatte, einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission zu stellen. 84% der Delegierten übertrugen dir die Verantwortung, dies mit dem Ziel zu übernehmen, in Europa eine starke Stimme für das Ende der Austeritätspolitik zu sein. Wie schätzt du die Arbeit der vergangenen fünf Monate ein?
Alexis Tsipras: In den letzten fünf Monaten habe ich mit der Frau und dem Mann auf der Straße in diversen größeren und kleineren Städten in ganz Europa sprechen können. Ich habe meine Kampagne nicht auf Fernsehstudios fokussiert. Ich fahre überhaupt keine TV-Kampagne. Ebenso erzähle ich den Leuten nichts hinter verschlossenen Türen. Ich bin sicher, dass die Botschaft der Hoffnung und des Wandels der europäischen Linken rübergekommen ist. Ich bin auch sicher, dass die Leute wissen, dass es eine glaubwürdige Alternative zum neoliberalen Europa von Frau Merkel gibt. Sie wissen nun, dass die Europäische Linke eine realistische alternative Politik anbietet, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Ihnen ist deutlich bewusst, dass wir diesen Mai für unser Leben stimmen.
Wir stehen am Scheideweg, an dem wir entscheiden müssen, was die Zukunft der Menschen in Europa sein wird, unter welchen Bedingungen wir nach der Krise überleben werden und wie die europäische Sozial-, Wirtschafts- und Umweltpolitik für die nächsten fünf Jahre aussehen wird. Welche Botschaft hast du in diesem Zusammenhang für die 400 Millionen wahlberechtigten EuropäerInnen, die am 25. Mai ihre Stimme abgeben können?
Alle sollten sich an den Wahlen im Mai beteiligen. Keiner sollte die anderen für sich wählen lassen. Besonders diejenigen, die wollen, dass die Austeritätspolitik jetzt beendet wird, sollten ihre Stimme gegen diese abgeben. Sie sollten ihre Stimme der Europäischen Linken geben. Wir sollten uns alle erheben, mit uns muss man rechnen! Weil diese Wahlen einzigartig sind. Sie sind ein Referendum über unser Leben. Es ist das erste Mal, dass der Wahlausgang so entscheidend für Europa, für unsere Länder, für jede und jeden von uns ist. Unsere Wahl bestimmt den Kurs nicht nur jedes einzelnen unserer Länder, sondern des gesamten Kontinents. Dieses Mal können wir etwas tun. Es ist dringend nötig. Um den Neoliberalismus und das deutsche Europa zurückzudrängen. Wir können das und es ist brandeilig. Um Frau Merkel zu einer politischen Minderheit in Europa zu machen. Um sie politisch zu isolieren. Um sie zu besiegen. Um der Austeritätspolitik ein Ende zu setzen und die Demokratie zurückzugewinnen. Um Europa zurückzugewinnen.
Europa steht an einem historischen Scheideweg. Austeritätspolitik, Arbeitslosigkeit und Armut werden entweder für viele Jahre andauern. Mit immer weniger Demokratie. Oder es wird seinen Kurs ändern und Wachstum, Gerechtigkeit und gute Arbeit fördern. Mit mehr Demokratie. Daher ist das Dilemma, dem wir uns am Wahltag in ganz Europa gegenübersehen, klar: Entweder mit der Linken oder mit Austeritätspolitik. Entweder mit der Linken oder mit Merkel. In den Wahlen im Mai werden entweder jene, die für die Krise verantwortlich sind besiegt und der institutionelle Rahmen der Austeritätspolitik dauerhaft gekippt werden. Oder sie werden die Möglichkeit haben, so weiterzumachen, als ob in Europa in den letzten vier Jahren nichts geschehen sei; sie werden weitermachen mit Lügen und Ausflüchten, und dabei sowohl die Menschen, als auch Europas Zukunft aufs Spiel setzen. Für jene, die die Austeritätspolitik ablehnen und die eine bessere Zukunft wollen; die für sich und ihre Familien Hoffnung wollen; die Arbeit und Wohlstand suchen, für jene ist die Europäische Linke diese Zukunft.
Wenn das Hauptziel der Europäischen Linken ist, Europa neu zu gründen, wo soll man beginnen und was sind die entscheidenden Schritte für einen Wandel?
Um Europa ändern zu können, müssen wir zuerst das politische Kräfteverhältnis in Europa ändern. Es liegt nun an den Menschen in Europa, dafür in wenigen Tagen ihre Stimme abzugeben. Europa sollte sich nach links wenden, mit einem starken Ergebnis für die Europäische Linke. Wir sollten 2014 zu einem Jahr des Wandels machen. Dann wird es zwei Schritte für den Wandel geben: zunächst die sofortige Aufhebung der Austeritätspolitik und aller Memoranden und zweitens, die stufenweise demokratische Reorganisation der europäischen Institutionen, um sicherzustellen, dass die BürgerInnen an Entscheidungen, die sie betreffen partizipieren können, um so das so genannte "Demokratiedefizit" zu verringern.
Du sagst, die Austeritätspolitik funktioniert nicht. Sie hat aber für die so genannte "Kasinowirtschaft" sehr gut funktioniert, die, wie du bereits sagtest, aus der Krise ihren Nutzen zog, um sich durch den aus der Senkung der Arbeitskosten und der Privatisierung und den Verkauf öffentlicher Ressourcen gewonnenen Profit zu bereichern. Wie wirst du gegen die mächtigen Finanzmärkte ankämpfen, die die Welt regieren, ohne Wahlen zu gewinnen?
Die Macht der Finanzmärkte ist abgeleitet und politisch. In dem Sinne, dass die europäische Politik ihre Macht übertragen hat. Im Kontext des laissez-faire Neoliberalismus hat sie alle Formen der direkten und indirekten Kontrolle der Vorgänge auf den Finanzmärkten aufgehoben und es dem Banksystem ermöglicht, diese mit finanzieller Liquidität anzuheizen. Die Konservativen, die Liberalen und die Sozialdemokraten haben alle zugelassen, dass die Demokratie auf die Märkte reagiert und nicht umgekehrt. Dies ist die Entscheidung der neoliberalen Politik. Kasinokapitalismus kann auf europäischer Ebene eingedämmt werden. Um dies zu erreichen, sollten wir aber zuerst das politische Kräfteverhältnis in Europa zugunsten der Europäischen Linken umkehren. Dies würde es uns ermöglichen, unsere politischen Vorschläge zu unterbreiten. Zum Beispiel würde ein "europäischer Glass-Steagall-Akt", der für unser Programm von zentraler Bedeutung ist, allein schon den Kasinokapitalismus in Europa eingrenzen. Er würde die Aktivitäten von Handels- und Investitionsbanken trennen, dadurch eine derartige gefährliche Risikoanhäufung in einer unkontrollierbaren Einheit verhindern und den Handel der Geschäftsbanken mit Wertpapieren und anderen Finanzprodukten einschränken.
Wie willst du Arbeitsplätze für die 27 Millionen EuropäerInnen schaffen, die nach einem Job suchen; insbesondere für junge Leute, deren Arbeitslosigkeitsraten in Griechenland und Spanien 60% erreichen?
Ein unumgänglicher erster Schritt wäre es, die Austeritätspolitik zu beenden und eine inländische nachfrageorientierte Politik einzuführen, die darauf abzielt, die Einkommen und somit die Kaufkraft der unteren und mittleren Schichten zu erhöhen. Gleichzeitig würde der sogenannte "europäische New Deal" eingeführt werden. Das heißt, ein europäischer Plan öffentlicher Investitionen in den Bereichen der Bildung, Forschung und Innovation, der neuen Technologien und Infrastruktur mit starker und zweckgebundener europäischer Förderung. Wir werden unsere Priorität auf eine koordinierte Ankurbelung der europäischen Wirtschaft mit hoher Beschäftigungsrate legen, so dass Europa aus der Rezessionsfalle mit Stagnation und blutarmem Wachstum gelangt.
Du und die Europäische Linke rufen zu einer Europäischen Konferenz zum Thema Schulden und öffentliche Investitionen auf, um die Schuldenprobleme der Länder in Schwierigkeiten zu lösen, wie dies 1953 in Deutschland als erstem Schritt zur wirtschaftlichen Erholung geschah. Was schlägt die EL vor, um das Schuldenproblem zu lösen?
Unser politischer Plan, um die Überschuldung der Eurozone effektiv, glaubwürdig und endgültig zu lösen, ruht auf drei Säulen: Erstens die Austeritätspolitik beenden, weil Austeritätspolitik den Anteil der Schulden am BIP erhöht. Wir brauchen also einen Politikwechsel, um ausgewogenes und realistisches Wachstum zu erzeugen. Wachstum wird es aber nicht unmittelbar nach dem Ende der Austeritätspolitik geben. Daher ist die zweite Säule der von mir erwähnte "europäische New Deal". Und parallel dazu wird die "Europäische Schuldenkonferenz" die dritte Säule sein, die sich mit dem noch ausstehenden Schuldenvolumen per se befasst. Diese könnte eine Reihe möglicher länderspezifischer Lösungen beinhalten, einschließlich der Abschreibung eines bedeutenden Teils des Nennwerts mit einer "Wachstumsklausel" für die Rückzahlung des verbleibenden Teils, der teilweisen Monetarisierung der Schulden durch die Europäische Zentralbank (EZB), einem Moratorium für die Rückzahlung, usw.
Du betonst immer wieder, dass es wichtig ist, die breitest möglichen sozialen und politischen Bündnisse zu bilden. Wie geht es damit voran?
Europa zu ändern, ist eine Aufgabe mit historischen Ausmaßen, die das Engagement möglichst vieler sozialer und politischer Kräfte erfordert. Das wird nicht über Nacht geschehen. Das ist ein Prozess, der sowohl unmittelbare Veränderungen (Wirtschaftspolitik) beinhaltet, als auch schrittweise Reformen, um die neoliberale Struktur der Wirtschaftssteuerung der Eurozone, die Frau Merkel und ihre politischen Verbündeten in den Jahren der Krise aufgebaut haben, zu demontieren. Die notwendige Annullierung des europäischen Fiskalpakts zum Beispiel, der durch Referenden oder durch die übliche parlamentarische Prozedur ratifiziert wurde, kann nicht über Nacht geschehen. Es ist kein Zufall, dass Griechenland, das seit Mai 2010 das Versuchskaninchen für die neoliberalen Politikverschreibungen der Europäischen Union und demgemäß Quelle eines negativen Dominoeffekts im europäischen Süden war, nun mit einer SYRIZA-Regierung die Quelle eines umgekehrten, positiven Dominoeffekts in ganz Europa werden könnte; der Quelle endender Austeritätspolitik und der Beginn demokratischen Wandels. Darum ist die Stimme für die Europäische Linke eine Stimme für die demokratische Zukunft Europas. Wir sollten das politische Kräfteverhältnis in Europa verlagern, um es zu verändern. Neoliberalismus ist weder ein Naturphänomen noch ist er unüberwindbar. Er ist nur das Produkt einer politischen Entscheidung unter historisch spezifischen Kräfteverhältnissen in Europa. Er verdankt seine Langlebigkeit als dominierendes Wirtschaftsparadigma hauptsächlich den Sozialdemokraten, die Mitte der 90er Jahre mit ihrer Politikstrategie seinen Prinzipien und politischen Zielen umfassend entgegen gekommen sind.
Eine andere wichtige Entscheidung, die während der nächsten europäischen Legislaturperiode getroffen werden muss, ist die Zustimmung oder Ablehnung zu der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), die unser Leben, die Wirtschaft und Demokratie tiefgreifend beeinflussen wird. Die Partei der Europäischen Linken setzt sich vehement gegen das TTIP ein. Was sind die gefährlichsten Punkte des Abkommens?
Die Europäische Linke wird niemals ein Handelsabkommen akzeptieren, dass die Abwärtsspirale bei den sozialen, Arbeits-, Gesundheitssicherheits- und Umweltstandards beschleunigt. Handelsabkommen ist normalerweise ein Demokratieabbau inhärent. Wir werden niemals ein Handelsabkommen akzeptieren, dass es privaten Unternehmen ermöglicht, im Falle einer veränderten Wirtschafts- oder Investitionspolitik der nationalen Regierungen, die sie als schädlich für ihre Interessen erachten, rechtlich gegen diese vorzugehen. Dies übertrifft alles Vorhergehende und ist absolut untolerierbar.
Du sagtest einmal auf einer Pressekonferenz, dass du es vorgezogen hast, das Spiel zwischen Real Madrid und Barcelona zu sehen statt der TV-Debatte zwischen Schulz und Juncker zu folgen, weil beim Fussball wenigstens ein echter Wettbewerb stattfinde. Wie würdest du die beiden Kandidaten von S&D und der EPP, Schulz und Juncker, beschreiben?
Mein Kommentar ist rein politisch zu verstehen. Meiner Meinung nach ergänzen sich Herr Juncker und Herr Schulz politisch. Trotz ihrer Unterschiede sind sie Teil des gleichen neoliberalen Konsenses. Daher ergehen sie sich in der Vorwahlperiode in Allgemeinheiten und Wünschen und verbergen die Wahrheit über ihre gemeinsame Austeritätsagenda.
Quelle: european-left.org