Interviews, Länderberichte und andere Texte
Ein neues Europa entsteht von unten
Rede von Katja Kipping auf der Gründungsveranstaltung von #Diem25 in der Berliner Volksbühne
Es gilt das gesprochene Wort!
Liebe Freundinnen und Freunde eines solidarischen und demokratischen Europas, die EU-Eliten geben aktuell einen moralischen Offenbarungseid nach dem anderen ab. Nur die Zahl der Ertrunkenen und Armen scheint auf diesem Kontinent keine Obergrenze zu kennen. Der zynische Umgang der EU mit den Flüchtenden und der fiskalische Staatstreich in Athen offenbaren den moralischen Bankrott des real existierenden Neoliberalismus. Währenddessen entstehen grenzüberschreitende Netzwerke der Solidarität: an der Balkan Route, in Griechenland und hier in Berlin. Ein neues Europa von unten entsteht. Wenn es dieser Tage eine Hoffnung für Europa gibt, dann ist dies nicht den Eliten zu verdanken, sondern diesem paneuropäischen Netzwerke der Solidarität. Diese Bewegungen zeigen: Wer meint, der Rückzug in die nationale Wagenburg sei die richtige Reaktion, der irrt. Die Flüchtlingsfrage unterstreicht die Notwendigkeit transnationaler Zusammenarbeit. Nationale Souveränität ist keine Entschuldigung für das Missachten von Menschenrechten. Anhand der Flüchtlingsfrage wird auch deutlich, wie illusionär die Vorstellung ist, die großen Menschheitsfragen seien heute noch national zu bearbeiten. Und in einer Festung, erst Recht einer, die sich im Kriegszustand gegen geflüchtete Menschen befindet, kann sich keine demokratische Gesellschaft entwickeln.
Nationalisierung und die Anrufung einer vermeintlich "guten alten Zeit" sind keine Modelle mit Zukunft. Weder die autoritäre EU noch die Rückkehr in die Enge des Alten sind erstrebenswert. In dem Streit zwischen einer schlechten Gegenwart und einer traurigen Vergangenheit, gibt es für die Kräfte der Radikaldemokratie nichts zu gewinnen.
Im Gegenteil: Um den großen Menschheitsproblemen begegnen zu können, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Europa. Aber dieses Europa braucht einen Neustart. Dafür brauchen wir einen Plan C.
Ein wichtiger Teil davon ist eine soziale Unionsbürgerschaft — eine soziale Unionsbürgerschaft als materieller Ausdruck der Idee einer wirklichen Demokratie. Als einen ersten Schritt bräuchte es ein Bedingungsloses Grundeinkommen, das über den jeweiligen regionalen Armutsrisikogrenzen liegt. Nicht als Almosen, das gnädig gewährt wird, sondern als Grundrecht, für jeden und jede, der oder die in der EU lebt. Ein soziales Sicherheitsnetz, unter das niemand fällt.
Demokratie ist kein Zustand, sie ist ein Prozess - ein Prozess hin zur Selbstregierung. D.h. wir müssen die Demokratie aus den Hinterzimmern der Technokraten zurück zu den Menschen bringen.
Diejenigen, die von Entscheidungen betroffen sind, müssen diese Entscheidungen auch mitbestimmen dürfen. Das gilt in unserer globalisierten Welt mehr denn je. Denn anhand der Umweltflüchtlinge wird das demokratisches Defizit der aktuellen Ordnung deutlich: Die besonders Betroffenen haben hier keinerlei Mitspracherecht. Sie können nicht über eine Wirtschaftspolitik mitentscheiden, die sie direkt betrifft. Das zeigt: Eine europäische Demokratie, die sich selbst ernst nimmt, muss grenzübergreifend werden. Der Demos kann heute kein allein nationaler mehr sein.
Aber unsere Hoffnung ruht nicht auf den Hinterzimmern, sie liegt in der kritischen Öffentlichkeit. Denn in den letzten Jahren haben in Europa schon viele ihre Stimme erhoben: in den Willkommensinitiativen, den Krisenprotesten und Klimakämpfen, auf den Plätzen von Athen bis Madrid, bei Studentendemos und Streiks, in den zahllosen Initiativen grenzübergreifender Solidarität. Sie haben durch ihr bloßen Handeln "nein" zum "weiter so" gesagt. Nein zu einem "weiter so", das schon lange vor der jüngsten Krise eine permanente Krise für alle war.
Der Sommer der Solidarität hat gezeigt, was passieren kann:
- wenn Ländergrenzen in einer Solidarität verdampfen die uns alle vereint.
- wenn Menschen aus Parteien, Aktivistinnen und Aktivisten aus Bewegungen, Kolleginnen und Kollegen aus Gewerkschaften, und Initiativen zusammen kommen, um deutlich zu machen: Europa können wir selber anders machen: Solidarisch. Demokratisch. Grenzenlos.
Wir sollten überlegen, wie wir diese Möglichkeit sichtbar machen können. Vielleicht in einem wilden Referendum über die Zukunft Europas — einem wilden Referendum zwischen Austerität und wirklicher Demokratie.
Natürlich: Es gibt keinen Automatismus. Wir können verlieren. Aber das werden wir sicher, wenn wir still halten. Die Entscheidung lautet:
- entweder Aufbruch in eine grenzübergreifende Demokratie oder ein allmähliche Zerfall der Gesellschaft,
- entweder organisierte Barbarei, permanente Krise und ökologischen Zusammenbruch oder ein Neustart für Europa.
Also, worauf warten wir? Es ist Zeit in Bewegung zu kommen. Danke!