Interviews, Länderberichte und andere Texte
EUropas Rüstungsgipfel
Von Tobias Pflüger, Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Erstmals seit 2008 befassen sich die Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat am 19. und 20. Dezember 2013 wieder mit dem Schwerpunkt EU-Militarisierung (im Sprachjargon "Sicherheit und Verteidigung"). Die überaus ambitionierte Agenda wird auf der Ratshomepage folgendermaßen beschrieben: "In der heutigen, im Wandel begriffenen Welt muss Europa bei der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit eine größere Rolle übernehmen. Die EU trägt durch ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zum internationalen Krisenmanagement bei. Europa sollte über Fähigkeiten verfügen, die den künftigen Anforderungen entsprechen. Gleichzeitig ist es angesichts der derzeitigen finanziellen Engpässe noch dringender geboten, dass die europäischen Staaten bei der Entwicklung ihrer militärischen Fähigkeiten eng zusammenarbeiten."(1)
Im Kern geht es bei dem EU-Gipfeltreffen also darum, wie angesichts der finanziellen Engpässe infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise dennoch die militärischen Kapazitäten ausgebaut werden können, die für die Verwirklichung der EU-Weltmachtambitionen als notwendig erachtet werden. Im Vorfeld war die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton damit beauftragt worden, hierfür einen Vorschlagskatalog zu erarbeiten. Er wurde in mehreren Durchläufen sowohl von den Mitgliedstaaten als auch von der Brüsseler Bürokratie diskutiert und ergänzt und schließlich am 15. Oktober 2013 unter dem Titel "Preparing the December 2013 European Council on Security and Defence"(2) veröffentlicht. Wie die folgende Auswertung dieses Papiers zeigen soll, hat sie damit dem Rat eine ebenso umfassende wie gefährliche Militarisierungs-Agenda zur Abstimmung vorgelegt.
Neues Militärisches Anforderungsprofil
Catherine Ashton sieht Gefahren aus buchstäblich allen thematischen und geographischen Richtungen auf die Europäische Union zukommen: Konkret benennt sie die bereits "länger existierenden" Bedrohungen durch eine Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln (Proliferation), Terrorismus, gescheiterte Staaten, regionale Konflikte und "Organisierte Kriminalität". Hinzu kämen aber "neue Sicherheitsbedrohungen", etwa Cyberangriffe und die Auswirkungen des Klimawandels, aber auch "zunehmende Konflikte um Energie, Wasser und andere Ressourcen." (S. 1) Dies alles erfordere, dass die Europäische Union als "Sicherheitsdienstleister" (security provider) in ihrer Nachbarschaft und bei den "Nachbarn der Nachbarn" agieren müsse, "einschließlich durch direkte militärische Interventionen." (S. 2)
Für solche "Nachbarschaftsinterventionen" gelte es, die entsprechenden militärischen Fähigkeiten auszubauen: "Was die rasche militärische Einsatzfähigkeit anbelangt, ist der Bedarf nach hochgradig leistungsfähigen und interoperablen Truppen, die kurzfristig zur Verfügung stehen, so groß wie noch nie." (S. 11) Dabei seien die EU-Kampftruppen (Battle Groups) Einheiten, die innerhalb kürzester Zeit für Militärinterventionen herangezogen werden können, weiter das "militärische Flaggschiff". Allerdings gelte es, deren "Einsatzfähigkeit zu verbessern" (S. 11). Um "Defizite zu identifizieren und den künftigen Kapazitätsbedarf abzustecken", werde aktuell der Kapazitätsentwicklungsplan (CDP) überarbeitet. Ferner bedürfe es aber einer Aktualisierung des Militärischen Planziels (Headline Goal), das Zielgrößen formuliert und des Kräftekatalogs (Force Catalogue), der diese nach Ländern und Einheiten aufschlüsselt (S. 16).
Neue Rüstungsprojekte
Vor allem vom Ausbau der europaweiten Rüstungskooperation durch die gemeinsame Anschaffung und Nutzung von Militärgerät (Pooling & Sharing) verspricht sich Ashton "Effizienzsteigerungen" für eine "Verbesserung" der militärischen Fähigkeiten: "Die Zusammenarbeit erlaubt den Mitgliedsstaaten Kapazitäten gemeinsam zu entwickeln, anzuschaffen, zu warten und zu verwenden und dabei den größtmöglichen Nutzen aus Skaleneffekten zu ziehen und so die militärische Effektivität zu vergrößern. […] Es bedarf eines starken Impulses auf Ebene des Europäischen Rates, um Pooling & Sharing sowohl in der Verteidigungsplanung und im Entscheidungsprozess der Mitgliedsstaaten zu verankern als auch um Schlüsselkapazitäten durch große Kooperationsprojekte bereitzustellen." (S. 14f.)
Ein Kollateralschaden der europaweiten Rüstungskooperation zeichnet sich bereits ab: Da gesichert werden soll, dass Staaten auf "gepoolte" Kapazitäten zurückgreifen können, sofern sie sich zu einer Militärintervention entschlossen haben, sucht die Schwarz-Rote Bundesregierung nun nach Wegen, diesen Bereich vom Parlamentsvorbehalt auszunehmen. So heißt es im aktuellen Koalitionsvertrag: "Deshalb wollen wir eine Kommission einsetzen, die binnen Jahresfrist prüft, wie auf dem Weg fortschreitender Bündnisintegration und trotz Auffächerung von Aufgaben die Parlamentsrechte gesichert werden können. Die Kommission wird darauf aufbauend Handlungsoptionen formulieren."
Eines der wesentlichen "großen Kooperationsprojekte", die von Ashton vorgeschlagen werden, ist die Entwicklung einer EU-Drohne (Remotely Piloted Aircraft Systems, RPAS). Geld hierfür soll unter anderem aus dem kommenden EU-Forschungshaushalt für die Jahre 2014-2020 (Horizon 2020) locker gemacht werden (S. 17). Auch hier deckt sich die EU-Agenda mit den Bestimmungen aus dem Schwarz-Roten Koalitionsvertrag: "Die Koalition wird eine europäische Entwicklung für unbemannte Luftfahrzeuge voranbringen."
Neue Finanzierungsoptionen
Auch wenn die EU-Rüstungsausgaben in keiner Weise einbrachen, wie uns das Politik, Industrie und Militär versuchen einzureden, ist die Finanzierung dieser militärischen Wunschlisten angesichts der knappen Kassen in allen Mitgliedsländern eine überaus heikle und umstrittene Angelegenheit. Bislang lassen sich z.B. nur kleine Teile der Ausgaben eines EU-Militäreinsatzes aus einem gemeinsamen Haushalt (ATHENA) finanzieren, in den alle Mitgliedsstaaten nach einem festen Schlüssel einzahlen. Den Löwenanteil müssen diejenigen bezahlen, die die Kriege auch mit ihren Truppen führen ("costs lie where they fall"). Vielfach wurde hier beklagt, dies trage nicht gerade zur Ermunterung bei, sich an EU-Militär- und Kriegseinsätzen zu beteiligen, weshalb Ashton fordert: "Auch wenn dies sensible Themen sind, mit Fragen der Kostenteilung und gemeinsamen Finanzierung muss sich befasst werden, möchte man die Beteiligung der Mitgliedsstaaten fördern." (S. 12)
Mit dem "Anschubfonds" wurde bereits mit dem Vertrag von Lissabon die Möglichkeit geschaffen, künftig eine Art EU-Rüstungshaushalt aufzustellen - bis zu diesem Zeitpunkt war die Finanzierung von militärrelevanten Aspekten aus dem EU-Haushalt im Prinzip verboten. Allerdings scheinen eine Reihe von Ländern wenig Begeisterung zu verspüren, in einen solchen EU-Militärhaushalt einzuzahlen, was Ashton ausdrücklich bedauert: "Es gibt ein riesiges ungenutztes Potential des Vertrags von Lissabon mit Blick auf die schnelle Verlegefähigkeit. Der Vertrag erlaubt es, einen Anschubfonds aus Beiträgen der Mitgliedsstaaten einzurichten, aus dem Aufgaben der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik finanziert werden, die nicht aus dem EU-Haushalt bezahlt werden können. Allerdings gibt es bislang noch keinen Konsens, solch einen Fonds aufzustellen." (S. 12) Aus diesem Grund mahnt Ashton an, die Frage der gemeinsamen Finanzierung müsse nun verstärkt auf Tapet gebracht werden und sie schlägt vor, die Liste bereits heute finanzierbarer Maßnahmen deutlich auszuweiten.
Neue Militärpropaganda
Während die einzelnen Mitgliedsländer zwar an größeren militärischen Fähigkeiten hochinteressiert sind, angesichts ihrer knappen Kassenlage aber bestrebt sind, selbst möglichst wenig finanzielle Mittel hierfür aufbringen zu müssen, bringen ihre jeweiligen Bevölkerungen hierfür noch weniger Begeisterung auf. Angesichts des europaweiten Kahlschlags bei den Sozialausgaben sind substanzielle Steigerungen der Militärbudgets auf absehbare Zeit kaum zu bewerkstelligen. Selbst um die Haushalte auf dem - hohen - Niveau zu stabilisieren, dürfte es einiger Anstrengungen bedürfen. Und wie es im Kapitalismus nun einmal so ist, wenn jemand ein schlechtes Produkt verkaufen will, an dem niemand Interesse hat, muss er mehr in Werbung investieren, um es an den Mann respektive die Frau zu bringen.
Zu diesem Zweck betonte Ashton schon in einer Rede im März 2013: "Aus meiner Warte ist der Sicherheits- und Verteidigungssektor aus drei Gründen notwendig: Erstens, um die Umsetzung der europäischen Ambitionen auf globaler Ebene zu gewährleisten. Das zweite Argument ist operativer Natur: Um zu gewährleisten, dass Europa über die richtigen militärischen Fähigkeiten verfügt, um handlungsfähig zu sein. Und der dritte Grund ist ökonomischer Natur: hier geht es um Arbeitsplätze, Innovationen und Wachstum." Kurz gesagt argumentiert die EU-Außenbeauftragte also, das Militär sei nicht nur für die machtpolitischen Ambitionen und die Durchführung von Kriegseinsätzen von Vorteil, sondern auch ein binnenwirtschaftlicher Segen.
Nun weiß Ashton selbst, dass diese Behauptungen Quatsch sind; und weil dies auch die Mehrheit der EU-Bürger so sehen dürfte, kündigt sie in ihrem Papier zum EU-Ratsgipfel eine "Attraktivitätsoffensive" an: "Es ist wichtig der Öffentlichkeit zu kommunizieren, dass Fragen der Sicherheit und Verteidigung heute von Bedeutung sind und sie für ihren künftigen Wohlstand wichtig sein werden, auch wenn unsere Bürger nicht notwendigerweise immer eine unmittelbare äußere Gefahr sehen müssen. Die Staats- und Regierungschefs sind genau die richtigen, um diese Botschaft einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln und wir sollten diese Gelegenheit nicht verpassen." (S. 13)
Mit anderen Worten steht auf der Agenda des Gipfels nicht nur eine Forcierung der Militarisierung, sondern auch der Militarisierungs-Propaganda!
Anmerkungen
(1) www.european-council.europa.eu/council-meetings?meeting=257508dc-b1e7-4f58-914e-4bbaebf37e47&tab=SecurityAndDefence&lang=de#t2
(2) www.eeas.europa.eu/statements/docs/2013/131015_02_en.pdf
Vorabdruck aus: PAX-REPORT, Nr. 2/2013//1/2014 (PAX-Report ist die Zeitschrift des Deutschen Friedensrates)