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Sechs Punkte für eine solidarische Migrationspolitik an der EU-Außengrenze in den griechischen Hotspots
In den vergangenen Tagen war eine kleine Delegation der Linkspartei auf Lesbos, um sich vor Ort ein Bild von der Lage im Geflüchtetenlager auf Lesbos zu machen. Neben der Parteivorsitzenden, Janine Wissler, nahmen die Europaabgeordnete Cornelia Ernst, die Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut und Michel Brandt sowie die Vorsitzende der Linksfraktion in der Bremischen Bürgerschaft, Sofia Leonidakis, und die Bundestagskandidatin Clara Bünger teil. Im Ergebnis ihrer Reise schlagen sie die folgenden sechs Punkte vor:
1. Humanitäre Katastrophe in der EU beenden - Lager an den EU-Außengrenzen schließen
Die Lager an der EU-Außengrenze stehen beispielhaft für die Politik der Abschreckung und der Migrationsverhinderung der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Gleichzeitig stehen sie für eine systematische Missachtung von Menschrechten. Die letzten fünf Jahre seit Bestehen des EUTürkei-Deals haben gezeigt, dass dieses System und die Lager an der EU-Außengrenze nicht in Einklang mit EU- und Menschenrechten zu bringen sind. Nach dem Brand im Lager Moria auf Lesbos im September 2020 hieß es: "No more Morias". Stattdessen hat sich die Lage noch weiter verschlimmert. Die humanitären Bedingungen im Moria-Nachfolgelager Mavrovouni sind katastrophal. Sanitäre Anlagen, gesundheitliche Versorgung, Beschulung der Kinder, adäquate Unterbringungsbedingungen für unbegleitete Minderjährige, Geflüchtete mit Behinderung, alleinreisende Frauen oder Folteropfer sind kaum oder nicht verfügbar. Die Aufenthaltsdauer in diesen unzumutbaren Zuständen währt nicht selten über ein Jahr.
Wir, die Teilnehmenden der Delegationsreise, haben mit Geflüchteten gesprochen, die bereits seit 2 Jahren auf Lesbos verharren, zunächst in dem massiv überfüllten Lager Moria (über 20.000 Bewohner:innen auf 3000 Plätzen), das im September 2020 abbrannte, dann im neuen Lager Mavrovouni. Wir haben mit Geflüchteten gesprochen, die besonders schutzbedürftig sind: Alleinreisende Mütter von Kindern mit Behinderungen, Eltern von Kindern mit psychotherapeutischen Bedarfen, Rollstuhlfahrer:innen, Minderjährige.
Sie und weitere über 1000 besonders vulnerable Geflüchtete wurden, willkürlich, gegen alle Proteste, nach der Schließung der beiden Camps Pikpa und Kara Tepe 1 durch die griechische Regierung im neuen Lager Mavrovouni untergebracht, das in keiner Weise auf besondere Bedarfe ausgerichtet ist. Die Unterbringung dort ist für jede und jeden der 6250 Bewohner:innen menschenunwürdig, für die besonders Schutzbedürftigen ist sie zudem ein klarer Rechtsbruch.
Ein Drittel der derzeit 6250 Geflüchteten im Lager Kara Tepe sind Kinder. Ärzte ohne Grenzen berichteten uns von 49 Selbstmordversuchen unter Kindern in diesem Jahr. Viele Kinder hören im Lager auf zu sprechen, sie reißen sich die Haare aus und lachen nicht mehr. Wer nicht mit Traumata nach Kara Tepe kam, wird hier traumatisiert.
Während des Asylverfahrens bekommen die Geflüchteten 90 Euro pro Monat, nach der Anerkennung oder der zweiten Ablehnung im Widerspruchsverfahren erhalten sie keinerlei finanzielle Mittel mehr. Sie bleiben mittel- und häufig auch obdachlos, wenn sie es aufs Festland schaffen, ohne Hilfe in einem Land, das ihnen keine Teilhabe an der Gesellschaft, im Arbeitsmarkt oder Bildungswesen ermöglicht. Diese inakzeptable Politik ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Griechenland und die griechischen Ägäis-Inseln von der EU weitgehend allein gelassen wurden bei der Aufnahme von Schutzsuchenden. Die Anrainerstaaten haben Grenzzäune gebaut, EU-Länder, wie Deutschland, blockieren häufig die Familienzusammenführung, auch in Fällen, in denen im Rahmen des Dublin-Systems hierauf ein Rechtsanspruch besteht.
2.Solidarität statt Abschottung - Menschenrechtebasierte Asyl- und Migrationspolitik
Maßstab der Asyl- und Migrationspolitik müssen das individuelle Recht auf Asyl und die Menschenrechte sein. Es muss ein humanes und menschenrechtebasiertes Aufnahmesystem geschaffen werden, in dem eine menschenwürdige Versorgung und Unterbringung von Schutzsuchenden jederzeit uneingeschränkt gewährleistet wird. Das beinhaltet insbesondere den Verzicht auf Maßnahmen zur Abschreckung, etwa die gezielte Unterbringung in isolierten Massenunterkünften, eine Abkehr vom Vorrang von Sachleistungen, Arbeitsverboten und Residenzpflicht. Die Dublin-Verordnung ist der Kern des geltenden EU-Asylsystems – und Ursache vieler Probleme: Das Festhalten am Ersteinreiseprinzip wird eine faire Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU nicht möglich machen. Seit Jahren weisen die Länder an den EU-Außengrenzen darauf hin, dass sie gemessen an der Bevölkerungsgröße und der Wirtschaftskraft bei der Aufnahme von Geflüchteten ein Vielfaches im Vergleich zu den EU-Kernländern zu leisten haben. Eine Folge des Festhaltens am Dublin-System, ist auch, dass Länder an den Außengrenzen versuchen, die Einreise von Schutzsuchenden zu verhindern, teilweise mit illegalen und lebensgefährlichen Mitteln, wie rechtswidrigen Zurückweisungen („Pushbacks“), um nicht für entsprechende Asylverfahren zuständig zu werden. Die Frage der Kriterien für die Zuständigkeit im Asylverfahren muss solidarisch gelöst werden, indem die berechtigten Interessen und individuellen Belange der Schutzsuchenden bei der Bestimmung des zuständigen Aufnahmestaates zentral berücksichtigt werden. Schutzsuchende selbst müssen in den Mittelpunkt der EU-Asyl- und Migrationspolitik rücken, statt an einem ungerechten und unmenschlichen Abschottungs- und Abschiebesystem festzuhalten.
3. Legale Zugangswege nutzen und erweitern
Das Mittelmeer inklusive der Ägäis ist die tödlichste Grenze der Welt. Seit 1993 haben hier mindestens 44.000 Schutzsuchende den Tod gefunden. Doch wer vor Krieg, Unsicherheit und Gewalt flieht, hat kaum eine andere Wahl.
Wir stehen für ein offenes Europa, das schutzsuchende Menschen würdevoll aufnimmt. Um die Leben flüchtender Frauen, Kinder und Männer nicht weiter zu gefährden, braucht es endlich legale und sichere Fluchtwege für Geflüchtete in die EU, humanitäre Visa zur legalen Einreise oder die Aufhebung des Visumszwangs für Schutzsuchende, eine uneingeschränkte Gewährleistung des Familiennachzugs zu international Schutzberechtigten und anderen Schutzbedürftigen, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Gleichzeitig bedarf es einer deutlichen Ausweitung von Resettlement- und Aufnahmeprogrammen, insbesondere auch in Verantwortung der Bundesländer, Städte und Kommunen, wenn sich diese zur Aufnahme bereit erklären. Insgesamt gibt es über 250 aufnahmebereite Kommunen, die ihre Bereitschaft erklärt haben, zusätzlich Menschen aufzunehmen. Hier muss Deutschland vorangehen und mehr Menschen aufnehmen und so Geflüchteten eine sichere Einreise innerhalb der EU aber auch aus Drittstaaten gewähren, damit sie nicht ihr Leben aufs Spiel setzen müssen.
4. Frontex abrüsten und in eine europäische Rettungsmission umwandeln
Frontex ist an illegalen Pushbacks an der EU-Außengrenze beteiligt. Die Agentur ist außer Kontrolle und nicht geeignet, Aufgaben in einem Aufnahmesystem für Schutzsuchende innerhalb der EU zu übernehmen. Im Gegenteil: FRONTEX perfektioniert die Abschottung und Abschiebungen der EU. Statt sie weiter aufzurüsten, gehört die EU-Grenzschutzagentur aufgelöst und umgewandelt. Der für die nächsten Jahre vorgesehene Milliardenetat wäre besser investiert in: 1) eine europäische Seenotrettungsmission; 2) die Aufnahme Geflüchteter und ein verbindliches Resettlement-Programm in allen Mitgliedstaaten; 3) einen unabhängigen Monitoringmechanismus, mit dem die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte an den EU-Außengrenzen unabhängig überwacht wird und der effektive Beschwerde- und Rechtsschutzmöglichkeiten bietet. Es muss zudem Schluss sein mit der Kriminalisierung ziviler Seenotrettung! Statt die EU-Außengrenzen weiter abzuschotten gilt es, legale und sichere Fluchtwege zu schaffen und gleichzeitig Fluchtursachen wie Kriege und neokoloniale Ausbeutung zu bekämpfen.
5. Keine Externalisierung der Asyl- und Migrationspolitik – No more Deals
Bereits 2015 wurden die EU-Hotspots als Teil der „Europäischen Migrationsagenda“ in Italien und Griechenland etabliert, um eine schnelle Umverteilung der Geflüchteten zu ermöglichen. Von schnellen Verfahren und dem ursprünglich kommunizierten Verteilungsgedanken innerhalb der EU wurde jedoch sehr schnell Abstand genommen. Mit dem am 18. März 2016 unterzeichneten EU-Türkei-Deal wurde die Auslagerung der Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen auf eine neue Stufe der Abschreckung gestellt. Aus Transitlagern wurden Abschiebezentren und Endstationen für Geflüchtete. Die sog. EU-Hotspots auf Lesbos, Leros, Chios, Kos und Samos sind Bestandteil des EU-Türkei-Deals, den Bundeskanzlerin Merkel mit dem türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan ausgehandelt hat.
Der EU-Türkei Deal steht beispielhaft für das System der Migrationsverhinderung und die Externalisierung des Flüchtlingsschutzes. Fünf Jahre EU-Türkei-Deal haben gezeigt, dass es nie das Ziel war, Schutzsuchenden eine legale Aufnahme und Alternative zu den tödlichen Fluchtrouten zu bieten. Fünf Jahre EU-Türkei-Deal haben auch gezeigt, dass zu keinem Zeitpunkt rechtsstaatliche Asylverfahren in den EU-Hotspots realisiert wurden. Stattdessen haben sie zu jahrelangem Chaos und Elend geführt. Es darf keine Deals mit Drittstaaten geben, stattdessen braucht es ein Aufnahmesystem, das niemanden zurücklässt und Menschen, die Schutz suchen, unter menschenwürdigen Bedingungen aufnimmt. Dem EU-Türkei-Deal und Kooperationen mit autoritären Regimen wie Libyen zum Zweck der Abschottung der EU stellen wir uns entschieden entgegen: Sie sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Diese "Kooperationen" müssen aufgekündigt werden!
6. Solidarität ermöglichen statt verhindern
Trotz des verheerenden Brandes in Moria im September 2020 und vielen Bekundungen von Verantwortlichen, hat die Bundesregierung lediglich 3.658 von 40.000 Schutzsuchenden aufgenommen, die bis letztes Jahr auf den Inseln lebten. Dabei möchten viele Städte und Kommunen in Deutschland und in der ganzen EU Geflüchtete aufnehmen. Die drei Bundesländer Berlin, Thüringen und Bremen haben Landesaufnahmeanordnungen erlassen, nach denen sie sofort Geflüchtete aufnehmen und aus den inhumanen EU-Hotspots evakuieren könnten. Statt diese Solidarität vieler lokaler politischer Akteure zu begrüßen und zu unterstützen, hat Bundesinnenminister Seehofer diese Aufnahme abgelehnt. Bisher verlangt das Aufenthaltsgesetz bei Landeaufnahmeprogrammen das Einvernehmen des Bundes, obwohl zunächst vor allem die Kommunen für eine Integration in die Gemeinden, die Unterbringung und den Schulunterricht aufkommen würden. Das Land Berlin klagt deswegen zu Recht gegen die Ablehnung Seehofers. Die Blockadehaltung der Bundesregierung macht eine Änderung des Aufenthaltsgesetzes erforderlich, damit Länder und Kommunen Spielräume zur eigenverantwortlichen Aufnahme von Geflüchteten erhalten. Die vielfach vorhandene Solidarität mit Geflüchteten muss gestärkt und ermöglicht werden. Die Dauerinternierung von Schutzsuchenden unter Bedingungen, die zu Suizidversuchen von Kindern und systematischen Menschenwürdeverletzungen führen, sind unerträglich und mit den grundlegenden Werten und Rechten der EU unvereinbar. Wir dürfen nicht schweigen über diese Verbrechen an der Menschlichkeit an den Außengrenzen der EU, denn sie geschehen in unser aller Namen. Dabei darf Migration und der Einsatz für eine solidarische Asyl- und Migrationspolitik nicht weiter kriminalisiert werden.
Janine Wissler
Cornelia Ernst
Gökay Akbulut
Michel Brandt
Sofia Leonidakis
Clara Bünger