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Interviews, Länderberichte und andere Texte

Bereich Internationale Politik

Wahl in der Türkei: Linke gewinnen deutlich – aber Gefahren bleiben

Analyse der Parlamentswahlen in der Türkei, von Cem Sey, im Auftrag des Bereiches Internationale Politik

In der Türkei ist etwas passiert, das vor einigen Monaten undenkbar gewesen wäre: Erdogan und seine Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) verloren nach 13 Jahren nicht nur die Wahl, sondern auch die absolute Mehrheit. Die einzige Wahlsiegerin ist keine der beiden größeren Oppositionsparteien, sondern die Demokratische Partei der Völker (HDP). Damit wurde eine neue Ära eingeleitet. Die 13-jährige Alleinherrschaft der AKP wurde beendet und das Parlament in Ankara hat zum ersten Mal seit dem Militärputsch in 1980 ein pluralistisches Gesicht bekommen, das diesen Namen verdient.

Die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache:

Die AKP verlor 9 Prozent und kam auf knapp 41 Prozent der Stimmen. Sie wird zukünftig 258 Sitze haben. Damit verfehlt sie die absolute Mehrheit um 18 Stimmen. Die zweitgrößte Partei ist weiterhin die Republikanische Volkspartei (CHP) mit -fast unverändert- einem Viertel der Wählerstimmen, gefolgt von der faschistoiden Partei der Nationalen Bewegung (MHP), die im Ausland eher unter dem Namen “Graue Wölfe” bekannt ist. Die MHP konnte der AKP ca. 2 Prozent ihrer Wähler abwerben und kam auf knapp 17 Prozent. Die HDP steigerte ihren Stimmanteil sensationell um mehr als 200 Prozent und erhielt über 13 Prozent der Stimmen. Obwohl die HDP weniger Stimmen erhielt als die MHP, wird sie im neuen Parlament -durch die verzerrte Verteilung der Sitze bedingt durch das Wahlsystem- einen Sitz mehr als die MHP haben und ist in diesem Sinne in den nächsten Jahren die drittstärkste Kraft.

Die Beobachter sind sich einig: Diese Wahl sei ein Sieg der Demokratie. Denn die Wählenden hätten sich klar gegen einen autoritären Politikstil geäußert. Sie hätten sich für ein politisch-administratives System ausgesprochen, in dem Meinungsfreiheit respektiert wird, die Politik sich aus den Angelegenheiten der Justiz raushält und die Gewaltenteilung unangetastet bleibt. Kurzum, sie hätten sich gegen das vom Staatspräsidenten und Gründer der AKP, Recep Tayyip Erdoğan, sehr aggressiv propagierte Präsidialsystem mit autoritären Zügen gestellt. Damit seien die Pläne Erdoğans zunächst einmal begraben.

 

Verborgene Gefahren

Obwohl diese Analyse richtig ist, lohnt sich ein näherer Blick. Denn dann wird deutlich, dass die Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler Grundtendenzen aufweisen, die in der Zukunft, nimmt man sie nicht ernst, gefährliche Entwicklungen hervorrufen können.

Die erste Meinungsforschung nach der Wahl zeigt, dass die Wählenden vor ihrem eigenen Mut Angst bekommen haben. Eine Mehrheit wünscht sich eine Neuwahl und gibt an, sie würde wieder die AKP wählen. Vor allem die früheren AKP-Wähler, die sich diesmal für die MHP entschieden haben, bereuen ihre Entscheidung offensichtlich bereits.

Noch gefährlicher für den Demokratiegedanken ist, dass sich eine komfortable Mehrheit in der Bevölkerung jetzt eine Koalition zwischen der AKP und der MHP wünscht. Dieser Wunsch ist auf einen nationalistischen Reflex des türkisch-sunnitischen Teils der Bevölkerung zurückzuführen, der in der HDP eine ernsthafte Bedrohung sieht, vor allem, weil diese Partei die Grundrechte der Kurden im Land, aber auch die Rechte anderer Gruppen, wie der Alewiten oder der LGBTI vertritt.

Dadurch schafft diese türkisch-sunnitische Mehrheit einen realpolitischen Druck auf Politiker, die in diesen Tagen überlegen, welche Koalition sie eingehen sollten. Gegen diesen Trend gibt es zwei weitere, die ein Abrutschen in eine „Weiter so mit einer noch breiteren türkisch sunnitischen Mehrheit“-Stimmung ausbalancieren könnten.

Erstens ist die Angst, dass der Krieg zwischen der türkischen Armee und der PKK wieder aufflammen könnte und deshalb der Wunsch, den angefangenen Friedensprozess weiterzuführen, zu groß, um sie zu ignorieren. Alle, die sich einen friedlichen Ausgang wünschen, wissen, dass mit einer MHP-Beteiligung der Friedensprozess fast automatisch eingefroren wird. Die Gefahr, dass die Kämpfe mit einer AKP-MHP-Koalition bald wieder ausbrechen, ist sehr real.

Zweitens sehen die meisten Menschen im Land in der neuen Machtverteilung in Ankara eine echte Chance, die gewaltigen Korruptionsvorwürfe gegen die alte Regierung und Erdoğan aufzuklären. Sie hoffen, dass alle Maßnahmen der letzten Jahre, die darauf zielten, die Macht der AKP zu befestigen und Erdoğan als eine Art neuen „Sultan“ aufzubauen, rückgängig gemacht werden.

 

Koalitionsalternativen

Sieht man die Lage durch dieses kleine Fenster, das durch die o.g. Grundtendenzen definiert ist, werden die kurz- bis mittelfristigen politischen Alternativen in Ankara deutlich, und bei jeder Alternative ist die AKP an der Regierung beteiligt. Hinzukommt, dass die AKP trotz schwerer Verluste mit großem Abstand weiterhin die größte Partei und Erdoğan weiterhin der Staatspräsident ist und damit in einer Position, die Entscheidungen maßgeblich zu beeinflussen. Das führt zu einem einfachen Ergebnis: Die Entscheidung über die Zusammensetzung der nächsten Koalition wird wieder die AKP treffen.

Sie kann mit der HDP koalieren, aber das will ihre Wählerschaft nicht. Außerdem wären die Unzufriedenheit und der Widerstand der restlichen Wähler heftig. Diese Kombination degradiert diese Alternative zu einer lediglich theoretischen Möglichkeit.

Entscheidet sich die AKP dagegen für eine Koalition mit den Nationalisten der MHP, wird sie den Friedensprozess begraben. Das könnte mittelfristig dazu führen, dass die wenigen gläubigen Kurden, die sie noch wählen, auch zur HDP überlaufen und die AKP im kurdischen Teil der Türkei das Schicksal anderer türkischen Parteien teilt – nämlich zu verschwinden. Das, gepaart mit einem Aufflammen des Krieges, könnte tatsächlich zum endgültigen Auseinanderleben der Türken und Kurden führen. Das ist ein Risiko, das die AKP nicht eingehen will und kann.

Diese Alternative, die das Risiko einer weiteren Destabilisierung und eines Bürgerkrieges mit sich bringt, ist auch deshalb gefährlich, weil die beiden südlichen Nachbarn der Türkei ohnehin in einem brutalen Krieg verfangen sind. Die Gefahr, dass der Flächenbrand auch auf türkisches Territorium übergreift, wäre groß.

Bei dieser Alternative hätte die AKP andererseits weiterhin die Chance gemeinsam mit der MHP den autoritären Umbau des Staates fortzuführen. Selbst der Gedanke eines Präsidialsystems mit autoritären Zügen könnte bald wiederbelebt werden, denn die MHP vertritt seit ihrer Gründung in den 1960er Jahren ohnehin autoritär-faschistoide Ideen. Sie wäre für ein Präsidialsystem, wenn sie eine realistische Chance sähe, irgendwann selbst den Präsidenten stellen zu können.

Entscheidet sich aber die AKP für die Fortführung des Friedensprozesses, dann wird sie eine Koalition mit der CHP vorziehen. Denn in der CHP hätte sie eine Partei, die einerseits zumindest verbal einen Frieden unterstützen würde, aber andererseits, ähnlich wie die AKP, diesen Frieden möglichst zugunsten des bisherigen Status quos und Systems zu formen wünschte. Ein Frieden, den sich die Kurden nicht vorstellen können und kaum akzeptieren würden.

Im Falle einer AKP-CHP-Koalition müsste die AKP die strukturellen Änderungen, die sie seit 2007 einführte, um die alten kemalistischen Eliten zu entmachten, zumindest teilweise wieder zurücknehmen. Auf dem Papier würde das bedeuten, dass die Trennung zwischen Staat und Religion wieder etwas gestärkt und das Ansehen der Armee wiederhergestellt wird und die Machtverteilung zugunsten der AKP in mehreren staatlichen Ausschüssen, wie der Medienkontroll- oder dem Hochschulausschuss, rückgängig gemacht werden.

Auch in der Außenpolitik müsste die AKP einen deutlichen Schwenk machen. Bei einer Koalition mit der CHP müsste Ankara seine Unterstützung für die Aufständischen in Syrien einstellen und seine Kontakte zu den Muslimbrüdern in der Region zumindest auf ein sehr niedriges Niveau zurückfahren. Die zweite Alternative würde deshalb sicherlich auch von den westlichen Bündnispartnern viel Lob und Unterstützung bekommen. Die türkischen Wirtschaftsvertreter haben sich bereits zugunsten einer AKP-CHP-Zusammenarbeit geäußert.

In beiden Fällen müsste die AKP neue Ermittlungen in den Korruptionsfällen, die seit zwei Jahren die Türkei erschüttern, hinnehmen. Solche neuen Ermittlungen würden mehrere hochrangige AKP-Politiker treffen – eine unangenehme Sache für die AKP. Andererseits kann sie bei der heutigen Parlamentsarithmetik diese Ermittlungen ohnehin nicht verhindern.

Ein Vorgehen, mit dem die AKP möglichst viel Einfluss auf eventuell neue Ermittlungen nehmen kann, damit sie der Partei möglichst wenig Schaden zufügen und vor allem die Galionsfigur der Partei, den Staatspräsidenten Erdoğan, schont, ist aus Sicht der AKP realistischer. Denn Erdoğan ist nach wie vor der charismatische Politiker, der die Partei mit dem Volk verbindet. Wahrscheinlich wäre die AKP mehr als bereit, einige ihrer weniger wichtigen und beim Volk ohnehin unbeliebten Vertreter, wie den ehemaligen Europaminister Egemen Bağış, als Preis der verlorenen Wahl solchen Ermittlungen zu opfern.

Die in diesen Tagen viel diskutierte Abschaffung oder zumindest Senkung der 10-Prozent-Hürde oder eine schnelle vorgezogene Neuwahl müssen nicht unbedingt folgen. Denn eine Senkung der Wahlhürde würde die Hoffnung der Herrschenden, die HDP wieder darunter drücken zu können, zunichtemachen. Außerdem würde die AKP von der fundamentalistisch-islamischen Wohlergehenspartei (SP) unnötige Konkurrenz bekommen, die bei der Wahl lediglich zwei Prozent der Stimmen erhalten hat, aber mit einem erheblichen Potenzial innerhalb der AKP-Basis rechnen kann.

Auch eine schnelle Neuwahl ist riskant. Die AKP kann nicht davon ausgehen, dass die Wählenden, die sie verlassen haben, tatsächlich wieder zurückkehren. Umgekehrt kann auch die MHP nicht davon ausgehen, dass die ehemaligen AKP-Wähler nicht zurückfallen. Unter Umständen könnten bei einer Neuwahl beide verlieren. Auch die CHP kann an einer Neuwahl nicht interessiert sein. Denn eine HDP, die die Wahlhürde so einfach genommen hat, kann weitere Teile der CHP-Basis zum Überlaufen überreden.

Andererseits, vor allem eine AKP-CHP-Koalition kann nicht lange funktionieren. Denn die Vorstellungen und Interessen beider Parteien gehen in grundsätzlichen Fragen, wie Bildungs-, Justiz-, Kultur- oder Außenpolitik dermaßen auseinander, dass sie nicht in der Lage sind, endgültige Kompromisse auszuarbeiten.

Deshalb wird diese mit vielen Unsicherheiten beladene Phase der türkischen Politik voraussichtlich zwei bis drei Jahre dauern. Danach werden sich neue Machtverhältnisse herauskristallisieren, je nachdem, welche Grundsteine in dieser Zeit gelegt werden.

 

Wichtiger Faktor: Wirtschaft

Die AKP hat die Wahl nicht nur wegen ihres Führungsstils verloren. Auch die wirtschaftlichen Entwicklungen spielten dabei eine große und in den Analysen oft übersehene Rolle.

Der wirtschaftliche „Erfolg“ der Türkei in den letzten 13 Jahren beruht auf dem Fluss des sogenannten „heißen Geldes“ in den türkischen Wirtschaftskreislauf. Ähnlich wie andere Schwellenländer hatte Ankara eine Politik der hohen Zinsen angewandt, gepaart mit billiger Exportwarenproduktion.

Die Regierung hat jedoch in diesen Jahren versäumt, das Geld aus dem Ausland in nachhaltige Investitionen umzuwandeln. Stattdessen wurden Baufirmen mit vielen Staats- und Auslandsaufträgen bereichert und das zunehmend intransparent. Wer zur Regierung hielt, bekam die Aufträge. Auch AKP-nahe Unternehmer in Anatolien wurden in der Exportwirtschaft finanziell und politisch gefördert.

Doch mit der Entscheidung der US-Zentralbank, ihre eigenen Zinsen in Stufen wieder hochzufahren und mit der Zeit das „geflüchtete“ Geld wieder zurück zu holen, geriet die türkische Wirtschaft in den vergangenen Monaten, wie in anderen Schwellenländer auch, immer mehr unter Druck. In der AKP brach ein Richtungskampf aus. Dieser Kampf führte zu einem Zickzackkurs, was die wirtschaftliche Gesamtleistung weiter unter Druck setzte. Die Opfer waren vor allem die arbeitenden Massen.

Damit verlor die AKP ein Mittel, mit dem sie jahrelang ärmere Bevölkerungsteile an sich binden konnte. Denn sie hatte die guten Wirtschaftsjahre dafür genutzt, soziale Maßnahmen einzuführen, die vor allem das Leben dieser Schichten erleichterten. Daher stammt auch das „sozialdemokratische Image“ der AKP.

Seit Kurzem rebellieren aber die Armen. Wenige Wochen vor der Wahl brach eine spontane Streikwelle in der Autoindustrie aus. Dem ersten Proteststreik beim türkischen Ableger der italienischen Firma Fiat folgten in schneller Folge weitere Arbeitsniederlegungen sowohl in anderen Autofabriken, als auch in Zuliefererstandorten.

Alle Oppositionsparteien ahnten die Unzufriedenheit unter den Wenigverdienenden und haben deshalb massive Erhöhungen im Mindestlohn in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Das zeigte Wirkung.

 

Eine neue und echte Linke – Die HDP

Obwohl der Wahlsieger HDP weiterhin die kleinste Partei bleibt, sollte sie in der Zukunft im Auge behalten werden. Die bisher in der Türkei als „Kurdenpartei“ und im Ausland als „pro-kurdische Partei“ beschriebene HDP wuchs mit dieser Wahl zu einer „gesamttürkischen“ Partei.

Hatte sie bisher immer Probleme im „Westen“ des Landes, also unter Türken, ihren Anspruch zu belegen, eine Partei für die gesamte Bevölkerung zu sein, überzeugte sie im Wahlkampf frühzeitig damit, dass sie nun nicht nur die Lösung der Kurdenfrage mit friedlichen Mitteln fordert, sondern auch die Sorgen der restlichen Bevölkerung ernst nimmt.

Dieses Kunststück gelang dem jungen charismatischen Chef der Partei, Selahattin Demirtaş, mit einem Satz. An Erdogan gerichtet sagte er: „Wir werden dir nicht erlauben, Präsident zu werden!“

Um diesen Satz mit Leben zu füllen, brauchte die HDP einige wenige Prozente. Demirtaş war im August 2014 bei der Wahl des Staatspräsidenten nur knapp unter 10 Prozent geblieben, aber mit seiner Art bei der türkischen Bevölkerung gut angekommen. Die HDP setzte sich also zum Ziel, diese knapp 10 Prozent der Wählerstimmen zu konsolidieren und wenige neue Wähler für sich zu gewinnen, um über die Wahlhürde zu kommen.

Dabei unterstrich sie immer wieder, dass sie unter keinen Umständen Erdoğan helfen würde, Präsident zu werden. Gleichzeitig sprachen die Kandidaten der HDP stets die wirtschaftlichen und existentiellen Sorgen der Schwächsten der Gesellschaft überzeugend an.

HDP punktete auch mit ihrer Kandidatenwahl. Nicht nur Türken und Kurden, sondern auch Alawiten, Tscherkessen und Vertreter der LGBTI schmückten die Kandidatenliste der HDP. Sie war die einzige Partei, deren Kandidatenliste zur Hälfte aus Frauen bestand.

Wahrscheinlich hätten am Ende die Stimmen der von der AKP abgewandten Kurden gereicht, die HDP über die Wahlhürde zu bringen. Durch die kluge Politik der „Öffnung zum Westen“ hat sie die Hürde aber ganz gemütlich übersprungen.

Umfragen zeigen, dass die meisten neuen HDP-Wähler auch bei einer Neuwahl ihre Meinung wahrscheinlich nicht ändern würden.

Diese neue Qualität ihrer Wählerschaft bringt der Partei eine neue Verantwortung. Sicherlich wird auch in der Zukunft die Lösung der Kurdenfrage für die HDP eine sehr wichtige Rolle spielen. Doch sie wird sich auch mit der Situation der anatolischen Arbeiter und Bauern beschäftigen müssen. Sie wird sich Gedanken machen müssen, um die Stimmen der Mittelklasse in den Großstädten weiter an sich zu binden, wie in der Türkei demokratische Freiheiten erweitert, eine ökologische Katastrophe verhindert und Frauenemanzipation vertieft werden kann.

Die gute Nachricht ist: Sie ist dazu in der Lage. Damit bekommt die Türkei, zum ersten Mal seit dem Militärputsch im Jahr 1980, eine echte linke Partei. Das wird dem Land gut