Interviews, Länderberichte und andere Texte
Wir Linken müssen wieder rebellischer werden
Rede von Gregor Gysi auf dem Fünften Kongress der Partei der Europäischen Linken in Berlin nach seiner Wahl zum Präsidenten
Liebe Genossinnen und Genossen, ehrlich gesagt, eine Einzelabstimmung hätte mich auch nicht gestört. Aber so geht es auch.
Ich bedanke mich für das Vertrauen, das ihr mir gegeben habt, das ihr Margareta Mileva, das ihr Maite Mola, das ihr Paolo Ferrero und Pierre Laurent gegeben habt. Herzlichen Dank!
Auf jeden Fall beginnt für mich schon wieder ein neuer Lebensabschnitt. Aber das macht nichts. Jetzt freue ich mich darauf, als Präsident der Partei der Europäischen Linken europaweit wirken zu können.
Als unsere Partei gegründet wurde, war ihr erster Vorsitzender Fausto Bertinotti, der eine Menge geleistet hat. Danach war es Lothar Bisky, der viel getan hat für diese europäische Partei und leider viel zu früh von uns gegangen ist. Und dann hat Pierre Laurent sechs Jahre hart gearbeitet, um Strukturen zu schaffen, die wir jetzt nutzen können.
Wir haben eine Europäische Union, die in einer tiefen Krise steckt, sie steht in einem desolaten Zustand. Die Rechtspopulisten gewinnen an Einfluss. Es gibt einen Rechtsruck in den USA und in Europa. Das ist eine Herausforderung, nicht nur – aber gerade auch für die LNKE. Wir haben in Österreich erlebt, dass der rechtspopulistische Kandidat nicht gewählt wurde, sondern der andere. Viele beruhigt das. Ich freue mich auch darüber, aber mich beruhigt das überhaupt nicht. Es war ein Unterschied von anderthalb Prozent. Wie schnell kann der schmelzen. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen. Wir müssen den Kampf gegen rechts ernst nehmen in ganz Europa. In Italien gab es ein Votum, das mich sehr beruhigt hat, weil die Verfassungsreform einen Demokratieabbau bedeutet hätte und das hat eine deutliche Mehrheit der italienischen Bevölkerung zurückgewiesen. Trotzdem, wir haben die tiefste Krise der EU seit ihrer Gründung vor fast 60 Jahren.
Erstens: Die Europäische Union ist unsozial. Die Kluft zwischen Armut und Reichtum wird überall größer. Wir dürfen es nicht vergessen und müssen es immer wieder sagen: Die 62 reichsten Menschen auf der Erde sind genauso vermögend wie die finanziell untere Hälfte der Weltbevölkerung, das heißt wie 3,6 Milliarden Menschen. Man muss sich das mal überlegen: 62 Menschen und 3,6 Milliarden Menschen besitzen das Gleiche. Das ist absolut abenteuerlich und unverschämt. Und interessant ist, dass 2010 die 388 reichsten Personen so viel besaßen wie die finanzielle untere Hälfte der Weltbevölkerung. Was ist in den fünf Jahren geschehen? Das Vermögen der 62 Reichsten ist um eine halbe Milliarde angestiegen. Und das Vermögen der 3,6 Milliarden Menschen, die zur unteren finanziellen Hälfte gehören, ist um eine Billion US-Dollar gesunken. Sie haben 41 Prozent ihres Vermögens verloren. Wir haben keine Zeit, wo sich das allmählich angleicht. Im Gegenteil. Wir haben eine Zeit, wo es immer weiter auseinandergeht. Und wegen dieser sozialen Frage ist die LINKE mal gegründet worden. Da müssen wir uns auch entsprechend zu Wort melden.
Für die Vermögenden wurden Steueroasen geschaffen. Konzernspitzen werden mit null und Niedrigsteuern nach Irland, Holland und Luxemburg gelockt. Es gibt einen ruinösen Wettbewerb auf Kosten der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Die Privatisierung der öffentlichen Einrichtungen, des öffentlichen Eigentums ist zutiefst unsozial. Und wir müssen uns auch dagegen stellen. Heute wird häufig von einer Staatsschuldenkrise gesprochen. Das ist falsch. Es war eine Finanz- und Bankenkrise durch Spekulation. Und nur weil die Staaten die Banken gerettet haben, wurde daraus eine zu hohe Staatsverschuldung. Das heißt, schuld sind die Banken und die Finanzjongleure nicht in erster Linie die Staaten. Und der Weg soll nun die Austerity Politik sein.
Griechenland: Unser Genosse Tsipras und die SYRIZA sind in einer extrem schwierigen Situation. Sie haben harte Sozialkürzungen durchgeführt, weil sie gezwungen wurden, weil sie unter Druck gesetzt wurden von der sogenannten Troika und von der Bundesregierung, insbesondere von Schäuble und Merkel. Aber eine Niederlage von Tsipras ist auch eine Niederlage der LINKEN in Europa. Und wir müssen Schäuble endlich stoppen. Es wird höchste Zeit, liebe Genossinnen und Genossen. Aber es wachsen auch die Widerstände. Wir haben in Portugal eine Linksregierung. Sie nimmt die Auflagendiktate wieder zurück. In Athen trafen sich die europäischen Staatschefs zusammen mit Frankreich, Italien war auch dabei. Und zwar weil sie doch darüber nachdenken, wie man eine Sperrminorität gerade gegen die deutsche Vorherrschaft in der Europäischen Union bilden kann. Es wird höchste Zeit, dass man auch denen zeigt, dass es Grenzen gibt. Die LINKE muss diesen Widerstand fördern. Wir brauchen Solidarität mit dem griechischen Volk und mit unserer Mitgliedspartei, der SYRIZA.
Nach 1945 hat Deutschland erlebt, dass es einen Marschallplan gab - nachdem die schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit durch Deutsche begangen worden sind - zum Aufbau Europas und zum Aufbau des Landes. Und was machen wir heute mit Südeuropa? Wir bauen es ab. Wir sparen es kaputt. Wir kürzen die Löhne, die Renten, die Sozialleistungen. Wo bleibt der Marschallplan für Südeuropa? Das sind wir Deutsche gerade dem Süden Europas schuldig in Anbetracht unserer Behandlung nach 1945.
1953, das war acht Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkrieges, gab es die Londoner Schuldenkonferenz und Deutschland wurden überwiegend die Schulden erlassen. Acht Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Nazidiktatur! Ich sage euch, wir brauchen jetzt auch in der Eurozone eine Schuldenkonferenz. Da geht es nicht nur um Griechenland. Es geht um alle Schulden in der Eurozone, wo wir eigentlich konkret entscheiden müssen, welche zurückgezahlt werden müssen und welche nicht. Es ist wieder an der Zeit, eine solche Konferenz durchzuführen.
Die Troika, die Bundesregierung – sie haben Griechenland auch zur Rentenkürzung gezwungen. Nun war etwas Geld übrig. Das griechische Parlament hat sich entschieden, eine Einmalzahlung an die ärmsten Rentnerinnen und Rentner vorzunehmen. Darüber regen sich Schäuble und Merkel so auf. Ich finde dass eine Unverschämtheit. Und ich muss auch sagen, es geht sie gar nichts an. Ich will darauf hinweisen: Noch hat Deutschland und kein anderes Land auch nur einen einzigen Euro an Griechenland bezahlt. Das ist alles nur gedrucktes Geld der Europäischen Zentralbank. Das hat mit den Ländern nichts zu tun. Und noch was kommt hinzu. Herr Schäuble hat gesagt, deshalb werden Schuldenerleichterungen für Griechenland gestrichen. Nur, die waren zu einem früheren Zeitpunkt schon vereinbart. Da hat er es auch nicht gemacht. Das hatte überhaupt nichts mit dieser Einmalzahlung zu tun. Aber er benutzt sie noch dazu. Und das ist eine besondere Unverschämtheit zu sagen, dass eine einmalige Zahlung an die ärmsten Rentnerinnen und Rentner dazu führt, dass man Griechenland dafür bestraft. Abenteuerlich, kann ich nur sagen. Und das Zweite ist, dass sich Frau Merkel und Herr Schäuble über folgenden Sachverhalt nicht aufgeregt haben: Die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haben der Kommerzbank in ihrer Spekulationskrise mit 18 Milliarden Euro geholfen. Und dann ist die Regierung darauf hingewiesen worden, dass es eine Steuerlücke gibt, so dass die Kommerzbank, nachdem sie große Gewinne macht, keine Steuern zu bezahlen braucht. Sie hat sie nicht geschlossen. Es gab keinen Antrag, das Steuerrecht diesbezüglich zu ändern. Und jetzt werden sie auch nicht an den Gewinnen der Kommerzbank beteiligt. Haben Sie, Frau Merkel und Herr Schäuble, jemals darüber aufgeregt, dass wir 18 Milliarden Euro an eine Bank gezahlt haben und nichts von ihr bekommen? Nein, darüber regen Sie sich nicht auf, aber wenn die ärmsten Rentnerinnen und Rentner in Griechenland was bekommen, darüber regen Sie sich auf. Und dagegen muss die LINKE stehen, und zwar konsequent.
Zweitens: Die EU ist unsolidarisch. Es war die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland, die die Solidarität mit Griechenland aufgekündigt hat. Und das hat die Solidarität in der Europäischen Union insgesamt zerstört. Und zwar aus einem einzigen Grund, weil alle Regierungen wussten, wie sie behandelt werden, wenn es ihnen schlecht geht. Und wenn du dem Land, dem es am schlechtesten geht, so unsolidarisch begegnest, dann zerstörst du die Solidarität in der gesamten Gemeinschaft.
Bei der Flüchtlingspolitik war es auch sehr interessant. Viele sind im Mittelmeer ertrunken. Die italienische Regierung bat um Solidarität. Und andere Regierungen, einschließlich der Bundesregierung, sagten Nein. Wir haben das Abkommen von Dublin. Das ist euer Problem, das geht uns gar nichts an. Nun musste Merkel doch Opfer ihrer eigenen Politik werden. Denn als dann im Herbst 2015 viele Flüchtlinge über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland kamen und plötzlich die EU Flüchtlingsquoten forderte, sagten alle anderen Regierungen Nein. Und ich habe selten in solche Gesichter von Staats- und Regierungschefs geguckt, mit welcher Wonne die uns den mittleren Finger gezeigt haben. Aber schuld ist die Bundesregierung selbst. Wenn du zum rechten Zeitpunkt keine Solidarität übst, dann bekommst du auch keine. Das ist das Ergebnis dieser Fehlpolitik. Natürlich wollen wir das ändern. Und ich weiß, dass die Zahlen der Flüchtlinge groß sind. Ich kenne alle Theorien zum Mauerbau; abgesehen davon, dass ich aus Berlin komme und wir eine spezielle Erfahrung mit Mauern haben, füge ich hinzu, es ist auch völlig unrealer Blödsinn. Selbst wenn man eine Mauer baute, dann hat man eine Pause, aber höchstens von anderthalb Jahren, und dann stürmen Millionen Menschen diese Mauern, dann wird die Situation unbeherrschbar. Wenn man die Zahl der Flüchtlinge reduzieren will, gibt es nur einen einzigen Weg: den Abbau der Fluchtursachen. Es gibt keinen anderen Weg. Und dem müssen wir uns stellen. Warum ist Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur? Warum liefern wir Waffen an Diktaturen wie Saudi-Arabien? Warum liefern wir Waffen in Spannungsgebiete? Das muss aufhören. Deutschland darf nicht länger an Kriegen verdienen. Warum verkaufen wir als Europäische Union die Lebensmittel so billig nach Afrika, dass die afrikanischen Lebensmittel immer teurer sind und dort keine eigene Landwirtschaft entstehen kann? Das ist unverschämt und muss sofort eingestellt werden. Die Landwirtschaftskonzerne genmanipulieren das Saatgut und zwar, damit es nicht vervielfältigt werden kann. Das ist ja geschäftlich logisch, weil sie ja jedes Jahr wieder verkaufen wollen. Dafür hat man dann eigentlich Politik, dass sie sagt, ja, das hat eine geschäftliche Logik, aber aus politischen Gründen muss ich das verbieten. Es wird nämlich höchste Zeit, es zu verbieten. Jährlich sterben auf der Erde 70 Millionen Menschen, davon 18 Millionen, obwohl wir weltweit eine Landwirtschaft haben, die die Menschheit zweimal ernähren könnte. Warum? Ich habe zwei Gründe genannt. 12,5 Millionen Menschen sterben an behebbaren Umweltschäden. Warum? Und nur die anderen sterben „normal“ an Alter und Krankheit. Wenn wir also nicht die Kriege überwinden, wenn nicht die Not und das Elend und den Hungertod, dann wird sich die Zahl der Flüchtlinge nicht reduzieren.
Wie bekämen wir nun endlich Frieden in Syrien? Es gibt nur eine Chance, dass zwischen den USA und Russland endlich ein Kompromiss gefunden wird und der dann auch durchgesetzt wird, übrigens auch gegen den Willen der Regierungen von Saudi-Arabien, der Türkei und des Iran. Und ich finde wieder einmal die Außenpolitik Deutschlands abenteuerlich. Deutschland unterstützt die Türkei mit Waffen und steht auch selbst mit Soldaten dort. Die Türkei aber bombardiert die Kurdinnen und Kurden in Syrien, weil sie ein autonomes Gebiet der Kurden verhindern will. Diese Kurdinnen und Kurden führen aber den entscheidenden Bodenkampf gegen den islamischen Staat. Also steht Deutschland da an der Seite der Türkei. Aber Deutschland liefert auch Waffen an die Kurdinnen und Kurden im Irak. Ich frage die Regierung: Was wollt ihr denn eigentlich? Das ist doch abenteuerlich. Man kann doch eine gewisse Konsequenz in der Politik fordern. Und die müsste heißen, dass wir Kriege nicht unterstützen und so schnell wie möglich Frieden in Syrien herstellen.
Drittens: Die EU ist undemokratisch. Die Austerity-Politik wird durchgedrückt als Diktat gegen demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen. Es gab einen Volksentscheid in Griechenland. Das hat weder die Troika noch die Bundesregierung interessiert. Die Europäische Zentralbank, die EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds sind durch nichts legitimiert, Entscheidungen demokratisch gewählter Parlamente aufzuheben, aber sie machen es. Und die Europäische Zentralbank ist unabhängig. Das kann man bei einer Bank nachvollziehen. Aber dann darf sie auch keine politischen Entscheidungen treffen. Aber sie trifft in Griechenland und im Süden Europas ständig politische Entscheidungen und wird nicht einmal politisch kontrolliert. Das ist völlig indiskutabel und undemokratisch. Viele fragen sich, wozu soll ich eigentlich nationale Parlamente wählen, wenn die immer weniger zu sagen haben. Und ich frage auch: Würden sich Merkel und Schäuble einem solchen Diktat unterwerfen, würde sich Frankreich einem solchen Diktat unterwerfen? Und was man für sich selbst nicht akzeptiert, darf man auch anderen nicht antun.
Es gibt gerade wieder zwei neue Beispiele. Die EU-Regierungschefs haben beschlossen, dass das frei gewählte Europäische Parlament an den Brexit-Verhandlungen nicht beteiligt wird. Sie haben es nicht begriffen. Und das Europäische Parlament hat beschlossen, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auszusetzen, weil Erdogan gerade dabei ist, aus einer Demokratie eine Diktatur zu machen. Natürlich darf er sich gegen einen Putschversuch wehren. Aber wenn er 48 Stunden später schon weiß, welche 3000 Staatsanwälte und Richter daran beteiligt waren, dann organisierte er offensichtlich einen Gegenputsch. Nun gibt’s ja den Beschluss des Europäischen Parlaments. Und was sagt Frau Merkel? Sie sagt, ja, wir werden kein neues Kapitel aufmachen, aber wir verhandeln weiter über die Kapitel, über die wir bisher verhandeln. Das heißt, sie akzeptiert das einfach nicht. Sie nimmt das nicht zur Kenntnis. Sie respektiert das nicht.
Wir haben eine Schuldenbremse in Deutschland. Der Fiskalpakt ist auch so aufgesetzt worden, die Länderregierungen werden gefesselt und die sogenannte Haushaltsdisziplin ist wichtiger als Investition. Sie ist wichtiger als sichere Renten. Sie ist wichtiger als eine gute Gesundheitsversorgung und sie ist wichtiger als eine gute, chancengleiche Bildung. Auch hiergegen müssen wir uns stellen. Im Übrigen bin ich – und ich glaube, wir alle sind es – Anhänger des Subsidiaritätsprinzips. Kommunal muss entschieden werden, was in der Kommune entschieden werden kann. In Regionen muss entschieden werden, was nur dort entschieden werden kann. Die Staaten sollen entscheiden, was sie entscheiden können. Und in Europa darf nur das entschieden werden, was wirklich in Europa entschieden werden muss. Dieses Subsidiaritätsprinzip wird ständig verletzt. Wir müssen dafür kämpfen, dass es wieder durchgesetzt wird.
Viertens: Die EU ist ökologisch nicht nachhaltig. Das EU-Klimaziel lautet zum Beispiel, dass wir ca. 40 Prozent weniger CO2-Abgase haben wollen bis 2030 im Vergleich zu 1990. Das basiert auf einer schon akzeptierten Erderwärmung von über drei Grad Celsius. Nun gibt es aber das Pariser Klimaschutzabkommen, und dort heißt es: Die maximale akzeptable Erderwärmung muss unter zwei Grad liegen, wenn möglich bei nur 1,5 Grad Celsius. Die EU müsste also ihr schwaches Klimaziel nachbessern. Und die dann notwendigen Klimaziele auf die Mitgliedstaaten aufteilen. Bleibt die Kommission bei ihren jetzigen Plänen, dann unterläuft sie das Abkommen. Die Umweltverbände fordern übrigens eine Minderung von 50 bis 60 Prozent von CO2-Abgasen in diesem Zeitraum. Aber es sieht nicht so aus, als ob sie sich durchsetzen können. Auch das schwache Ziel von 27 Prozent Ökostrom EU-weit bis 2030 ist mit dem Paris-Abkommen nicht kompatibel. Es führt zudem zu einer deutlichen Absenkung der Investitionen der EU in der kommenden Dekade.
Fünftens:Unddann ist die EU intransparent. CETA, TTIP, das Dienstleistungsabkommen TiSA – alles hinter verschlossenen Türen. Ich werde euch mal erzählen, wie das aussah, wenn du als leitender Beamter früher beim TTIP-Abkommen fünf Seiten lesen durftest. Dann wurdest du vorher durchsucht. Dann bist du allein in den Raum gegangen, hast die fünf Seiten gelesen, dann bist du wieder rausgekommen, bist wieder durchsucht worden. Und wenn du das jemanden erzählt hättest, was du gelesen hast und es hätte in der Zeitung gestanden, hätten sie gewusst, dass du es warst. Und zwar aus einem Grund. Sie haben in jedes Papier immer individuell einen Fehler eingebaut. Alle haben gelesen: dreihundertfach und der eine hat gelesen: zweihundertfach. Und wenn in der Zeitung zweihundertfach gestanden hätte, hätten sie gewusst, wer es war. Das alles klingt nach James Bond. Aber dass sollten Verhandlungen zwischen der EU und der USA zu einem Freihandelsabkommen sein, woran natürlich die Bevölkerung zu beteiligen ist. Sie haben es nicht begriffen. Wir müssen die Intransparenz überwinden.
Sechstens: Die EU ist bürokratisch. Dazu sage ich nichts weiter, das wisst ihr ohnehin.
Siebtens: Es droht, dass die EU immer militärischer wird. Dagegen leistete bisher Großbritannien wegen seiner eigenen Streitkräfte Widerstand. Aber Großbritannien scheidet ja aus. Es geht gar nicht nicht darum, eine kleine EU-Streitmacht statt der nationalen Streitkräfte zu schaffen, denn dann könnten die einzelnen Länder keine Kriege mehr führen weder gegeneinander noch woanders. Sondern es geht darum, EU-Streitkräfte zusätzlich zu installieren und nicht neben den nationalen Streitkräften. Und ich glaube, wir müssen dagegen kämpfen, dass sich die EU an Kriegen beteiligt, dass sie über eine Interventionsarmee verfügt – das darf nicht passieren. Und zur Sicherheit gehört auch, dass Russland Bestandteil Europas ist. Und wenn das stimmt, dann heißt das aber nicht, dass wir gegenüber der russischen Politik unkritisch sind – Stichworte Aleppo, Umgang mit Schwulen. Und auch gegenüber Putin dürfen wir nicht unkritisch sein. Aber wir müssen eines begreifen und verbreiten: Frieden und Sicherheit in Europa gibt es niemals ohne, geschweige denn gegen Russland. Und die Sanktionen waren eine Fehlpolitik. Das ist nicht der Weg. Wir müssen vermitteln.
Wenn das alles stimmt, was tun? Es gibt mehrere Alternativen.
Wenn man eine so schwere Kritik äußert wie ich, was rate ich der Europäischen Linken zu tun? Wir werden, da sind wir uns einig, immer für Frieden, für mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie, mehr ökologische Nachhaltigkeit, mehr Transparenz, für den Abbau von Bürokratie und gegen eine Militarisierung der EU streiten. Aber unterschiedliche Auffassungen gibt es, ob man die EU reformieren kann oder nicht, ob EU-Institutionen überhaupt Sinn machen. Ich weiß, dass ich all diese unterschiedlichen Sichten zu vertreten und zu respektieren habe. Und das werde ich auch tun.
Ich verstehe zum Beispiel die portugiesische Partei. Wie soll man noch an die Reformierbarkeit der EU glauben, wenn über 50 Prozent der Jugend arbeitslos ist und zwar durch Druck der EU. Ihr sollt aber auch meine Auffassung kennen. Weshalb ich die EU zwar scharf kritisiere, aber deutlich mit einem Neustart verändern, aber nicht untergehen lassen will. Ich weiß, dass viele unserer Mitgliedsparteien, viele Linke in Europa, aber eben nicht alle, diese Auffassung teilen. Der erste Grund, warum wir die EU nicht untergehen lassen dürfen, ist die Jugend. Die Jugend ist im Unterschied zu meiner Generation europäisch aufgewachsen. Die meisten sprechen ähnlich. Sie haben mal in dem Land gearbeitet, mal in jenem. Sie waren dort mal im Praktikum. Sie haben dort studiert. Stellt euch doch mal vor, wir kehren zu den alten Nationalstaaten mit Grenzbaum zurück, führen wieder die Pässe ein. Irgendwann gibt es Konflikte mit der Visumspflicht. Bevor du nach Paris fahren kannst, musst du drei Monate vorher in der französischen Botschaft das Visum beantragen. Wir kennen das ja alle. Also, die Jugend braucht eine europäische Integration.
Der zweite Grund: Die alten Nationalstaaten werden im Verhältnis zu China und den USA ökonomisch keine Rolle spielen. Nur als EU sind wir Faktor.
Der dritte Grund: Politisch spielen die alten Nationalstaaten ebenfalls nur als EU eine Rolle. Was glaubt ihr, welche Rolle Luxemburg im Nahost-Konflikt spielt? Das kann man vergessen, aber auch die Rolle Deutschlands und anderer Länder.
Der vierte Grund hat etwas mit Deutschland zu tun. Wir Deutschen sind leider keine guten Revolutionäre. Deshalb scheiterte schon unsere Revolution von 1848. Das Ergebnis war, dass wir keinen Nationalstaat bekamen, sondern den Bund deutscher Staaten behielten. Und erst 1871 hat Bismarck von oben den deutschen Nationalstaat gegründet. Nun kommt das Problem. Die Herrschenden waren der Meinung, dass sie an der Aufteilung der Welt ungenügend beteiligt sind. Die anderen Länder hatten viel mehr Kolonien. Deutschland nur ein kleines Stück von Afrika. Heute können wir froh sein, wir müssen uns nicht so oft entschuldigen wie die anderen. Aber die herrschenden Kreise litten darunter. Und weil sie darunter litten, gab es den deutschen Sonderweg vor dem Ersten Weltkrieg und im Ersten Weltkrieg und vor dem Zweiten Weltkrieg und im Zweiten Weltkrieg – mit der Absicht, eine Neuaufteilung der Welt zu erreichen. Und heute geht es nicht mehr so um Kolonien, sondern um Einfluss. Und wenn wir wieder der alte Nationalstaat werden, dann gibt es in Deutschland wieder Kräfte, die zu dem Sonderweg zurück wollen. Und ich will den ausschließen. Deshalb hat man nämlich nach 1945 entschieden, Deutschland in alle internationalen Gremien hinein zu nehmen, es zu integrieren, um den Sonderweg für die Zukunft auszuschließen.
Der fünfte und wichtigste Grund: Seit Bestehen der Europäischen Union gab es noch nie einen Krieg zwischen zwei Mitgliedsländern in der Europäischen Union. Aber vorher haben die Kriege zwischen diesen Staaten die gesamte europäische Geschichte gekennzeichnet. Und ich befürchte, wenn wir zu den Nationalstaaten zurückkehren, entstehen auch wieder alte Konflikte und an irgendeiner Stelle beginnen dann wieder Kriege. Das haben wir, das haben unsere Kinder und das haben unsere Enkel nicht verdient.
Die LINKE in der Europäischen Union ist noch relativ schwach. Das liegt auch am Scheitern des Staatssozialismus. Weil auch Parteien, die auf Distanz gingen zur Sowjetunion trotzdem mit in den Keller gezogen wurden. Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Aber wir haben es mit der Situation zu tun, dass die Europäische Union leider durch Deutschland dominiert wird. Ich weiß es. Es stand ja auch die Frage, Gabi Zimmer als Vorsitzende der linken Fraktion im EU-Parlament ist Deutsche, ich ein Deutscher. Ich will euch dazu was sagen: Ich möchte, dass man in Europa mitbekommt: Es gibt auch ein anderes Deutschland. Ja, es gibt das Deutschland von Frau Merkel und Herrn Schäuble, aber es gibt eben auch Gabi Zimmer und Gregor Gysi, die das völlig anders sehen und die anders streiten.
Ich will nur Weniges zu unseren künftigen Aufgaben sagen, weil ich das ja im Kollektiv beraten will. Aber wir müssen uns mit Fragen beschäftigen. Wie reagiert eigentlich die LINKE, wenn Le Pen in Frankreich regieren sollte und den EU-Austritt Frankreichs forciert? Wenn Frankreich aus der EU austritt, ist die EU tot. Und es gibt viele Unterschiede zwischen Rechten und Linken, aber ein Unterschied wird nicht gesehen: Die Rechten setzen alles um, was sie ankündigen. Wir Linken setzen immer nur die Hälfte von dem um, was wir ankündigen, und wenn dann noch mal 250.000 Leute gegen uns demonstrieren, dann streichen wir noch mal die Hälfte. Nicht die Rechten, die sind ganz anders. Sie nutzen die Macht vollständig aus.
Und wie gestalten wir künftig unser kritisches Verhältnis zur Sozialdemokratie? Auch darüber müssen wir nachdenken und sprechen. Ich meine, die LINKE darf unter gar keinen Umständen Schuld haben am Scheitern der EU sein, schon gar nicht an der Seite von Frau Le Pen und anderer Rechter.
Die bisherige Leitung, insbesondere Pierre Laurent und seine Stellvertreterinnen Maria Teresa Mola und Marisa Matias, sein Stellvertreter Alexis Tsipras und sein Schatzmeister Diether Dehm, sowie alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben gute Arbeit geleistet. Ihnen gehört unser Dank. Sie haben Strukturen aufgebaut, die wir jetzt nutzen müssen, und zwar um die Partei der Europäischen Linken noch bekannter, noch populärer und vor allen Dingen wirksamer werden zu lassen. Jedes Jahr werden wir ein immer breiter werdendes ständiges Forum zu zentralen europäischen Fragen organisieren. Ich bin sicher, wir werden stärker wahrgenommen werden. Ich werde auch mit führenden konservativen und anderen Kräften der politischen Ära in Europa sprechen. Und ich werde ihnen Folgendes sagen: Ihr seid dabei, die EU kaputt zu machen. Wenn ihr sie so unsozial, so undemokratisch, so intransparent usw. organisiert und vielleicht noch militärisch, dann dürft ihr euch nicht wundern, dass immer mehr Mehrheiten der Bevölkerung der Mitgliedsländer die Europäische Union ablehnen. Und dann seid ihr und nicht die Linken dafür verantwortlich, dass die EU scheitert. Das müssen wir ihnen so deutlich sagen.
Und ich wünsche mir noch etwas. Wir Linken müssen endlich wieder rebellischer und leidenschaftlicher werden. Wir müssen doch zeigen, dass wir etwas können und dass wir das auch anstreben. Und ich möchte, dass wir in Europa der stärkste und stabilste Faktor für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und gegen rechts werden.
Dankeschön!