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Zukunftsperspektive der EU – 60 Jahre "Römische Verträge"
Von Axel Troost, stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE und finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE
Auf dem Sondertreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Rom zum 60. Jubiläum der "Römischen Verträge" von 1957 soll eine Erklärung über die weitere Zukunft der Union nach dem Austritt Großbritanniens verabschiedet werden. Dass die weitere Entwicklungsrichtung des europäischen Verbundes strittig ist, ist evident. Angesichts des anstehenden Austritts Großbritanniens - der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas mit etwa einem Achtel der Bevölkerung der gegenwärtigen EU der 28 Mitgliedstaaten - wird sich sowohl das globale Gewicht als auch das interne Gleichgewicht in der Union verändern. Seit dem erfolgreichen britischen Referendum sind die politischen und wirtschaftlichen Konflikte und Erscheinungen der Desintegration in der EU nicht geringer geworden.
Der wiedergewählte EU-Rats-Präsident Donald Tusk sieht den Fortbestand der Union nicht nur durch Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit in den EU-Staaten gefährdet. In etlichen Mitgliedstaaten sind rechtspopulistische Bewegungen im Aufwind und wollen dem britischen Beispiel folgen. Die größte Sorge verursacht der Politikwechsel in den USA. Tusk konstatiert: "Vor allem der Wechsel in Washington bringt die EU in eine schwierige Lage. Die neue Regierung scheint die vergangenen 70 Jahre der amerikanischen Außenpolitik infrage zu stellen." In der Tat hat der 45. Präsident der USA Trump erklärt, dass die USA am Fortbestand der EU kein strategisches Interesse haben. Trump hat den Brexit nicht nur ausdrücklich begrüßt, sondern weitere Mitgliedstaaten zum EU-Austritt zu ermutigt. Die Bewahrung und der Stärkung der europäischen Einheit ist daher das Hauptziel der Beratungen zum Jubiläum der "Römischen Verträge". In Zeiten wachsender Zweifel in und an Europa seitens der Bevölkerungen und des anstehenden EU-Austritts Großbritanniens soll es darum gehen, möglichst wenig Zwietracht zwischen den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten entstehen zu lassen und den Blick auf die Entwicklung der kommenden zehn Jahre zu richten. Dass die Stärkung der "Einheit" viel Einsatz erfordert, verdeutlicht nicht zuletzt die Wiederwahl des EU-Präsidenten Tusk, die von der polnischen Delegation als "Einknicken Europa unter dem Druck des deutschen Diktats" interpretiert wurde. Die polnische Opposition bei der Wahl des EU-Präsidenten hat die EU an den Rand einer Krise geführt, obwohl sie vor dem Jubiläums- und Zukunfts-Gipfel Einigkeit demonstrieren wollte. Mit dem Ausscheiden Großbritannien wird künftig die deutsche Macht und Hegemonie in Europa noch deutlicher zutage treten.
Die Frage nach der Zukunft Europas bewegt nicht nur die politische Klasse sondern schlägt sich auch in den Bewertungen der Bevölkerungen nieder. Angesichts der schwierigen politischen Großwetterlage und Krisen in Europa ist bemerkenswert, dass die Zustimmung der BürgerInnen zur EU in Deutschland und europaweit leicht zunimmt. Für 37 Prozent der Deutschen hat die Europäische Union ein gutes Image, das bedeutet eine Verbesserung um acht Prozentpunkte im Vergleich zur letzten Befragung im Mai 2016. Der Anteil derer, die mit der EU ein negatives Bild verbinden, ist von 29 auf 21 Prozent gesunken. Der Rest hat ein neutrales Bild.
Das Ansehen der Europäischen Union ist auch europaweit leicht gestiegen. 35 Prozent (+1) der EuropäerInnen haben ein gutes Bild von der EU, 25 Prozent (-2) ein schlechtes und 38 Prozent ein neutrales Bild. Am besten kommt die EU in Deutschland bei den 15- bis 24-Jährigen an. Für 45 Prozent hat sie ein gutes Image. Auch europaweit ist die EU bei Menschen unter 25 am beliebtesten: 42 Prozent von ihnen haben ein positives Bild.
Sicher lassen die Umfragen über Europa ein positives Gesamturteil zu: Die BürgerInnen Europas stehen mehrheitlich zum europäischen Projekt. Der EU-Binnenmarkt und der Frieden zwischen den EU-Mitgliedstaaten sind die positivsten Errungenschaften der EU. In Deutschland finden die Hauptziele der europäischen Agenda eine breite Zustimmung. Für die Briten war eines der Motive für die Entscheidung zum Austritt die Freizügigkeit von ArbeitnehmerInnen im EU-Binnenmarkt. Laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage befürwortet eine klare Mehrheit der "EU-Bürger, dass man überall in der EU leben, arbeiten, studieren und Geschäfte machen kann.
Gleichwohl sind die Befragungswerte gewiss kein Grund zur Beruhigung: In den meisten westlichen Ländern ist das Vertrauen in die demokratischen Institutionen in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen. In den USA gaben 1975 in einer Gallup-Umfrage 40 Prozent der Bürger an, dem Parlament sehr oder ziemlich stark zu vertrauen. Im Juni 2016 waren es nur noch 9 Prozent. Das Vertrauen in den Präsidenten sank im gleichen Zeitraum von 52 auf 36 Prozent. Für die EU-Länder stellt das Eurobarometer im Allgemeinen ein sinkendes Vertrauen in die nationalen Regierungen und Parlamente fest. Gerade die Europa-PolitikerInnen sind aufgefordert, die kritischen Einstellungen ernst zu nehmen und sich für tiefgreifende Reformen in der EU einzusetzen.
Mit dem bevorstehenden Austritt der Briten ist die EU nicht mehr das, was sie war. Europa wird in der globalen Politik an Gewicht verloren. Die Staatengemeinschaft verliert nicht einfach ein Mitglied, sondern bekommt die Rechnung präsentiert für die Fehlentwicklungen und Krisen, aus denen keine oder nur ungenügende Konsequenzen gezogen wurden. Und der EU-Präsident Tusk prognostiziert vermutlich zurecht: "Die Briten, die werden es schaffen, ohne große Anstrengung die anderen 27 Mitgliedsstaaten auseinanderzudividieren".
Die Union hat in den vergangenen Jahren in raschem Tempo neue Mitglieder aufgenommen, sich aber zu wenig um die eigenen gesellschaftlichen Strukturen gekümmert. Auch in der Eurokrise haben sich die rigorose Austeritätspolitik und das Fehlen von vorausschauender Strukturpolitik als gravierende Defizite erwiesen. Die mühsam durch die EZB-Politik gekaufte Zeit wurde nicht genutzt, um Reformprozesse auf den Weg zu bringen. Auch die (Nicht-)Bewältigung der Fluchtbewegung und die beschlossene Verteilung der Flüchtlinge zeigt letztlich ein dramatisches Versagen der europäischen Politik.
Die EU ist ein Eliten-, aber kein emanzipatorisches Projekt der BürgerInnen. Die EU- Institutionen werden als Bürokratiemonster und als repressive Finanzkontrolleure wahrgenommen, wie die Berichte über das griechische Drama oder die italienische Bankenkrise zeigen. Die real existierenden positiven Aspekte wie die Unterstützung aus den europäischen Kohäsions- und Regionalfonds werden von den Medien und großen Teilen der Bevölkerung kaum wahrgenommen.
Welche Zukunft?
Die Kanzlerin der europäischen Hegemonialmacht Deutschland hat vor dem Jubiläums-gipfel ihre Zukunftssicht deutlich gemacht: Künftig sollen die in den EU-Verträgen enthaltenden Möglichkeiten zu einem "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" vermehrt genutzt werden. "Wir haben schon heute ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten", sagt die Bundeskanzlerin und verweist auf die Beispiele der Währungsunion, des Schengenraums und der von konservativen Regierungen angestrebten Entwicklung in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Entwicklung müsse für alle offen sein. Es sei in Europa wie im Familienkreis: Jedes Mitglied müsse Zugang haben, aber nicht jedes Mitglied müsse sich an allen gemeinsamen Vorhaben beteiligen.
Auch EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker versucht der Reformdebatte mit der Präsentation eines "Weißbuches zur Zukunft Europas" neue Dynamik einzuhauchen. Er skizziert fünf Zukunftsszenarien für das Jahr 2025, deren Elemente teilweise kombinierbar sind. Ihm geht es darum Europa einen Weg aus der schwersten Krise der vergangenen Jahrzehnte zu weisen. Das europäische Projekt sei in ernster Gefahr. Dass Juncker sich eben nicht für eine Entwicklungsoption ausspricht, keine konkreten Lösungen vorschlägt, belegt die Verstrickung in dem politischen Elitenprojekt. Die unübersehbaren Differenzen unter den EU-Regierungen lassen keine Verständigung auf eine Antikrisenpolitik zu.
Das Ziel Junckers ist es einen Diskussionsprozess anzustoßen, der vor den Europawahlen 2019 abgeschlossen sein soll. In den kommenden Monaten wird die Behörde fünf Diskussionspapiere veröffentlichen, in denen sie die möglichen Szenarien genauer diskutiert. Dabei geht es unter anderem um die Wirtschafts- und Währungsunion, die europäische Verteidigung, die EU-Finanzen, die Sozialpolitik sowie die Außenpolitik. Der Kommissionspräsident vermeidet eine Bewertung der Krisenursachen und vermeidet eine Festlegung auf eine Reformagenda. Das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Rom kann angesichts dieses Lavierens und der politischen Differenzen im Rat bestenfalls der Auftakt für eine Grundsatzdebatte sein.
Nicht einmal auf den kleinen Baustein zur Öffnung der neoliberalen Austeritätspolitik kommt der EU-Präsident zurück: die Förderung von Investitionen in Europa durch den "Juncker-Fonds". Der Mitte 2015 eingerichtete Europäische Fonds für Strategische Investitionen (EFSI) hat bislang eine Laufzeit von drei Jahren und soll öffentliche und private Investitionen von 315 Mrd. Euro generieren. Bis Ende 2016 sind laut Kommission im EFSI-Rahmen 151 Infrastrukturprojekte und 234 Finanzierungsarrangements für KMU genehmigt worden. Das Investitionsvolumen wird auf ca. 154 Mrd. Euro taxiert. Sicher ist der EFSI besser als die ungebrochene Fortführung der Austeritäts- und Sanierungspolitik, bezogen auf die Wachstumsschwäche und hohe Arbeitslosigkeit in Europa ist er aber absolut unzureichend. Daran ändert sich auch nichts, wenn die Laufzeit jetzt bis 2020 ausgeweitet und das Investitionsvolumen auf mindestens 500 Mrd. Euro erweitert werden soll.
Die Aussichten auf eine Überwindung der politischen Blockade in der EU sind nicht gut. Im Gegenteil: Europa bewegt sich in unterschiedliche Richtungen. Wie bei den letzten Gipfel sichtbar wurde, gibt es zwischen Polen und Ungarn auf der einen und Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite wenig Gemeinsamkeiten. Sicherlich muss versucht werden in den kommenden Jahren "den Grundkonsens" in Europa wieder herzustellen. Fakt ist: Die EU und ihre Mitgliedsländer sind aktuell weder willig ihre eigenen Strukturen zu reformieren noch darauf eingestellt auf der internationalen Bühne eine größere eigenständige, von der Linie der USA abweichende Rolle einzunehmen.
Auch der europäischen Linken fehlt bisher ein Gesamtkonzept einer solidarischen Europäischen Union und europäischen Demokratie inklusive Wirtschaftsdemokratie. Es liegt mit an uns in der deutschen Linken dieses Defizit in Richtung konkreter Reformvorschläge zu beheben.