SOS - Stadt in Not
Auf Helgoland lässt sich die Kluft zwischen oben und unten per Fahrstuhl überwinden. Ansonsten ist es ein wenig wie Deutschland: Es kriselt, man träumt vom Aufschwung – und die Linkspartei mischt mit.
522. Die Zahl verbreitet sich auf Helgoland schneller als jedes Gerücht. Die Leute von der Landungsbrücke stecken sie der Frau vom Fischbrötchenstand, die ruft sie der Verkäuferin im Souvenirgeschäft zu, und die sagt sie dem Mann mit der Schiebermütze, der am Tresen des „Knieper“ steht. „Hast du schon gehört? 522!“ – „522, ja, ja.“ 522, das ist an diesem Tag das Wichtigste auf Helgoland. 522 Menschen sind gerade mit dem Schiff auf die Insel gekommen, und von diesen Besuchern lebt der ganze Ort. Das Krankenhaus, das Museum, die Bücherei und das Schwimmbad. Und in fast jeder helgoländischen Familie ist mindestens einer im Tourismus beschäftigt.
Die 522 verteilen sich schnell auf der Insel. Die Älteren kommen bis zur Strandpromenade, sie bestellen Butterkuchen und einen Pott Kaffee, und dann gucken sie aufs Meer, wo sich die weißen Fährschiffe sammeln wie zu einer Seeschlacht. Die Jüngeren stapfen die roten Klippen entlang, bis sie den roten Felsen sehen, der wie ein Keil aus dem Meer ragt. Die Lange Anna, das Wahrzeichen Helgolands. Manche fahren noch mit dem Boot auf die kleine Nachbarinsel, die Düne. Aber alle kaufen sie irgendetwas ein, meistens Alkohol oder Zigaretten, denn Helgoland gehört nicht zum deutschen Steuergebiet, und Alkohol und Zigaretten sind hier so günstig wie am Flughafen.
Für die 522 ist es ein schöner Tag. Es gibt keinen Autoverkehr auf Helgoland, selbst Fahrräder sind verboten, nur der Arzt und die Polizei haben eins. Das Tosen der Brandung und das Geschrei der Vögel sind die einzigen Geräusche. Dazu das glitzernde Meer, der rot-weiß gestreifte Leuchtturm und die Kegelrobben, die sich am Strand in der Sonne wälzen – Helgoland, wie es der Autor James Krüss in seinen Versen beschworen hat: „Irgendwo ins grüne Meer/ hat ein Gott mit leichtem Pinsel,/ lächelnd, wie von ungefähr,/einen Fleck getupft: die Insel.“
Für die Helgoländer ist der Tag nicht ganz so schön. 522 ist nämlich keine gute Zahl. Früher seien an manchen Tagen 10 000 Besucher auf die Insel gekommen, sagt Bürgermeister Frank Botter. Botter, ein stämmiger Mann mit einer rosa Gesichtsfarbe, die schnell ins Dunkelrote gehen kann, kennt die Zahlen im Schlaf. Von Botters Büro sieht man auf die Landungsbrücke. Auf einer großen schwarzen Tafel stehen die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Schiffe, und rechts oben wird immer die aktuelle Zahl der Besucher vermerkt, 522, wie ein Börsenkurs.
Die Zahlen sind auch der Grund, warum auf Helgoland alles gerade ein bisschen turbulent ist, obwohl die Sturmzeit eigentlich im Winter ist. Unlängst kam nämlich der Hamburger Bauunternehmer Arne Weber mit einer Idee an, wie man Helgoland wieder beleben könnte. Weber will die Insel durch gewaltige Sandaufspülungen um das Doppelte vergrößern. Die Hauptinsel und die Düne sollen verbunden werden, was sie eigentlich auch schon einmal waren, bis zum Jahr Anfang des 18. Jahrhunderts jedenfalls, als eine Sturmflut Helgoland in zwei Teile riss.
Geht es nach Weber, sollen zehn Millionen Kubikmeter Sand auf dem Boden der Nordsee aufgeschüttet werden, eine Menge, die ausreichen würde, um 160 Fußballplätze zehn Meter hoch zu bedecken. Das Ganze soll neues Bauland werden, eine Art Dubai in der Nordsee. Technisch ist das angeblich kein Problem, die Kosten schätzt Weber auf unter 100 Euro pro Quadratmeter. Auf der Insel kursieren bereits Postkarten vom wiedervereinigten Helgoland. „Hundert Hektar Land in Sicht“ steht darauf. Ob sich das Projekt verwirklichen lässt, ist unklar. Noch ist nichts genehmigt, es geht um Naturschutz, und zwischen den Inseln verläuft eine Bundeswasserstraße. Es wird jedenfalls viel diskutiert im Ort. Einige Helgoländer sehen ihre Zukunft schon auf Sand gebaut. Sie träumen von einem Golfplatz und Luxus-Hotels. Von einem Flughafen, auf dem nicht nur winzige Propellermaschinen landen können, und, ja, von einem eigenen Kraftwerk. Bislang wird der Strom auf Helgoland mit zwei Dieselaggregaten erzeugt, was ziemlich teuer ist. Andere fürchten dagegen um die Identität der Insel und um die Gäste, die länger bleiben als nur einen Tag. Das alte Ehepaar etwa, das zur Insel gehört wie der Leuchtturm. Seit 50 Jahren macht es jeden Sommer fünf Wochen Urlaub auf Helgoland.
Alle sind sich einig, dass Helgoland „einen großen Schluck aus der Pulle“ braucht, wie Tourismus-Direktor Klaus Furtmeier es nennt. Auch er hat von seinem Büro aus die Tafel mit den Gästezahlen auf der Landungsbrücke fest im Blick. Zwar kommen jedes Jahr noch immer 340 000 Gäste, zahlen vier Euro für die kurze Überfahrt auf die Düne, drei Euro für ein Fischbrötchen und 55 Cent, um mit dem Fahrstuhl die 30 Meter vom unteren Teil der Insel ins Oberland zurückzulegen. Aber viele Helgoländer wollen es eben wieder so haben wie in den 80ern, als im Jahr 700 000 Tagesgäste zur Butterfahrt nach Helgoland kamen und jede Menge Zigaretten und Alkohol einkauften. „Fuselfelsen“ wurde Helgoland damals genannt.
Bürgermeister Botter angelt nach seinem Taschenrechner. Er tippt die Besucherzahlen von damals ein und rechnet sie zum Spaß auf die heutigen Zigarettenpreise um. Er kommt auf zehn Millionen Euro für die Gemeindekasse. Seufzend legt er den Rechner zur Seite. Ein kurzes Hoch habe es nach der Wende gegeben, als die Ostdeutschen nach Helgoland kamen, erzählt Botter. „Aber allein mit Zigaretten und Schnaps kann man keine Tagesgäste mehr locken.“ Botters Gesicht verdunkelt sich. Er selbst ist ein Kind der guten Zeiten, mit fünf Geschwistern ist er auf der Insel aufgewachsen, im Sommer lebten noch sieben Feriengäste mit unter einem Dach. Die Kinder mussten dann im Keller schlafen.
Irgendwann damals muss auf Helgoland auch die Zeit stehen geblieben sein. Die Häuser der kleinen Stadt sind so hell und gepflegt wie in den 50er Jahren, als sie gebaut wurden, mit ordentlichem Vorgarten oder Balkonen für die Feriengäste. Kriminalität gibt es nicht, der letzte Mord geschah 1719, als eine Marike Peters ihre Nebenbuhlerin mit einer dreizackigen Forke tötete. Die 1300 Bewohner kennen sich so gut, dass sie einander nicht einmal die Hand geben. Man sieht sich schließlich ständig.
Helgoland, das klingt ein bisschen wie Legoland, und so fühlt man sich auf der Insel auch. Wie an einem Modellort für das intakte Leben. Inseln sind ja immer ein Symbol für etwas. Helgoland steht für ein Deutschland, das es aus eigener Kraft zu Wohlstand geschafft hat. 1947 wollten die Engländer die Insel in die Luft sprengen, um die Festungsanlagen zu zerstören, die es noch im Süden der Insel gab. Helgoland blieb stehen und wurde wieder aufgebaut. In den Straßen reiht sich nun ein Laden an den anderen, die meisten haben ein Sortiment wie ein Duty Free Shop: Parfüm, Pralinen, Zigarren und Whiskey, die Begehrlichkeiten kleinbürgerlichen Wohlstands. Und dann das Essen in den Helgoländer Restaurants: Krabbencocktail mit Mayonnaise und Fisch in Sahnesoße. Als sei noch immer Wirtschaftswunder und man müsse sich Fett anessen.
An der Insel Helgoland lässt sich aber auch gut ablesen, was nach den fetten Jahren kommt: Katzenjammer, gigantomanische Projekte – und die Linkspartei. Die ist auf Helgoland die drittstärkste Kraft. 16 Prozent der Helgoländer haben sie bei der Kommunalwahl Ende Mai gewählt.
Gerwin Bastrup spaziert durch den Ort, als sei noch immer Wahlkampf. Bastrup, ein stämmiger Mann mit Dreitagebart, der für die Linke in der Gemeindevertretung sitzt, begrüßt erst einmal jeden persönlich. „Nina, meine Blüte!“, ruft er einer Frau zu. „Na, du alter Strohhalm“, sagt er zu einem Mann, Helgoländer Humor. Eigentlich arbeitet Bastrup am Fahrstuhl, dem einzigen öffentlichen Verkehrsmittel im Ort. Er steht in der Kabine, drückt auf einen Knopf und fährt hinauf oder hinunter, hunderte Male am Tag.
Bastrup hat ein gutes Gespür für oben und unten. Und unten sind seiner Ansicht nach schon immer mehr auf Helgoland. „Hier gibt es ein Drogenproblem, hier gibt es versteckte Armut, hier gibt es alles.“ Viele Helgoländer würden inzwischen Hartz IV beziehen, da sie der Tourismus nur im Sommer brauche, „da ist das Klassensystem eiskalt“, sagt Bastrup. Er ist dann mit einem roten Bauchladen über die Insel gegangen, hat zu Ostern rote Eier verteilt und den Leuten beim Ausfüllen der Hartz IV-Anträge geholfen. „Das hat uns viele Stimmen gebracht.“
Bastrup hat die typische Linkspartei-Biografie. Er war lange bei der SPD, eines Tages habe er dann genug gehabt vom „links blinken und rechts abbiegen“. Wobei er kein großer Fan von Oskar Lafontaine sei, von Lothar Bisky hält er dafür umso mehr. Ende vergangenen Jahres saß Bastrup mit seinem Freund Uwe Menke in den „Mocca Stuben“ zusammen, wo schon Hans Albers für Stimmung gesorgt haben soll. Uwe Menke ist ebenfalls aus der SPD ausgetreten, die beiden fanden, dass etwas geschehen müsse. Bei Rotem Genever gründeten sie den Ortsverein der Linkspartei.
Uwe Menke ist ein stiller Mann mit kurzen Haaren und Jeansjacke, der auch in Berlin-Schöneberg wohnen könnte. Er arbeitet auf der Wetterstation. Schönes Wetter langweilt ihn, am liebsten hat er es, wenn sich etwas zusammenbraut. Auch politisch stehen die Zeichen auf Sturm. Die Helgoländer hätten Angst vor der Zukunft, vor der Ellenbogengesellschaft, sagt Menke. Bastrup nickt und winkt in die Menge. Und die Helgoländer sagen, der rote Felsen sei jetzt noch röter geworden.
Auf dem roten Helgoländer Felsen leben und brüten die Trottellummen. Der Fels ist voll wie ein überfülltes Freibad, ein Vogel neben dem anderen, dazwischen drängen sich die Vogeljungen aneinander wie Kinder vor dem Zehnmeterbrett. Ein unglaubliches Gekreisch liegt in der Luft, und wenn es Abend wird, wagen die kleinen Trottellummen ihren ersten Flug in die Tiefe, ihr „Fürret-Fürret“ erfüllt den ganzen Felsen.
Ommo Hüppop richtet seinen Feldstecher auf den roten Felsen. Hüppop leitet die Vogelwarte auf Helgoland, und wenn die kleinen Trottellummen anfangen zu fliegen, dann steht der Ornithologe mit seinen Leuten unten am Wasser, greift die springenden Lummen und versieht sie mit einem Ring. Etwa 30 000 Vögel leben auf dem roten Felsen, sagt Hüppop, auch für den Ornithologen sind die Zahlen wichtig. Die Vögel hätten ihn schon als Kind fasziniert, ihre Ästhetik und weil man sie so gut beobachten kann.
Helgoland ist vor allem als Station für Zugvögel bedeutend. Die Zugvögel kommen auf ihren Reisen auf die Insel, machen einen Tag Halt und essen sich voll, ehe sie weiterziehen. Auch die Zugvögel sind auf ihre Art Tagesgäste. Hüppop sagt, dass sich das Verhalten der Zugvögel in den vergangenen Jahren verändert habe. Aufgrund der Klimaänderung würden viele Vögel von Helgoland wegbleiben. Die Nebelkrähen etwa, einige Gänsearten oder der Regenbrachvogel. Dafür würden immer wieder neue Arten kommen, die er vorher noch nie auf der Insel gesehen hat.
Vielleicht ist das mit den Besuchern ja wie mit den Vögeln – von irgendwoher wird immer jemand auf die Insel Helgoland kommen, Halt machen, weiterziehen. Als am nächsten Tag das Schiff an der Landungsbrücke anlegt, steht die Zahl jedenfalls bei 877.
von Verena Mayer - Der Tagesspiegel